Ekstase der Gewalt
Mel Gibsons' "Die Passion Christi" - ein neuer Höhepunkt christlicher Gewalt- und Opferphantasien
von Werner Schneider-Quindeau

Kreuzzüge und Hexenverfolgungen, Judenfeindschaft und Verfolgung derjenigen, die anders glauben und denken: Die christliche Geschichte ist bis heute auch eine Geschichte andauernder Gewalt, der Millionen im Namen des Gekreuzigten zum Opfer gefallen sind. Mel Gibson hat nun mit seinem Film "Die Passion Christi" das Opfer Christi so blutig und grausam wie möglich in Szene gesetzt. Es ist ein erbarmungsloser Film, der wie ein Faustschlag ins Gesicht oder in die Magengrube des Publikums wirkt. Kein Exzess der Gewalt scheint brutal genug, um die Leiden Jesu zu zeigen. Der Film schwelgt geradezu in blutrünstigen Details als läge in der Ausgestaltung der Folter und der Erniedrigung eine besondere Lust. Während die Evangelien mit großer Zurückhaltung die Einzelheiten der Passion beschreiben ("aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt werde", Mt. 27,26), löst der Film in ekstatischen Darstellungen der Gewalt gegen Jesus Faszination und Schrecken aus. Für Paulus sind die geschichtlichen Umstände der Gefangennahme und Hinrichtung Jesu nahezu bedeutungslos; die befreiende und heilsame Bedeutung des Todes Jesu im Lichte seiner Auferweckung durch Gott werden dagegen umso stärker betont. Wer hingegen das Evangelium, die frohe und Leben bejahende Botschaft von Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit auf die Passion Jesu reduziert, der steht in der Gefahr einem Leidens- und Opferkult zu huldigen. Dass das leere Grab am Ende des Films wie ein Fremdkörper wirkt, macht überdeutlich, dass es allein um die Zurichtung Jesu zum Opfer geht. Gehören Karfreitag und Ostern, das Kreuz Jesu und seine Auferweckung von den Toten nicht aufs engste zusammen, damit nicht einerseits eine todesversessene Opfermythologie oder andererseits eine Leid, Schmerz und Tod vergessende Lebensverherrlichung dabei herauskommt? Gibson hat diesen Zusammenhang von Kreuz und Auferweckung, von Jesu Verkündigung und Jesu Leben und Sterben einfach unterschlagen. Die Passionsspiele aller Zeiten wollten immer durch den Anspruch effektvoller Inszenierung die Emotionen der Menschen erreichen. Auch ein Blick in die Filmgeschichte zeigt, dass seit ihren Anfängen unzählige Male die Passion Christi dargestellt wurde, weil sie sowohl als Narrativ als auch als ikonographische Tradition tief in der westlichen Kultur verwurzelt ist.

Der Sozialwissenschaftler René Girard hat in seinem Werk "Das Heilige und die Gewalt" die Bedeutung der Opfervorstellung für die Gesellschaft untersucht. Im Opfer, das widerstandslos wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt wird, vergewissert sich die Gesellschaft ihres eigenen inneren Zusammenhalts. Angesichts von Schuld und Verfehlung, von Mord und Gewalt, sühnt das Opfer diese Taten, durch welche die Gemeinschaft in ihren Grundlagen zerstört wird. Was in der Regel strengsten Sanktionen unterliegt (die Tötung eines Unschuldigen), wird beim Opfer zum legitimen Akt für einen höheren Zweck. Durch das Opfer wird Gemeinschaft gestiftet. Ebenso scheint dem Film eine gemeinschaftsstiftende Funktion zuzukommen, die über Faszination und Schrecken auf eine spezifische Parteinahme des Publikums für das unschuldige Opfer zielt, die zu Rachegefühlen führen. Nun hat die Wirkungsforschung im Hinblick auf Darstellungen brutaler Gewalt in Film und Fernsehen das Paradox aufgewiesen, dass eine Identifizierung mit dem Opfer zu bedeutsamer Erhöhung des Aggressionspotentials führt. Schon bei den Aufrufen zu den Kreuzzügen oder in der nationalsozialistischen Propaganda funktionierte die Darstellung des wehrlosen und ohnmächtigen Opfers als Anreiz zur Steigerung der Gewaltbereitschaft gegenüber den Feinden. Im Film sind es vor allem die Repräsentanten der Juden und die römischen Schergen, auf die sich die gesteigerte Wut des Publikums richten könnte. Insofern ist der Antijudaismus des Films keine theologische Spitzfindigkeit, sondern durch seine affektive Wirkung besonders perfide, da er durch die schreckliche Gewaltdarstellung geradezu unbewusst erzeugt wird. Dass Jesus wie seine Jüngerinnen und Jünger Juden sind, ist angesichts seiner Rolle als heiliges Opfer für den Film nebensächlich. Und wenn Maria und Maria Magdalena die aus der Erzählung des Passahfestes im Kontext der Gethsemaneszene zitieren ("Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?"), dann wird die Heilsgeschichte Israels (Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenhaus) präzise durch die heilstiftende Opfergeschichte Jesu ersetzt. An die Stelle der jüdischen Heilserfahrung ist der sich opfernde Christus getreten: das ist traditioneller christlicher Antijudaismus pur.

