Warum Jesus gekreuzigt wurde
von Ekkehard W. Stegemann
Der umstrittene Film von Mel Gibson, "The Passion
of the Christ", lehnt sich unkritisch an die neutestamentlichen Evangelien
und deren Darstellungen der Umstände des Todes Jesu von Nazareth
an und macht die Juden mitschuldig für den Tod Jesu. Doch wie waren
die Umstände, die zur Kreuzigung Jesu führten, damals wirklich?
Die Evangelien sind in sich widersprüchlich, tendenziös
und, wie schon länger bekannt, historisch unplausibel, vor allem
was die Art der Beteiligung jüdischer Instanzen und die Weise betrifft,
wie der römische Statthalter zur Hinrichtung Jesu gekommen ist. Eine
historisch gerechte Darstellung der Umstände des römischen Prozesses
und der Hinrichtung Jesu muss die soziopolitische und rechtliche Situation
in der römischen Provinz Judäa im ersten Drittel des ersten
Jahrhunderts n.d.Z. in Rechnung stellen. Die aber führt zu anderen
Einschätzungen der jüdischen Beteiligung und der Motive des
römischen Statthalters. Das Bemühen um historische Gerechtigkeit
ist eine intellektuelle Verpflichtung, aber auch eine ethische. Denn alle
Aussagen auf diesem Feld haben sich bewusst zu machen, dass sie im Kontext
eines von den Evangelien selbst beförderten negativen Mythos über
die Juden stehen. Dessen unmenschlichen Folgen sind bekannt.
Nicht genug kirchliche Kritik
Deswegen sagen die heutigen Lehren der Kirchen bekanntlich
nicht mehr, dass "die Juden" Jesus getötet haben. Vor allem
ist das Dekret "Nostra Aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils
1965 solchen Pauschalisierungen entgegengetreten. Die infame Beschuldigung
der Juden als "Gottesmörder", die seit dem Altertum das
Verhältnis des Christentums zum jüdischen Volk vergiftet und
Peinigungen, Verfolgungen und Demütigungen von Juden verursacht hat,
wurde ausdrücklich zurückgewiesen:
"Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren
Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die
Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied
noch den heutigen Juden zur Last legen."
Analysieren wir diese Aussage, so ist klar:
Jegliche Kollektivschuld der Juden - die gleichsam rassistische,
die alle Juden aller Zeiten beschuldigt, ebenso wie die historische Kollektivschuld
am Leiden Jesu - wird abgelehnt.
Der Kreis der historisch Verantwortlichen wird auf die
jüdischen Autoritäten und deren Parteigänger zur Zeit Jesu
limitiert.
"Nostra Aetate" spricht aber auch nur von der
Schuld am Tode Jesu im Blick auf den Kreis dieser Juden. Von der Beteiligung
der römischen Provinzbehörde in Gestalt des Gouverneurs von
Judäa, Pontius Pilatus, wird nicht gesprochen, jedenfalls nicht ausdrücklich.
Dieser dritte Punkt ist bemerkenswert für eine doch
offenbar historisch gemeinte Aussage. Denn immerhin ist die Kreuzigung
Jesu als römische Todesstrafe, die zudem ein römisches Verfahren
und eine römische Strafschuld voraussetzt, im historischen Diskurs
unumstritten. Kapitalgerichtsbarkeit hatten Juden in der Provinz Judäa
nicht. Da das Konzil kaum das bezweifeln wollte, muss man in der Formulierung,
dass "die jüdischen Autoritäten und deren Parteigänger
auf den Tod Jesu gedrungen haben", gleichsam einen Rest der tendenziösen
Beschuldigung jüdischer Instanzen sehen, die durch die Evangelien
insinuiert wird.
Die Umkehrung des Schuldgefälles
Man kann die Abwendung von einer pauschalen Beschuldigung
der Juden zwar loben, doch ist sie weiterhin im Bann einer Tendenz der
Beschuldigung jüdischer Instanzen als einer treibenden, Jesus feindlichen
Kraft, deren historische Plausibilität fraglich ist. Sie muss nämlich
unterstellen, dass jüdische Eliten Jesus feindlich gesonnen waren
und dass sie einen innerjüdischen (religiösen) Konflikt ins
Politische verdreht haben, um die römische Obrigkeit zur Hinrichtung
Jesu zu veranlassen.
Historisch betrachtet trifft dies auf erhebliche Bedenken.
