Ein süßes, helles, gebrochenes Wehgeschrei
Mel Gibson und die Nonne zu Dülmen - ein kritisches Vorwort zur deutschen Premiere des Kinofilms "Die Passion Christi"
von Jobst Paul

Wenn in den Kinos Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" anläuft, wissen die wenigsten Zuschauer, auf welche Quellen sich der Regisseur bezieht. Jobst Paul legt sie offen: Unter anderen ist es ein übles antisemitisches Pamphlet des katholischen Romantikers Clemens Brentano. Unter dem Titel "Die bitteren Leiden unseres Herrn Jesu Christi" veröffentlichte er 1833 - anonym - die angeblichen Visionen der Anna Katharina Emmerick.

Die rechtskonservativen Bemühungen um eine ultimative Evangelisierung des Westens sind mit Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" (The Passion of The Christ) in ein neues, spektakuläres Stadium getreten. Über zwölf Jahre soll Gibson sein Projekt vorbereitet haben, in dem der Film selbst lediglich als ikonographisches Logo, als Starter, für ein monströses Erweckungs- und Verwertungsmarketing dient. Es soll zunächst für eine evangelikale Initialzündung in der US-Bevölkerung selbst sorgen und sich dann als Drehbuch der weltweiten Evangelisierung entfalten. Typisch für die vom Projekt-Management lancierten "Meinungen" dürfte eine Äußerung wie die folgende sein, die pünktlich zum Filmstart am 25. Februar 2004 in einem Bericht von Uwe Siemon-Netto u. a. von der deutschen evangelischen Nachrichtenagentur Idea und dem deutschen katholischen Nachrichtendienst verbreitet wurde.

Darin meint ein Rabbiner Daniel Lapin, Gibsons Film werde "als der seriöseste Bibelfilm, der je gedreht wurde, in die Geschichte eingehen", er werde "Millionen Christen zu einem noch leidenschaftlicheren Glauben inspirieren" und eines Tages "als Vorbote der dritten großen Erweckung in Amerika gelten". Es wäre sicher ein Missverständnis, würde man diese verquere Aussage eines Rabbiners als PR-Versuch deuten, den Film gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen. Vielmehr geht der PR-Versuch dahin, das zentrale evangelikale Projekt, nämlich die "Bekehrung der Juden", zur Geltung zu bringen.

Entsprechend unterstrich der Darsteller des Christus, James Caviezel, in einem Interview mit dem Christian Broadcasting Network (CBN) das millennialistische Ziel des Films, nicht nur Christen und Ungläubige, sondern eben auch die Juden unterm Kreuz zu versammeln: "Ich will, dass meine jüdischen Brüder diesen Film sehen. Ich möchte, dass Leute meines eigenen Glaubens diesen Film sehen, die glauben, dass er antisemitisch ist. Ich will, dass nichtreligiöse Leute diesen Film sehen. Dieser Film deutet überhaupt nicht mit dem Finger auf jemanden. Wir sind am Tod Christi alle schuldig."

Auch im Hinblick auf das konkrete soziale wie ethische Wozu des neues Projekts wird man von den rechtskatholischen Traditionalisten hinter Gibson die alte Antwort bekommen, dass die Erfüllung der Heilsgeschichte nur durch eine "alttestamentarische" Sozialkontrolle und dies im Rahmen eines mittelalterlichen Ordo - des "verlorenen Paradieses" - möglich ist. Als Symbol für die heutige Verkommenheit der Welt haben die traditionalistischen Sprachrohre hinter Gibson die liturgischen, nicht zuletzt sprachlichen Neuerungen des II. Vatikanischen Konzils ausgemacht. In der Tat läuft der Film in Latein, Aramäisch und Hebräisch - und mit Untertiteln.

