Wer sagt, dass wir keine Juden sind?

In Deutschland entstehen unabhängige jüdische Gemeinden: zum Beispiel in Bad Segeberg. Doch die Neugründungen provozieren erbitterten Streit mit dem Establishment

von Richard Herzinger

Die Gemeinde ist in ausgelassener Stimmung. Zu Purim, dem jüdischen Freudenfest, hat sich die junge ukrainische Rabbinerstudentin vom Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg, die an diesem Samstagvormittag den Gottesdienst leitet, eine Überraschung ausgedacht. Sie singt die Psalmen und Lieder ausnahmsweise nicht zu traditionellen religiösen, sondern zu populären Melodien wie Yesterday oder Santa Lucia vor. Man kann nur bewundern, wie unbeirrt sie die richtigen Töne trifft. Denn von nebenan dringen störende Klampfenklänge und rhythmische Klatschgeräusche durch die Wand: Eine christliche Jugendgruppe hat sich auf Robbie Williams eingestimmt. Zwischendurch läuten vom angrenzenden Kirchturm her durchdringend die Glocken.

Wir befinden uns nämlich nicht in einer Synagoge, sondern im evangelischen Gemeindezentrum von Bad Segeberg. Die im Februar 2002 gegründete Jüdische Gemeinde des schleswig-holsteinischen Provinzstädtchens hat bei den örtlichen Protestanten Unterschlupf gefunden. Über eigene Räumlichkeiten verfügen die Juden noch nicht. Das aber soll sich so bald wie möglich ändern. Stolz führt die stellvertretende Gemeindevorsitzende Ljudmilla Budnikov, die wie zwei Drittel der mittlerweile schon 130 Köpfe zählenden Gemeinde aus den ehemaligen GUS-Staaten stammt, interessierte Gäste durch die Lohmühle, ein altes, verlassenes Fabrikgebäude im Zentrum des Ortes, das der Magistrat den Segeberger Juden für einen symbolischen Kaufpreis zur Verfügung gestellt hat. In diesem Gemäuer sollen eine Synagoge - der erste Neubau eines jüdische Gotteshauses in Norddeutschland nach dem Krieg - und Räume für die vielfältigen sozialen und kulturellen Gemeindeaktivitäten entstehen. Nur eines wissen die begeisterten Initiatoren des anspruchsvollen Plans noch nicht genau: wie sie das Ganze finanzieren sollen. Private Sponsoren wie der Brillenhersteller Fielmann haben immerhin bereits so viel gespendet, dass im Sommer schon einmal der Boden befestigt werden kann. Im Mai soll Grundsteinlegung sein.

Bei dem Bad Segeberger Synagogenprojekt handelt es sich um die wohl spektakulärste Initiative, die derzeit aus den rasch wachsenden jüdischen Gemeinden Deutschlands zu vermelden ist. Was die jüdischen Bürger dort auf die Beine stellen, kann als beispielhaft für jenen Geist der Selbstorganisation gelten, der unter dem Schlagwort "Eigenverantwortung der Zivilgesellschaft" allerorten eingefordert wird. Denn die Gemeinde erhält keine öffentlichen Fördermittel. Schuld daran ist aber nicht etwa böser Wille der zuständigen schleswig-holsteinischen Landesregierung. Im Gegenteil: Die zeigt sich über das überall im Lande neu aufsprießende jüdische Leben hoch erfreut. Seit im September 2001 in Lübeck die erste jüdische Gemeinde Schleswig-Holsteins nach der Schoah wiedergegründet wurde, sind außer in Bad Segeberg in Elmshorn, Pinneberg und Ahrensburg weitere hinzugekommen. Dass sie bis heute von der Teilhabe am staatlichen Förderungstopf ausgeschlossen sind, hat seine Ursache in einer erbitterten innerjüdischen Auseinandersetzung.