Einerseits deswegen, weil die Darstellung der jüdischen Beteiligung
den rechtsgeschichtliche Quellen des Judentums krass widerspricht. Andererseits
deswegen, weil die Rolle der römischen Herrschaft und ihres Anspruchs
auf Durchsetzung krass unterschätzt wird. Dies haben nicht zuletzt
jüdische Gelehrte wie Paul Winter und der ehemalige Oberrichter Israels,
Chaim Cohn, aber auch christliche Forscher dargelegt.
Danach steht nicht nur die Art der Beteiligung jüdischer
Kreise, ja deren Beteiligung überhaupt in Frage. Vielmehr wird hier
der Grund für Jesu Hinrichtung gänzlich jenseits eines aus Konflikten
mit jüdischen Kreisen stammenden Tötungswillens geortet, nämlich
in den durch die römische Herrschaft bestimmten ordnungs- bzw. herrschaftspolitischen
Konstellationen in Judäa. Dies hat schon Paul Winter in seiner bahnbrechenden
Untersuchung herausgestellt: Jesu Lehre war nicht der Grund seiner Hinrichtung;
die Gründe waren vielmehr politischer Art.
Andere Forscher haben diesen Ansatz systematisch ausgearbeitet:
Es sind danach nicht jüdische Interessen aufgrund innerjüdischer
Konflikte um die Thoraauslegung und Ähnliches, auch nicht einfach
das Zusammenspiel jüdischer mit römischen Interessen, sondern
allein und ausschliesslich die durch die römische Herrschaft geschaffenen
und durch sie militärisch, ordnungspolitisch, polizeilich, judikativ
und administrativ unterhaltenen Herrschaftsverhältnisse in Judäa
und das von ihnen geprägte Klima der jüdischen Gesellschaft,
die Jesu Hinrichtung erklären. Dass zu diesen Verhältnissen
auch die Mitwirkung von Teilen der einheimischen jüdischen Oberschicht
(freilich nicht in eigener Kapitalgerichtsbarkeit) als Teil des Systems
der römischen Ordnungs- und Polizeipolitik gehören kann, steht
dazu nicht im Widerspruch. Vielmehr hat eine Kompetenzverteilung zwischen
einheimischer und römischer Behörde stattgefunden, in der die
jüdische vollständig im Rahmen des römischen Herrschaftsauftrags
gesehen werden muss, also der Wahrung der römischen ordnungspolitischen
Erwartungen zu dienen hat und zudem subordiniert und limitiert war. Mit
anderen Worten: Wenn der Sanhedrin oder (besser) Teile von ihm mit ihren
Ordnungskräften tatsächlich beteiligt gewesen sein sollten,
dann bei der Festnahme und Überstellung Jesu an den Statthalter,
also ordnungspolitisch und polizeilich, aber nicht bei der Geisselung
und beim Prozess.
Der Fall des anderen Jesus
Von Beteiligung jüdischer Instanzen im Zusammenhang
mit ordnungspolitischen Verfahren gegen Juden wegen des Verdachtes auf
Volksaufwiegelung bzw. Störung der öffentlichen Ordnung wird
vom Historiker Josephus in der Episode des Unheilspropheten Jesus ben
Ananias berichtet. Er tritt während des Laubhütten-, also auch
eines Wallfahrtfestes, 62 n.d.Z. vom Land kommend in Jerusalem auf mit
Weherufen über die Stadt, den Tempel und das Volk. Im Unterschied
zu Jesus von Nazareth, der eine grössere Anhängerschaft sammelte,
stellt dieser Unheilsprophet eine Einzelgestalt dar. Gleichwohl sehen
nach Josephus vornehme jüdische Bürger in ihrer Funktion als
Ordnungsinstanz in ihm eine Störung der öffentlichen Ordnung.
Ihr Versuch, ihn durch polizeiliche Strafmassnahmen zum Schweigen zu bringen,
schlägt fehl. Deswegen und weil ihnen weitere als diese Zwangsmittel
nicht zur Verfügung stehen, um die Störung der öffentlichen
Ordnung zu beheben, überstellen sie ihn dem römischen Statthalter
Albinus. Er belegt den Störenfried zunächst mit massiver Folter,
indem er ihn geisseln lässt, dann verhört er ihn und lässt
ihn wegen erwiesener Geistesgestörtheit frei. Nehmen jüdische
Instanzen hier ihren politischen Ordnungsauftrag wahr, was sozusagen eine
römische Sicht der Vorgänge zwangsläufig impliziert, so
fehlt ihnen offenbar die Möglichkeit, entweder massivere Zwangsmassnahmen
einzusetzen oder trotz des Fortwirkens der als Bedrohung der Ordnung angesehenen
Ursachen die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.