"Wenn dieses Werk keine nachhaltigen Folgen für unsere heruntergekommene westliche Gesellschaft hat, dann wehe unser!" schreibt auch Uwe Siemon-Netto, "religion correspondent" für United Press International. Und fügt hinzu: "Gibsons Film ist ein guter Anlass, uns einmal wieder auf die Schriftdeutung des Mittelalters zurückzubesinnen." Konkret nennt Siemon-Netto die vor-reformatorische, katholische Theologie von 500 bis 1500 n. Chr., die es zuließ, den Bibeltexten vier Bedeutungen zu unterlegen, eine wörtliche, eine moralische, eine allegorische und eine anagogische (zwischen denen man bequem wechseln konnte). Der Ruf "Sein Blut komme über uns" sei dann nicht nur "das Geschrei eines verhetzten Pöbels", sondern auch ein Gebet, das der "vom Heiligen Geist inspirierte Matthäus" in den Text aufgenommen habe. "Will heißen: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder, um uns reinzuwaschen. Wovon? Von der Erbsünde, gegen die es kein anderes Mittel gibt" - eine wacklige Ausrede.

Ergriffenheit im Selbstversuch
Immerhin wäre durch den Sprung zurück ins Mittelalter nicht nur die christliche Kirchenspaltung aufgehoben und die globale Definitions- und Ordnungsmacht der katholischen Kirche wieder hergestellt, sondern auch jener einzige Ausweg für das sündige Individuum beschrieben, auf den der Film zugeschnitten wurde - auf Angst und Schock von oben, auf Buße und Reinigung von unten, auf das, möglicherweise auch blutige, Purgatorium. Uwe Siemon-Netto hat das Suchtmittel des Films, das der Lähmung und "Ergriffenheit", im Selbstversuch beschrieben: "Zwei Stunden nach der Kreuzigungsszene liegen meine Finger unkontrollierbar zitternd auf der Tastatur meines Computers. Meine Frau darf mich nicht ansprechen. Mein Puls ist augenscheinlich nach wie vor so hoch wie während der gesamten Vorpremiere von Mel Gibsons Film Die Passion Christi."

Natürlich hat auch Mel Gibson selbst zu Protokoll gegeben, der Film habe ihn "gereinigt" und "geheilt". Gibsons Jesus-Hauptdarsteller James Caviezel bezog nicht nur seine Initialen - J. C. - und sein Alter - er war 33, als er die Rolle annahm - auf die "Nachfolge Christi", sondern empfand das Martyrium leibhaftig "am Kreuz". Er habe sich oft wie Satan gefühlt, aus dem "schlimme Obszönitäten" hinaus wollten. Die Unterkühlung sei "wie Messer" durch ihn hindurchgefahren: "Mein Mund bebte unkontrolliert. Meine Arme und Beine wurden taub. Ich erstickte an diesem Kreuz."

Die Kälte ist glaubwürdig: Um ein melancholisch getöntes Tageslicht einzufangen, wurde vom Herbst 2002 bis Februar 2003 im süditalienischen I Sassi di Matera gedreht, einer verlassenen Cavernen-Stadt, und in den CinecittB-Filmstudios in Rom. Doch James Caviezel hing nicht ständig am Kreuz. Da man ihn nicht "stundenlang am Kreuz" hängen lassen konnte, "bauten sie einen animatronischen Roboter, der genau wie Caviezel aussah. Der Roboter wurde per Fernsteuerung von Mel Gibson bewegt". Darüber hinaus erfahren wir, dass die Hände, die in der Kreuzigungsszene die Nägel in die Hände Jesu schlagen und den Hammer halten, Mel Gibson gehören.

Es stimmt: In einer gemeinsamen Erklärung haben genau acht US-Vertreter der katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche, der Evangelikalen und des Judentums die "bizarre" Deutung kritisiert, die Gibson den Evangelien unterlegt habe. Und richtig ist auch: Die katholischen US-Bischöfe warteten zum Filmstart mit einer 128-seitigen Dokumentensammlung auf, die die kirchliche Position zum Judentum klarstellen sollte.