Purim - das ist eine Art jüdischer Karneval, und so versammeln sich etwa vierzig Segeberger Gemeindemitglieder nach dem Gottesdienst schrill verkleidet um einen großen Tisch und lesen mit verteilten Rollen und viel Jux aus dem Buch Esther, das von der Rettung der exilierten persischen Juden vor den Vernichtungsplänen des Hofbeamten Haman erzählt. Immer wenn der Name des Bösewichts Haman fällt, wird laut gebuht und mit Rasseln und Tröten gelärmt. Ähnliche Reaktionen provoziert bei den jüdischen Bad Segebergern nur noch der Name Wankum.

Andreas C. Wankum ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburg, die ihnen die Anerkennung als offizielle jüdische Gemeinden verweigert. Warum kann sie das überhaupt? Weil den Hamburgern vor Jahren, in Ermangelung eines schleswig-holsteinischen Landesverbandes, vom Zentralrat der Juden in Deutschland die Betreuung der im angrenzenden Bundesland lebenden Juden übertragen worden war. Deshalb hat das Land Schleswig-Holstein den Staatsvertrag, der die Finanzierung jüdischen Lebens im nördlichsten Bundesland regelt, mit der Hamburger Gemeinde abgeschlossen. So wandert das Geld des schleswig-holsteinischen Steuerzahlers an die Vertretung der Juden in der Hansestadt, die entscheidet, wer in Schleswig-Holstein wie viel davon abbekommt.

Doch bei ihnen, klagen die Vertreter der unabhängigen Gemeinden Elmshorn, Ahrensburg, Pinneberg und Bad Segeberg, sei nie ein Cent angekommen. Deshalb haben sie gemeinsam einen eigenständigen Landesverband aus der Taufe gehoben und verlangen nun, als autonomer Vertragspartner des Landes anerkannt zu werden. Der alte Staatsvertrag ist inzwischen aufgehoben und soll neu verhandelt werden. Doch Wankum kämpft mit harten Bandagen um seine Souveränitätsrechte im Nachbarland. Kürzlich beantragte er sogar, den Titel "Landesverband der jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein" aus dem Register des Amtsgerichts zu löschen. Als dieses Ansinnen zurückgewiesen wurde, nannte er die Entscheidung "antisemitisch" - eine Äußerung, die bei den Segebergern helles Entsetzen auslöste. "Was für eine irre Logik", schimpft der Bad Segeberger Gemeindevorsitzende Walter Blender, "einer deutschen Behörde Antisemitismus vorzuwerfen, weil sie die Existenz jüdischer Gemeinden anerkennt!" Die von Wankum gestreute Behauptung, bei den Segebergern handele es sich gar nicht um echte Juden, und man nehme es dort mit der Beachtung jüdischer Religionsgesetze nicht so genau, weist Blender empört zurück. Darüber, dass die religiösen Vorschriften genau eingehalten werden, wacht nicht zuletzt der Landesrabbiner Walther Rothschild. "Wir sind wahrscheinlich frommer als die meisten Orthodoxen", kontert Didiy Podszus, der den örtlichen Synagogenchor leitet, "die nur Vorgegebenes nachbeten. Wir dagegen setzen uns aktiv mit unserer Überlieferung auseinander und bemühen uns, sie mit den Anforderungen der Gegenwart in Einklang zu bringen."

Der norddeutsche Regionalkonflikt wird von einer umfassenderen Auseinandersetzung innerhalb des deutschen Judentums überwölbt. Die Bad Segeberger und Pinneberger Gemeinden bekennen sich zum liberalen Reformjudentum und haben sich der liberalen Union progressiver Juden angeschlossen. Die hält den Zentralrat für orthodox dominiert und spricht ihm den Alleinvertretungsanspruch jüdischer Interessen ab. Das Judentum kenne keinen Papst und keine Kommandozentrale, die Direktiven ausgibt, zürnt Walter Blender, sondern nur ein Miteinander in der Vielfalt religiöser Auslegungen.

