Schmuddelkind liberales Judentum?
Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland besteht nicht nur aus Orthodoxen
Anmerkungen zu einem Buch von Paul Spiegel
von Hartmut G. Bomhoff
Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann ist es im Volksmund
"nicht ganz koscher".Was es aber mit dem Judentum im Einzelnen
auf sich hat, das ist für viele Nichtjuden hier zu Lande ein Rätsel.
Paul Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland,
will Antwort auf all die Fragen geben, denen er in den letzten Jahren
immer wieder begegnet ist. In dem Buch "Was ist koscher? Jüdischer
Glaube - jüdisches Leben" (Ullstein, 2003) unternimmt er zusammen
mit dem eigentlichen Experten, dem orthodoxen Rabbiner Joel Berger, sowie
dem Publizisten Richard Chaim Schneider eine unterhaltsame Reise durch
Jahrtausende jüdischer Geschichte und Kultur. Paul Spiegel hat dieses
hoch-informative und oft elegant formulierte Buch veröffentlicht,
um das Judentum von seiner angeblichen Exotik zu befreien: "Nur das,
was man nicht kennt, macht Angst." Aber der Autor stellt die Dinge
doch stark nur aus Sicht des "gemäßigten orthodoxen Judentums"
dar, und grenzt sich deutlich von jeder Art "liberalen Judentums"
ab.
In den USA, wo rund 80 Prozent der Synagogenmitglieder
liberal sind, ist es selbstverständlich, dass das Judentum viele
Gesichter hat. In Deutschland tut man sich mit der öffentlichen Anerkennung
nichtorthodoxen jüdischen Lebens noch schwer. Dabei hat diese religiöse
Vielfalt ihren Anfang vor zweihundert Jahren gerade in Deutschland genommen:
Im Zuge der Aufklärung fragten sich mehr und mehr Juden, wie die
überkommenen Traditionen mit dem neuen Universalismus in Einklang
gebracht werden könnten. Bald wurde deutlich: Ein lebensfähiges
Judentum verlangt einen Wandel vor allem der Synagoge und des Rabbinats.
Paul Spiegel macht in seinem Buch keinen Hehl daraus,
dass die jüdische Gemeinschaft sich in unterschiedliche Strömungen
auf-fächert. Doch für ihn ist "die moderate Orthodoxie
am ehesten in der Lage, Juden aller Denominationen unter einem Dach zu
vereinen". Warum aber fühlen sich dann immer mehr der jetzt
über einhunderttausend Juden und Jüdinnen hier zu Lande unter
diesem Dach nicht zu Hause? Die 1997 gegründete Union progressiver
Juden in Deutschland vertritt inzwischen dreizehn liberale jüdische
Gemeinden mit gut dreitausend Mit-gliedern, die sich zwischen Schleswig-Holstein
und Bayern ohne staatliche Förderungetabliert haben. Das erinnert
an den Beginn der innerjüdischen Erneuerung vor zwei-hundert Jahren,
die ebenfalls von Laien aus-ging. "Die Gottesdienste sind nun würdiger,
es wird eine moralisch erbauliche Predigt in deutscher Sprache gehalten,
einige Gebete werden eher auf Deutsch als auf Hebräisch gesprochen,
eine Orgel begleitet die Feier, und gewisse Gebete, insbesondere jene,
die von der Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina und vom
Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem handeln, werden ganz und gar weggelassen",
fasst Michael A. Meyer, der Historiker der Reformbewegung, diese Entwicklung
hin zur heute weltweit stärksten Richtung im Judentum zusammen. Mit
"Judaism light", wie es Paul Spiegel und Rabbiner Berger nennen,
hat dieses liberale Judentum wahrhaftig nicht zu tun. Tatsächlich
ist liberalen Juden, die nicht an die buchstäbliche Offenbarung glauben
können, sondern die Gotteserfahrung in jeder Generation in aktuelle
Bezüge stellen, die religiöse und moralische Botschaft der biblischen
Propheten aber wichtiger als unreflektierte Befolgung der Halacha, des
jüdischen Religionsgesetzes.