Die Frage nach antisemitischen Antrieben hinter Mel Gibsons Film erscheint gleichwohl etwas naiv angesichts der Tatsache, dass die heutigen christlichen Kirchen ihre überkommenen, massenpsychotischen Instrumente nie geächtet haben - und, was Juden und Judentum betrifft, mit den Widersprüchen der Christologie nicht grundsätzlich weiter sind als die zwei Jahrtausende zuvor. Sie werden sich gewiss auch heute nicht der Frage stellen, wie es komme, dass Christen die Hinrichtung mit unsäglicher Trauer quittieren, kurz danach aber auf dem blutüberströmten Leichnam ihre eigene Erlösung feiern.

Man wird auch schwerlich behaupten können, dass die Einsichten aus über 170 Jahren wissenschaftlicher Bibelkritik in die Mitte des christlichen Glaubens vorgedrungen wären, darunter die historische Unhaltbarkeit und Widersprüchlichkeit der Evangelien, ihre gegen "die Juden" gerichteten Polemiken, oder die sprachlichen Klippen ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte. Von daher kann man lang und vergeblich gegen Gibsons theologisch-unschuldige Behauptung anrennen, der Film sei die getreue Wiedergabe der Evangelien.

Vom Sender CNN, vom Drehort in Matera und von US-amerikanischen Taschenbuchverlagen erfahren wir allerdings zu unserer Überraschung, dass Gibson sich keineswegs nur, und nicht einmal in erster Linie von den Evangelien hat inspirieren lassen. CNN meldete schon am 3. Dezember 2003, das Drehbuch Gibsons habe u. a. etwas mit einer Mystikerin des "18. Jahrhunderts" zu tun. Und tatsächlich warfen drei US-Verlage parallel und rechtzeitig zum Filmstart 2004 den Titel "The Dolorous Passion of Our Lord Jesus Christ" mit entsprechenden Hinweisen auf den Markt. (. . .) Als Autorin wird eine Anne Catherine Emmerich genannt, als Erst-Erscheinungsdatum ihres Werks das Jahr 1833.

Verquastes Werk der Propaganda
Anne Catherine Emmerich (1774-1824) hieß in Wirklichkeit Anna Katharina Emmerick. Sie starb 1824 in Dülmen/Westfalen nach Jahren extatischer Visionen und "Blutmale" an der Magersucht. Sie sprach Dialekt, hat keine Aufzeichnungen hinterlassen und auch kein Buch veröffentlicht. Im Juli 2003 unterzeichnete Papst Johannes Paul II. ein Dekret zu Emmericks Seligsprechung, die seit Jahrzehnten vom Bistum Münster betrieben und voraussichtlich im Jahr 2004 vollzogen wird. Der tatsächliche Verfasser der Visionen der Anna Katharina Emmerick ist allerdings der deutsche katholische Romantiker Clemens Brentano.

Brentano kam - nach seiner "Konversion" - im September 1818 an Emmericks Krankenbett in Dülmen und protokollierte die extatischen Ausbrüche und Mitteilungen der Frau bis zu deren Tod. Im Jahr 1833 erschien - anonym - Brentanos einzige selbst edierte Emmerick-Nachdichtung unter dem Titel "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi". Den zweiten Band "Leben der heiligen Jungfrau Maria" gab erst Brentanos Bruder Christian 1852 heraus.

Die umfangreichen weiteren Manuskripte Brentanos wurden von dem Redemptoristen (Kongregation des Heiligsten Erlösers) Carl Erhard Schmöger vermarktet. 1867 publizierte dieser "Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich" und schrittweise bis 1881 ein über tausend Seiten starkes Emmerick-Kompendium, das bis heute zum Steinbruch für Separat-Editionen der Emmerickschen Visionen wurde. Eine internationale Laufbahn hat - bis hin zu Mel Gibson - nur Brentanos "Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi" gemacht. Französische und englische Ausgaben des Textes erschienen bereits um 1860 und hatten hohe Auflagen.

Brentano selbst hat - im Vorwort zu seiner Ausgabe von 1833 - den Visionen Emmericks keinen Wahrheitswert beigemessen und seine Schöpfung vermutlich mit Übernahmen aus bluttriefenden Barockwerken wie denen des Martin von Cochem angereichert. Dennoch hatte Brentano die Zusicherung von Geistlichen, er erfülle "diese Tätigkeit im Auftrag der Kirche". Auch wenn die Visionen "ganz oder teilweise eine Erfindung Brentanos" seien, so ein moderner Herausgeber, könne man "nur über die Größe und Weisheit Gottes staunen": Solange Brentano "von Gott zu diesem Amt berufen war, hat Gott sicher alles nach seiner Vorsehung gelenkt".