Jesus - ein antirömischer Aufständischer?
So oder ähnlich könnte es auch im Falle des
Jesus von Nazareth etwas mehr als 30 Jahre früher bei einem Pessach-Fest
zugegangen sein. Der in den Evangelien berichtete jüdische Prozess
ist zwar auszuschliessen. Doch wenn es ein jüdisches Vorverfahren
gegeben hat, dann war es eher dazu bestimmt, ein römisches Verfahren
gerade zu vermeiden (so Chaim Cohn). Die politische Anklage, die, in welcher
Gestalt auch immer (möglich ist "Aufstand" oder "Aufruhr",
"Aufwiegelung"), zum Prozess führte, dürfte erst im
Verfahren der römischen Geisselung gefunden worden sein. Dass sie
vom römischen Gerichtsherrn, Pilatus, erhoben wurde und schliesslich
zum Todesurteil führte, hat auch an den Evangelien Anhalt: Jesus
wird als "König der Juden", d. h. als aufrührerischer
Rebell mit einem antirömischen Herrschaftsanspruch hingerichtet.
Es fällt zwar schwer zu glauben, dass gerade Jesus
von Nazareth dessen beschuldigt werden konnte. Der Bergprediger - ein
Aufrührer, ein Aufständischer, ein politischer Rebell, ein Guerilla-
oder Widerstandskämpfer, ein Sozialbandit? Und das zu glauben fällt
noch schwerer angesichts der Tendenz der Prozessdarstellung der Evangelien,
die uns einredet, dass gerade das verdrehter jüdischer Beschuldigung
unterliegt und dass es nur dem Nachgeben des jüdischen Drucks zu
verdanken ist, wenn es durch das Hinrichtungsurteil des Statthalters Pilatus
amtlich wurde. Bedroht wird so das Bild von Jesus, es sei denn, man sei
wie schon etwa Robert Eisler der Meinung, Jesus sei in der Tat ein Insurgent
gegen Rom gewesen, ja ein Zelot, und das sei nur von den Evangelien und
dem "Mainstream" der christlichen Auslegung manipulativ verfälscht
und aus bestimmten politischen Interessen unterdrückt worden, aber
im Grunde gar nicht schlimm, sondern eigentlich bewundernswert.
Ein an der sozialgeschichlichen Realität Judäas
und an vergleichbaren Fällen der Ausübung römischer Ordnungs-
und Polizeipolitik orientierter Diskurs kann jedoch plausibel machen,
dass aus römischer Sicht von Jesu Auftreten eine Bedrohung der öffentlichen
Ordnung auszugehen schien. Der Rahmen der ökonomischen und politischen
Herrschaft Roms in den Provinzen verlangte überall einerseits die
Anpassung und Subordination, andererseits stellte er die unerbittliche
Sanktionierung jeglicher Infragestellung dieses Systems sicher. Unruhen
und Aufruhr wurden beobachtet und, wenn nötig und möglich, sofort
im Keim erstickt, und zwar militärisch und polizeilich, nur selten
judikativ. Das Spektrum der Unruhen und Aufstände ist breit, ihre
Bekämpfung überwiegend militärisch, aber manchmal auch
gerichtlich.
Rückschlüsse auf das Verfahren gegen Jesus
Ein Rückschluss von diesem römischen Herrschaftsverfahren
auf den Fall des Jesus von Nazareth erlaubt folgende Feststellungen:
Die Beteiligung einer jüdischen Instanz ist nur plausibel
(wenn auch nicht unabdingbar notwendig) im Rahmen einer Festnahme zur
untergeordneten polizeilichen Zwangsmassnahme gemäss ihrer lokalen
und begrenzten Kompetenz, nicht aber im Rahmen eines eigenen Kapitalprozesses
oder überhaupt judikativer Massnahmen.
Zu dieser Kompetenz gehörte auch die Überstellung
an die magistratische Behörde zu (weiteren) polizeilichen Zwangsmassnahmen
oder gerichtlichen, d. h. Kognitions-Massnahmen.
Von hierher ist nicht ausgeschlossen, dass die jüdische
Instanz im Fall Jesus von Nazareth gerade zur Vermeidung weiterer Folgen
für Jesus Massnahmen in ihrer Kompetenz ergriff und erst nach deren
Scheitern die Überstellung an den Statthalter vornahm.
