Der neue Antisemitismus
von Thomas Schmid
Die Grenze zwischen Toleranz und Feigheit kann fließend
sein. Als sich in den Niederlanden vor ein paar Jahren Muslime über
eine Oper empörten, in der ihrer Meinung nach der Islam verächtlich
gemacht wurde, nahmen die Veranstalter die Oper rücksichtsvoll aus
dem Programm. Und als Muslime frank und frei erklärten, sie hielten
sich nicht immer an Recht und Ordnung, weil sie dazu unter einem jüdischen
Bürgermeister keine Veranlassung hätten, sah ein Teil der liberalen
Öffentlichkeit verständnisvoll darüber hinweg - schließlich
seien die jungen Leute Opfer einer Gesellschaft, die mit Ausländern
abweisend umgehe.
Zwei Dinge, die der offenen Gesellschaft teuer sind, waren
da einander in die Quere gekommen: die Weltoffenheit gegenüber Fremden
und die Selbstverpflichtung, dem Antisemitismus nie wieder Raum zu gewähren.
Viele Festredner des Mahn- und Völkerversöhnungswesens tun so,
als gehöre beides untrennbar zusammen. Doch dem ist offensichtlich
nicht so. Wo der multikulturellen Offenheit und der Gleichrangigkeit aller
Kulturen das Wort geredet wird, ist oft auch ein Schuldgefühl im
Spiel: Vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit des Westens erscheint
jeder Fremde schnell als das archetypische Opfer, an dem etwas gutzumachen
sei. Der Fremde ist stets der gute Fremde - und wenn er Böses tut,
müssen wir Verständnis dafür haben.
Das Gefühl dieser Verpflichtung sitzt tief - erstaunlicherweise
tiefer als die Verpflichtung, jeder Form des Antisemitismus entgegenzutreten.
Als im Januar 2000 unter Beteiligung von fünfzig Staaten in Stockholm
eine große Holocaust-Konferenz stattfand, schien das der staatsoffizielle
Abschluß einer Entwicklung zu sein, die in den Gesellschaften Europas
von intellektuellen Eliten über Jahrzehnte hinweg vorangetrieben
worden war. Der Holocaust, der bisher aus naheliegenden Gründen vor
allem ein Thema deutscher Geschichtsdebatten gewesen war, schien nun zum
negativen Gründungsmythos Europas zu werden. Der Kontinent, von dem
das Licht der Aufklärung ausgegangen war, hatte zugleich die barbarischste
Finsternis geschaffen: Er hat den Völkermord an den Juden Europas
begangen. Der Zusammenschluß der Staaten Europas zur EU sollte nun
sein geistiges Fundament im "Nie wieder" und in der Absage an
die alten Feindschaften unter den Staaten des Kontinents haben.
Nicht nur die genannten Beispiele aus den Niederlanden
zeigen, daß dieser Konsens jenseits der Fensterreden keineswegs
verbindlich ist. Als die EU kürzlich, zusammen mit zwei jüdischen
Organisationen, in Brüssel eine große Konferenz wider den Antisemitismus
in Europa veranstaltete, war Kommissionspräsident Prodi sichtlich
bemüht, den Kampf gegen den Antisemitismus in den übergeordneten
Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einzuordnen. Und dazu paßte
es gut, daß er die praktische Judenfeindschaft, die heute von Muslimen
- etwa in Frankreich und Belgien - ausgeht, nur streifte. Beschämenderweise
blieb es fast ohne Ausnahme den jüdischen Rednern vorbehalten, diese
inzwischen massivste und bedrohlichste Form des Antisemitismus in Europa
zu benennen.
Die Brüsseler Konferenz war ein Fehlschlag, weil
sie - der Wirklichkeit Europas zum Trotz - rhetorisch ganz in den Bahnen
des herkömmlichen Anti-Antisemitismus blieb. Nicht, daß der
vorgestrige Antisemitismus ganz und gar verschwunden wäre: Noch hat
er seine Überlebenden; er wird gewiß auch weitergereicht -
nicht nur in einschlägigen Neu-Nazi-Milieus - und findet seine Anhänger.
Doch es ist eine aus anderen Quellen gespeiste Judenfeindschaft hinzugekommen,
von der heute eine größere Gefahr ausgeht. Der alte Antisemitismus,
der in Europa ausgebrütet und gehegt worden war, hatte den Juden
als Heimatlosen, als Wurzellosen, als Kosmopoliten zum Feindbild. Der
neue Antisemitismus hat diese Haltung zwar insofern auch in sich aufgenommen,
als er die Juden für allgegenwärtig (und doch nicht greifbar)
hält; doch er richtet sich zusätzlich, ja hauptsächlich
gegen Juden, die ihren Ort gefunden haben und an diesem Ort stark sind.
Er richtet sich gegen den Staat Israel.
Es ist die Migration gewesen, welche diese neue Judenfeindschaft
zum polizeilichen Problem in Europa hat werden lassen. Der Staat Israel,
auf historischem Terrain gegründet, stellt tatsächlich eine
dauerhafte Provokation dar. Als eine - insgesamt und trotz allem - prosperierende
Insel des Westens im Nahen Osten führt er mit seinem Beispiel der
Bevölkerung der Region tagtäglich vor Augen, daß deren
- in aller Regel nicht legitimierte - Regime zu Ordnung, Verläßlichkeit
und Aufschwung nicht fähig sind. Der Haß auf das erfolgreiche
Israel, dessen anderes Gesicht der Selbsthaß ist, wanderte mit den
Migranten aus dem Mittelmeerraum, vor allem aus dem Maghreb, nach Europa
ein.
Das wäre vielleicht nicht sonderlich bedrohlich,
wäre man sich in Europa nur wirklich einig, daß das Existenzrecht
Israels unantastbar sein muß - auch weil dieser Staat ein Pendant
Europas in einer feindlichen Umwelt ist und deswegen Hege verdient. Doch
diese Übereinkunft scheint nicht mehr stabil zu sein, und sie wird
nicht nur von außen - also von Migranten -, sondern auch von innen
gefährdet, nicht zuletzt von links. Die Globalisierungskritiker von
"attac" haben sich antiisraelische Ausfälle geleistet,
und auch weiter in der linken Mitte sieht es nicht unbedingt besser aus:
Daß dem Berater des Suhrkamp Verlags, Jürgen Habermas, nicht
aufgefallen ist, daß ein von ihm empfohlenes Buch einen antisemitischen
Unterton hatte, könnte ein Indiz für eine Tendenz sein. Mit
der unausweichlichen Historisierung des Nationalsozialismus, gegen die
sich die liberale Intelligenz so lange gewehrt hat, könnte in europäischen
Augen das Existenzrecht Israels an Selbstverständlichkeit verlieren.
Mehr auf Schuldbewußtsein als auf Freude über das erfolgreiche
Experiment Israel gegründet, steht das Bekenntnis zum jüdischen
Staat auf schwachen Beinen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.2004
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