Es wäre Gibsons Privatsache, seine Wahrheit der Evangelien aus einem verquasten Werk der katholischen Propaganda zu beziehen und damit seine künstlerischen wie konfessionellen Ansprüche der Lächerlichkeit preiszugeben. Ein übler Anschlag auf den Frieden ist es dagegen, den eingebauten Judenhass deutscher Romantiker, der half, den Weg zum Holocaust zu pflastern, heute noch einmal in die Welt zu tragen.

Für Brentano waren die Juden "verspätete Kinder des Todes", "verrückte Musterreuter und toll gewordene Voyageurs eines schon vor Chisti Geburt schändlich fallierten Handlungshauses", "über welche die Flüche der Schrift längst wahr geworden, welche nur noch als Wahrzeichen ihres Untergangs, als unauslöschliche Blutflecken einer bösen Schuld, als Gespenster ihres nicht seligen historischen Todes, als eine alte Essigmutter der Sünde auf Erden verweilen".

In "Das bittere Leiden" malt Brentano den "Blutfluch" der "blutgierigen Juden" - über sie selbst - und die "ganze Bosheit der Juden" in grellen Farben. Hauptakteure sind jüdische Religionsführer, "die erbittertsten Pharisäer", die das "wankelmüthige bestürzte Volk gegen Jesum" bearbeiten, die "das hohnlachende Volk" vorschieben, die mit "Hetzen und Geldaustheilen" arbeiten, die noch abseits stehende "Schaaren" bestechen und ständig neue "Haufen von Juden" heranführen, während sie mit "Toben und Schreien" rasen - "eine unzählige Menge von Teufelsgestalten, jede ganz nach dem Laster, die sie bedeutet, geformt, in schrecklicher Thätigkeit unter der Menge", die "laufen, hetzen, verwirren, in die Ohren flüstern, in den Mund fahren". Kurz: Jesus wird "von den Hohepriestern zum Tode verurtheilt", "vom Volke einstimmig zur Kreuzigung begehrt" und "den Hohepriestern und dem Synedrium zur Kreuzigung übergeben".

Über Dutzende von Druckseiten lässt Brentano nun "bewaffnete Pharisäer" ein Folter-Dilirium aufführen, in dessen Verlauf Jesus nicht nur dutzend Male völlig ausblutet, sondern schließlich in ein "süßes, helles, gebrochenes Wehgeschrei" ausbricht. (. . .) Doch dann, am Kreuz, spritzt erst recht und immer noch das Blut "auf die Arme der Schergen. Die Bänder der Hand wurden zerrissen und mit dem dreischneidigen Nagel in das engere Nagelloch hineingetrieben". "Jesus wehklagte ganz rührend, sie rissen ihm die Arme ganz aus den Gewerben, seine Achseln waren ausgedehnt und hohl, und an den Ellenbogen sah man die Knochenabsätze", "das Blut spritzte empor, der süße, helle Weheruf Jesu tönte durch die Schläge des schweren Hammers", "man sah zwischen den Kreuzarmen und seinen Achselhöhlen durch".

1833, als Brentano den "Blutruf" und die Schuld der "Pharisäer" anonym noch einmal zu Markte trug, war nicht mehr unbekannt, dass die mythische Vermarktung des Tods Jesu, die These von der historischen Wahrheit der Evangelien etwas mit dem Schüren von Judenhass zu tun hatte. "Die neueren Versuche", - schrieb David Friedrich Strauß 1835 im Vorwort zu seinem Leben Jesu - "sich wieder in die supranaturale Anschauungsweise unserer Vorfahren zurückzuversetzen, verrathen schon durch die gesteigerte Stimmung, in welcher sie sich halten, dass sie letzte, verzweifelte Unternehmungen sind". Strauß distanziert sich vom "mystisch-begeisterten" Ton "neuerer Bücher" und bestreitet, dass "wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen". Die Widersprüchlichkeit der Evangelien selbst enthülle, dass ihre judenfeindliche Kreuzigungsmystik eine taktische Zutat späterer Zeit war. In der Tat übersetzte keine Geringere als George Eliot Strauß' Werk 1846 ins Englische, um dem Antisemitismus im eigenen Land zu begegnen.