Das Ekstatische und Rauschhafte der Gewalt zieht das Publikum in seinen Bann und bemächtigt sich seines Blicks und seines Affekts. Zweifellos hat die Passion Christi in der Geschichte des Christentums immer wieder eingeladen, sich dieses gewaltigen Opfer am eigenen Leib zu vergegenwärtigen. Flagellanten und strenge Asketen, die durch körperliche Züchtigung den Kreuzweg Jesu imitierten, sind dabei sicher die auffälligsten Erscheinungen. Aber durch den Film erfährt die gezeigte Gewalt eine die Realität übersteigende Anschauung. Insofern ist der Realismus, der dem Publikum durch den Gebrauch der antiken Sprachen Latein und Aramäisch nahegelegt wird, ein falsches Versprechen. Die reale Gewalt wird durch filmische Mittel überhöht, sie gewinnt gleichsam einen kultisch-transzendenten Charakter. Die Leinwand wird zur mythischen Projektionsfläche, auf der das Blut und die Wunden, die Spucke und die zerfetzte Haut, das rohe Fleisch und die überdimensionierten Nägel zu einem einzigen Bild des geschlachteten Opfers verschmelzen. Die ekstatische Steigerung der Gewalt verankert dieses Bild selbst mit aller Gewalt in den Phantasien und Köpfen der Zuschauenden. Durch seinen missionarischen Anspruch noch verstärkt stellt diese filmische Inszenierung eine Überwältigungsstrategie dar, die keine Gnade und kein Erbarmen mit dem Publikum kennt. Insofern ist er nach meinem Verständnis ein zutiefst antichristlicher Film.

Religiöse Vorstellungen, die mit heiligen Opfern verbunden sind, haben eine scheinbar unaufhaltsame Neigung zur Anbetung und Verherrlichung von Gewalt. Dies gilt auch für die Geschichte vom Leiden und Sterben Christi. Für Kirche und Theologie stellt sich daher die Frage, wie dieses Opfer zu verstehen ist, ob es zur Minimierung und Überwindung von Gewalt beiträgt oder durch entsprechende Visualisierung und Dramatisierung zu deren Steigerung führt. Wie viele Passionslieder betonen das Leiden Jesu, indem sie die erlittene Gewalt anschaulich vor Augen führen? "O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßet seist du mir", dichtete Paul Gerhardt. Im Unterschied zum Film wird hier der Ton der Klage und der Trauer vernehmbar über ein Opfer, das schuldlos Gewalt und Spott, Folter und Tod erleidet. In ähnlicher Form lässt sich dies von den Passionen J. S. Bachs sagen, auch wenn sie ebenfalls judenfeindliche Motive wiederholen. Dieser Ton ist bei Gibson nur am Rande vernehmbar, allein die Frauen scheinen dafür in klassischer Rollenzuschreibung zuständig zu sein. Der heroische Schmerzensmann steht dagegen bei ihm ganz im Zentrum. Zwar gibt es im Garten Gethsemane einen Moment des Ringens, der jedoch bereits durch die düstere Atmosphäre in den weltgeschichtlichen Kampf zwischen gut und böse eingebettet ist. Jesus ist bereits hier ein körperlich Gezeichneter, der diesen Kampf mit dem Teufel aufnehmen muss. Im Unterschied zu den biblischen Texten erscheint der Teufel in androgyner Gestalt als Phantasmagorie des Bösen während des gesamten Leidensweges Jesu immer wieder, um die universale Bedeutung seines Opfergangs zu versinnbildlichen. In den Juden und den Römern findet Satan seine Handlanger, die im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus den Tod Jesu wollen. Während die Evangelien die Auseinandersetzung mit dem großen Verführer lediglich an den Anfang des Wirkens Jesu legen und ihm dann nur noch einen geringen Raum einräumen, erhält er bei Gibson die Rolle des großen Gegenspielers. Die biblische Passionsgeschichte verweigert sich der Phantasie von einem solchen dualistischen Machtkampf. Der Tod Jesu ist keineswegs der heimliche Sieg des Satans, sondern im Lichte der Auferstehungsbotschaft und der Verkündigung Jesu das letzte Opfer, mit dem jegliche Opfergeschichte an ihr Ende kommen soll. Nichts Heroisches und nichts Erhabenes hat dieses Opfer und es bedarf keiner zweistündigen ekstatischen Gewaltphantasien, um das Elend und die Erbärmlichkeit der Kreuzigung zu beschreiben. Jesu Worte in der biblischen Passionsgeschichte verweisen alle über das Kreuz hinaus: auf Gott, auf die Wahrheit, auf den Menschensohn, auf den Messias. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu wird nicht dadurch erkannt, dass sein Leiden in einer Gewaltorgie und im Blutrausch überdimensional ausgestaltet wird. Sein Tod steht im Gegenteil für die Überwindung der Gewalt, die durch Hass, Missachtung, Zynismus und Allmachtswahn entsteht. Wer die Nächsten-, ja sogar die Feindesliebe predigt, für den hat die Gewalt ihre Faszination verloren. Bei Gibson sind es besonders die filmischen Mittel, die seine obsessive Lust an der Gewalt demonstrieren: die Nahaufnahmen des zerschlagenen Körpers, die Zeitlupe, um die Qual des Schlags oder den verräterischen Kuss des Judas zu verstärken und die dramatische Musik, die den körperlichen Schmerzen bis in die Ohren klingen lässt. Dass mit Jesu Tod Vergebung, ja sogar Versöhnung und Friede zwischen Gott und Mensch Wirklichkeit wird, weil er unsere Feindschaft gegen Gott überwindet, damit wir unsere gewalttätige Feindschaft untereinander hinter uns lassen können, das wird in diesem Film nicht erkennbar.

Bei aller notwendigen Kritik bietet der Film jedoch Anlass über das Verhältnis der christlichen Tradition zur Gewalt und zum Opfer selbstkritisch sich zu besinnen. Denn der eigene Anteil an der Gewaltgeschichte ist nicht gering. Dafür ist der Gibsonfilm ein erschreckendes Beispiel.

Pfarrer Werner Schneider-Quindeau, Vorsitzender der Jury der Evangelischen Filmarbeit, Filmbeauftragter der EKD von 1999-2003

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