Der Zentralrat gibt sich den Liberalen gegenüber inzwischen flexibler, doch die Hamburger Gemeindeführung gilt als Hochburg besonders hart gesottener Verfechter zentralistischen Einheitsdenkens. Sie fürchten, der Zustrom russischer Juden, die aufgrund eines Abkommens der Bundesregierung nach Deutschland kommen, könne das Judentum in seinem Wesenskern verwässern. Denn als Juden wurden von den russischen Behörden auch Personen geführt und behandelt, die nach den Gesetzen der jüdischen Halacha gar keine sind: Als solcher gilt nur, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder vor einem ordentlichen Rabbinergericht übergetreten ist. Gleichgültigkeit vieler Einwanderer gegenüber jüdischen Traditionen drohe den Zusammenhalt der Gemeinden zu sprengen.

Doch es sind gerade die Bad Segeberger Juden, die vormachen, wie man Integrationsprobleme mit persönlichem Engagement in den Griff bekommen kann. Da ist zum Beispiel die aus Israel stammende Shoshana Lasowski. Als "Mutter der Gemeinde" berät sie Neuankömmlinge in allen praktischen Alltagsproblemen, unterrichtet Hebräisch und erklärt in Einführungskursen die Grundlagen der religiösen und kulturellen Tradition des Judentums. Andere, wie der Lehrer Manfred Neumann, geben kostenlos deutschen Sprachunterricht.

Kopf und Motor des neuen Aufschwungs jüdischen Lebens im Norden aber ist Walter Blender. Der 42-Jährige strotzt vor Energie und Tatendrang. Er ist ein in jeder Hinsicht auffälliger jüdischer Gemeindevorsteher. Nicht nur, dass er so blond und bodenständig ist, wie es das Klischee für einen waschechten Holsteiner vorsieht, auch sein Beruf ist für einen deutschen Juden höchst ungewöhnlich: Blender ist Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei. Ein Jude bei der deutschen Kripo? Fühlt sich das angesichts der deutschen Geschichte nicht seltsam an?

Überhaupt nicht, versichert Blender. Nie habe er während seiner Karriere in der deutschen Polizei, die er als durch und durch demokratisch preist, antisemitische Aversionen gespürt. Wenn gelegentlich "irgendwelche Sprüche" kämen, dann zeugten sie eher von Unwissenheit über Geschichte und Wesen des Judentums. In einer solchen Situation müsse man schlagfertig und offen darüber aufklären, was Jüdischsein tatsächlich bedeute, und diese Erklärungen würden von den Kollegen in aller Regel auch interessiert aufgenommen. Zugegeben, sagt er, besonders vorbildlich, fleißig, ehrlich müsse ein Jude in der Polizei schon auftreten, um bei den Kollegen vollen Respekt zu genießen. Dass es Antisemitismus gibt, leugnet er keineswegs; in Frankreich zum Beispiel, wo Islamisten offen gegen jüdische Bürger Front machen, wolle er zurzeit nicht unbedingt leben. Aber er hält auch nichts von jener Wagenburgmentalität, in die sich manche jüdischen Funktionäre gern vergrüben. Das moderne Judentum einer demokratischen Gesellschaft solle offen und herzlich auf die nichtjüdischen Mitbürger zugehen, statt von ihnen immer Schlimmes zu erwarten. Im Schüren von Berührungsängsten mit der nichtjüdischen Umwelt ahnen Blender und seine Mitstreiter eine interessengeleitete Absicht. Je mehr man sich misstrauisch abschotte, desto undurchdringlicher blieben die Machstrukturen auch im Inneren der jüdischen Gemeinschaft.

"Wir werden die Vergangenheit nie vergessen, aber wir wollen in die Zukunft schauen", sagt Ljudmilla Budnikov. "Und wir wollen uns in dem, was wir selber tun können, von niemandem mehr einschränken oder bevormunden lassen." Es könnte das Credo eines neuen deutsches Judentums sein.

Die Zeit, 25.3.2004

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