1866 erschien Ludwig Philippsons Abhandlung "Haben die Juden wirklich Jesum gekreuzigt?", die sich auf Strauß bezieht und die mehrfach übersetzt wurde. (. . .) "Sie wirft abermals die Frage auf, ist die Verdammung, die man einem ganzen Volke aufgewälzt, deren grausame Folgen fünfzig Geschlechter dieses Volkes zu tragen hatten, ist sie begründet oder nicht?"

Nach Philippson existiert "kein einziger geschichtlicher Bericht", "keine einzige zeitgenössische Mittheilung" über das, was die Evangelien erzählen. Deren Verfasser "haben über ein Jahrhundert später gelebt, und machen sowohl wegen der vielen Widersprüche, die sich zwischen ihnen selbst vorfinden, als auch wegen der Einkleidung ins Wunderbare auf historische Glaubwürdigkeit keinen Anspruch". Die Kreuzigung sei keine jüdische Todesstrafe, "weder nach dem biblischen noch nach dem traditionellen Rechte". Kein jüdischer Gerichtshof hätte auf Kreuzigung erkennen oder sie gar vornehmen können. Im Gegenteil "milderte das jüdische Gesetz das Schicksal des Unglücklichen".

Antisemitische Mythenbildung
Auch der Gegenstand der Anklage vor dem Synedrium sei absurd: Die Glaubensschulen der Pharisäer, Sadduzäer und Essäer, "die oft diametral entgegengesetzten Auslegungen der Schulen von Hillel und Schammai hatten, was Glaubenssätze anbetraf, einen Geist der Duldung bewirkt, der erst da aufhörte, wo offenkundige Gesetzesübertretungen und politische Parteizwecke anfingen". Nicht einmal die Messiasidee "war dazu angethan, gerichtliche Verfolgungen hervorzurufen, und das Auftreten von Messiassen wurde nicht von Seiten der jüdischen Behörden verfolgt, sondern gerade von den römischen Landpflegern."

Indizien in den Evangelien verraten nach Philippson ihre "ganze Unkenntniss der jüdischen Institutionen, wie sie ein Jahrhundert, nachdem die Hohepriesterwürde aufgehört hatte, leicht erklärlich ist". Es ist "von den Hohepriestern in der Mehrheit" oder "von dem Hohepriester" "selbigen Jahres" die Rede, "als ob die Hohepriesterwürde in jedem Jahre wechselte, während der Kaiphas Genannte während der ganzen Zeit, in welcher Pilatus Landpfleger war, also zehn Jahre hindurch die Hohepriesterwürde bekleidete". Ein Kaiphas sei der jüdischen Geschichtsschreibung ohnehin erst zwei Jahrhunderte später geläufig. Daher kommt Philippson zum einleuchtenden Schluss: ". . . ein wirklicher Prozess vor dem Synedrium wie die tumultuarische Forderung der Hinrichtung Jesu seitens des jüdischen Volkes haben nicht stattgefunden..."

Emanuel Deutsch stellte kurz darauf in seiner - ebenfalls international beachteten - Abhandlung "Der Talmud" eine weitere Unkenntnis der Evangelien heraus, nämlich ihre "vagen Anklagen" gegen so genannte "Schriftgelehrte und Pharisäer". Es gäbe "keinen größern oder verjährtern Irrthum", als seien sie eine von Christus und den Aposteln gehasste "Sekte" gewesen. Vielmehr kamen sie wie Jesus selbst aus dem einfachen Volk. Sie stellten "die patriotischsten, edelgesinntesten und am Weitesten vorgeschrittenen Führer der Fortschrittspartei", "zu deren Füßen die ersten Christen saßen" und deren überlieferte Sprüche "Weisheit, Frömmigkeit, Güte" bekunden. Im Kampf gegen die verschiedenen Besatzungsmächte hätten sie - wie Jesus - oft genug Gelegenheit gehabt, dies "mit ihrem Leben zu besiegeln". Auch aus der Sicht der jüdischen Bibelwissenschaft unserer Tage, wie z. B. Ruth Lapide, muss Jesus dem Lager der Pharisäer selbst angehört haben.