Ebenso nicht auszuschliessen ist aber, dass die römische
Behörde ohne Vermittlung der jüdischen Ordnungsinstanz die Kompetenz
in diesem Fall sofort an sich zog, es also gar keine Beteiligung einer
jüdischen Instanz gab.
Einen Tötungswillen bei der jüdischen Instanz
und diesen erst noch als selbstverständlich anzunehmen, ist aber
in jedem Fall unplausibel. Wenn jüdische Instanzen mitgewirkt haben,
dann im Rahmen ihres Ordnungsauftrags und zur Vermeidung ernster Folgen
für den Delinquenten und von weiteren Unruhen.
Die Festnahme Jesu und das römische Verfahren gegen
ihn sind auch bei einer Beteiligung einer jüdischen Instanz dann
plausibel, wenn Jesu Auftreten in Jerusalem und zumal zu einer ordnungspolitisch
besonders prekären Zeit, dem Pessach-Fest, irgendwie als Drohung
gegen die öffentliche Ordnung erschien, also ein Anfangsverdacht
bestand.
Entscheidend ist die ordnungspolitische Relevanz des Auftretens
Jesu, nicht die Frage, ob er als antirömischer Insurgent, Sozialrevolutionär
oder ähnlich sich verstand oder nicht, aber auch nicht, ob er ein
von den Oberschichten oder anderen jüdischen Gruppen abweichendes
("religiöses") Programm hatte oder nicht.
Die Wahrnehmung Jesu als Störer öffentlicher
Ordnung in Jerusalem während des Wallfahrtsfestes dürfte im
Prinzip aufgrund seines uns bekannten Auftretens als charismatischer und
wandernder Wundertäter, der Interpretation dieser Kräfte als
tatsächliche und punktuelle Verwirklichung der Königsherrschaft
Gottes und des Auftretens im Gefolge einer engeren und weiteren Anhängerschaft
plausibel sein.
Noch plausibler wäre es, wenn Jesu Einzug in Jerusalem
demonstrativ gewesen wäre, wenn er in Jerusalem etwa eine Zeichenhandlung
im Tempelbezirk ("Tempelreinigung") vollzogen oder prophetische
Worte über den Tempel und seinen Untergang gesprochen hätte.
Aus diesem Profil Jesu ergibt sich, dass seine charismatische
Armutsbewegung phänomenal Überschneidungen mit als "Räubern"
geltenden Sozialbanditen (charismatisch geleitetes Wandern mit Anhängerschaft
von armen Unterschichtsangehörigen und mäzenatischer Unterstützung
im Volk), mit als "Volksaufrührern" geltenden Zeichenpropheten
(Wunderheilungen und vielleicht prophetische Ankündigung von Zeichen)
und politisch-religiösen antirömischen Aufstandsgruppen ("zelotische"
Steuerrebellion unter dem Programm des "Königtum Gottes")
aufwies. Doch erst die römische Folter dürfte daraus die politische
Anklage formuliert haben.
Es genügte also, dass Jesu Auftreten als Drohung
für die öffentliche Ordnung angesehen werden konnte. Dies sagt
freilich noch nichts darüber aus, warum es dann anders als bei Jesus
ben Ananias tatsächlich nach koerzitivem römischen Verfahren
("Geisselung") zum Prozess und zur Hinrichtung gekommen ist.
Entscheidend für diesen anderen Ausgang des Verfahrens ist, dass
Jesus von Nazareth eine Anhängerschaft hatte, der gegenüber
seine, aber auch nur seine Hinrichtung eine abschreckende Funktion haben
sollte. Dass Kreuzesstrafen auch als exemplarische Abschreckung angewandt
wurden, ist reichlich belegt.
Warum die Evangelien den historisch wahrscheinlichen Vorgang
jedoch verzerren, steht auf einem anderen Blatt. Ich kann hier nur andeuten,
dass dies mit Problemen aus der Zeit, aus der die Evangelien stammen (letztes
Viertel des ersten Jahrhunderts), zusammenhängt, nämlich mit
der beginnenden Kriminalisierung der Christen im Römischen Reich.
Hier war es wichtig, mit der Unschuld des Urhebers der Bewegung die eigene
Unschuld herauszustellen. Erkauft wurde das damit, dass jüdischen
Instanzen eine falsche politische Beschuldigung vorgeworfen wurde.
Ekkehard W. Stegemann ist Ordinarius für Neues Testament
und gegenwärtig Dekan der Theologischen Fakultät der Universität
Heidelberg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sozial- und Kulturgeschichte
des antiken Judentums und des frühen Christentums.
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