Einer für alle
Der Zentralrat der Juden in Deutschland
von Paul Spiegel
"Der Zentralrat muß auf die Progressiven zugehen."
"Liberale Juden sollen am Staatsvertrag beteiligt werden." "Alleinvertretungsanspruch
in Frage gestellt." So und ähnlich titelten die Medien nach
dem Treffen zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bundesregierung.
Das klang gut, hatte aber einen Haken - mit den Gesprächsergebnissen
hatten diese Schlagzeilen nichts zu tun. Tatsächlich hat der Bundeskanzler
den Alleinvertretungsanspruch des Zentralrats auf der Basis des geschlossenen
Staatsvertrages bekräftigt. Auch über die Geschäftsgrundlage
zur finanziellen Unterstützung des Zentralrats bei der Erfüllung
seiner überregionalen Aufgaben und Sicherung seiner Verwaltung herrscht
nach wie vor Einvernehmen. Schließlich hat der Bundeskanzler die
angekündigte Fortsetzung der Gespräche zwischen Zentralrat und
Union Progressiver Juden zur konstruktiven Lösung der Probleme begrüßt.
Eine Rolle als Schiedsrichter und eine damit verbundene Einmischung in
die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaft hat Gerhard Schröder
hingegen konsequent abgelehnt.
Eigentlich sollten alle mit diesem Ergebnis zufrieden
sein. Doch was erleben wir statt dessen in der Öffentlichkeit? Die
Vertreter des Zentralrats und die Mitglieder seiner Gemeinden werden weiterhin
in Teilen der Medien als fanatische Orthodoxe unter Leitung von Rabbinerin
Gesa Ederberg Orthodoxe dargestellt. Hingegen werden die wenigen, nicht
im Zentralrat organisierten Mitglieder der Union als vermeintlich diskriminierte
und ausgegrenzte Opfer gezeichnet, weswegen öffentlich Anklage gegen
den Zentralrat erhoben wird. Und noch bevor sachliche Argumente angehört
werden, steht schon das Urteil fest. Daher ist es kein Wunder, wenn die
gegenwärtige öffentliche Debatte an den Tatsachen vorbeigeht.
Fakt ist: Die größte Gemeinde in der Bundesrepublik,
die Jüdische Gemeinde zu Berlin, ist nicht nur Mitglied des Zentralrats,
sondern auch der World Union for Progressive Judaism. In einer Studie
eben dieser Gemeinde aus dem Jahre 2002 bezeichnen sich 8 Prozent der
befragten Mitglieder als orthodox. 21 Prozent gehören zu keiner Richtung
und 12 Prozent sind Atheisten. Schließlich stehen 59 Prozent dem
liberal-progressiven beziehungsweise konservativen Judentum nahe. Also
wahrlich keine Gemeinde orthodoxer Betonköpfe. Und die Berliner Gemeinde
ist kein Einzelfall! Die Ergebnisse dieser Studie kann man getrost als
repräsentativ für die Mitgliedsgemeinden des Zentralrats ansehen.
Nicht nur das. Zwei Zentralratsgemeinden, die in Oldenburg
und Weiden, haben sich sogar für Frauen als Rabbiner entschieden,
und die Landesrabbiner von Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern verstehen
sich nachweislich als liberal-progressive Rabbiner. Wer angesichts dieser
Tatsachen die Union Progressiver Juden in Deutschland e.V. zum Gralshüter
des liberal- progressiven Judentums ernennt, will nicht zur Kenntnis nehmen,
daß liberales Judentum schon längst unter dem Dach des Zentralrats
existiert.
Fakt ist ebenso, daß der Zentralrat keine religiöse
Definitionshoheit über seine Mitglieder hat. Die Gemeinden entscheiden
unabhängig und selbstbestimmt, welchen Rabbiner sie wollen und damit
auch, welche religiöse Ausrichtung.
Eine letzte Tatsache: Würde der Zentralrat heute
die Interessenvertretung der liberal-progressiven Juden auf Bundesebene
direkt aus staatlichen Mitteln fördern, würde dies keine finanzielle
Verbesserung für deren Mitgliedsgemeinden zur Folge haben. Schließlich
wäre die Union - ebenso wie der Zentralrat es auch ist - an die Kultushoheit
der Länder gebunden. So wie der Zentralrat keine Mittel aus dem Staatsvertrag
an seine Mitglieder verteilen darf, wäre dies auch der Union untersagt.
Die Finanzierung der örtlichen Jüdischen Gemeinden ist vielmehr
Sache der einzelnen Bundesländer. Dies wissen sowohl die Vertreter
der Union Progressiver Juden e.V. wie auch die Mitglieder des Deutschen
Bundestages. Trotzdem werden einige nicht müde, das Gegenteil dessen
zu fordern, was als Geschäftsgrundlage des Staatsvertrages hinreichend
bekannt war.
Nur, Tatsache ist auch: Dadurch, daß man eine Forderung
immer wieder erhebt, wird sie nicht richtiger.
Jüdische Allgemeine, 29.4.2004
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