Leider aber hat es keines dieser Argumente - seit Lessing und im Verlauf des ganzen 19. Jahrhunderts und danach - geschafft, die Tradition des christlichen Antijudaismus zu brechen, noch gar den militanten Antisemitismus zu verhindern, der zu Auschwitz führte. Und gewiss - wie könnte man sich nicht (mit Ralph Giordano) "an den Kopf" fassen und sich fragen, ob Mel Gibson "noch bei Verstand" ist, mit seinem Passionsspiel eine neue Runde der christlichen Verzückung an "jüdischer Blutschuld" einzuläuten.

(. . .) Hat der christlich-mythische Untergrund unserer Kultur schon deshalb seine antijudaistische Potenz verloren, weil im 21. Jahrhundert die Leute aus den Kirchen austreten? Und ist es wirklich realistisch anzunehmen, dass sich die heutigen Kirchen, dass sich die heutige christliche Theologie von diesem Untergrund bleibend distanziert haben, der doch - "mit Auschwitz nichts zu tun" habe? Haben die päpstlichen Schulderklärungen daran irgendetwas geändert? Und wenn ja: Was hätten sie konkret geändert? (. . .)
Gibsons Rückkehr zum Latein kann nur für Versuche stehen, allen Ernstes eine Renaissance des fundamentalistischen Katholizismus, d. h. des mythischen Gehorsams der Massen (und ihres nachfolgenden Fanatismus) einzuleiten - um anschließend die Medien mit dem Argument in den Griff zu bekommen, sie dürften die religiösen Gefühle des Volks nicht verletzen. (. . .)

Wenn also der anspruchsvolle Begriff des 21. Jahrhunderts Sinn haben und nicht nur modernistische Attitüde bleiben soll, dann müssen in der Mitte der Gesellschaft die Mythen endlich zur Sprache kommen, die seit Jahrhunderten - und heute medial - in diese Mitte hineingepumpt werden. Sie konnten sich nur deshalb bis heute auf den Beinen halten, weil sie andere verletzen und bedrohen: Sie alle fußen auf der Legende, die Kreuzigung Christi durch die Juden habe das Böse in die Welt gebracht, das es nun - in sich überbietenden Filmschinken und auf allen TV-Kanälen rund um die Uhr - zu bekämpfen gelte.

Das Potenzial an antisemitischer Mythenbildung ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts massiv vermehrt und eben nicht verringert worden.

Jobst Paul ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Er veröffentlichte Bücher und zahlreiche Aufsätze zur Ethik, insbesondere zum Menschenbild in den Biowissenschaften. In einem Forschungsschwerpunkt widmet er sich seit mehreren Jahren den kulturellen Grundlagen von Rassismus und Antisemitismus. Im Unrast-Verlag, Münster, erscheint demnächst seine diskursanalytische Studie zu Tiefenstrukturen rassistischer und antisemitischer Argumentationen unter dem Titel "Das ‚Tier'-Konstrukt - und die Geburt des Rassismus. Zur kulturellen Gegenwart eines vernichtenden Arguments". Unter www.uni-duisburg.de/DISS/ hat das DISS ein Link eingerichtet zum im Text erwähnten Ludwig Philippson: "Haben wirklich die Juden Jesum gekreuzigt?" (1866/1901). Der hier leicht gekürzt dokumentierte Text von Jobst Paul ist ein Vorabdruck aus der Zeitschrift kultuRRevolution, zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Nr. 47, Verlag Klartext, Essen.

Frankfurter Rundschau, 18.03.2004

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