Im Jahr 1928 kam die World Union for Progressive Judaism
in Berlin zusammen. Als die Bankierstochter und Sozialarbeiterin Lily
H. Montagu dabei als erste Frau in Deutschland in einem öffentlichen
Gottesdienst predigte, da war das noch eine Sensation. Doch der Funke
sprang über: Es war für viele jüdische Frauen höchste
Zeit, von den Synagogen-Galerien herabzusteigen und aktiv in das Gemeindeleben
und den Gottesdienst ein-zugreifen. Die Hochschule für die Wissenschaft
des Judentums in Berlin zählte mehr und mehr weibliche Studenten,
und 1930 er-schien dort die Abschlussarbeit von Regina Jonas: "Kann
die Frau das rabbinische Amt bekleiden?" 1935 erhielt Regina Jonas
nach zähem Ringen um Anerkennung ihre eigene Ordinationsurkunde:
als erste Rabbinerin weltweit. Inzwischen ist die Frauenordination im
liberalen Judentum gang und gäbe, und auch das Abraham-Geiger-Kolleg
an der Universität Potsdam, das erste Rabbinerseminar in Deutschland
nach der Schoah, nimmt selbstverständlich Studentinnen auf.
Wie gesagt, "liberal" meint keineswegs "lax"
oder "indifferent". Die Symbolfigur des deutschen Judentums,
Rabbiner Dr. Leo Baeck (1873-1956), befand dazu treffend: "Den Orthodoxen
macht der Schulchan Aruch, das religionsgesetzliche Kompendium, vieles
leichter und nur scheinbar schwerer: Der Orthodoxe hat darin die fertige
Antwort, er hat die fertige Entscheidung, er weiß in jeder Stunde,
was er tun soll. Liberal zu sein ist so viel schwerer." Und dem leisen
Vorwurf von Paul Spiegel, das liberale Judentum hätte zu viele Anleihen
bei den Kirchen gemacht, kann man mit dem Talmud entgegnen, dass jeder
würdige Brauch, wo immer er auch zu finden ist, von Juden übernommen
werden darf (Berachot 28b). Dazu gehört auch das Orgelspiel, dass
die Andacht und religiöse Einkehr ja fördert.
Vieles bleibt in "Was ist koscher?" offen, etwa die Frage nach
der Existenzberechtigung des Zentralrats oder der Einheitsgemeinde, einem
aus dem Parochialzwang des 19. Jahrhunderts entstandenem Modell, in dem
alle religiösen Richtungen neben-einander unter einem administrativen
Dach bestehen können. Eine umfassende Gesamtorganisation des deutschen
Judentums hatte es bis zur von den Nationalsozialisten erzwungenen Reichsvereinigung
der Juden in Deutschland ohnehin nicht gegeben, und der Publizist Ernst
Cramer fragte im August 1999 zu Recht, "ob ein Zentralrat in der
bisherigen Form dem modernen, religiös und kulturell vielschichtigen
Judentum, das jetzt auch in Deutschland entsteht, überhaupt noch
gemäß ist" und "ob der Zentralrat gewillt, ja in
der Lage ist, über sein Selbstverständnis überhaupt nachzudenken".
Erst die Nichtanerkennung liberalen jüdischen Lebens in den deutschen
Einheitsgemeinden hat zur Herausbildung einer eigenen Infrastruktur geführt:
im Einklang mit dem Grundrecht der freien Religionsausübung in unserem
Land und mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Februar
2002, das die staatliche Fürsorge für das liberale Judentum
bejaht. Der Zentralrat hat es in der Hand, das Prinzip der Einheitsgemeinde
zu bewahren, indem liberale Juden und Jüdinnen gleichen Anteil am
religiösen Gemeindeleben erhalten. Gerade mit Blick auf den vor genau
einem Jahr abgeschlossenen Staatsvertrag ist hier zu Lande noch längst
nicht alles koscher: Paul Spiegels Umsetzung des Appells von Bundesinnenminister
Schily vom Juli 2003, dass "der Zentralrat der Juden in Deutschland
die gesamte jüdische Gemeinschaft in Deutschland in die Praxis dieses
Vertrages mit einbezieht", steht noch immer aus.
Hartmut G. Bomhoff ist Redakteur der Zeitschrift "Keschet
- Informationen über liberales Judentum im deutschsprachigen Raum",
die vom Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin herausgegeben wird.
Publik-Forum 3/2004
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