Sollten Jüdinnen auch in der religiösen Praxis gleichgestellt sein?

Pro
von Rabbinerin Elisa Klapheck

Der Anblick von Frauen mit Kippa, Tallit und Tefilin ist nur eine Frage der Gewöhnung. Als ich vor zwanzig Jahren die erste Frau mit Tallit sah, war ich schockiert und hielt es für Travestie. Heute, da ich mich selbst in einem Schabbat-Gottesdienst kaum noch ohne Tallit vorstellen kann, kommt es mir merkwürdig archaisch vor, wenn ich in einer orthodoxen Synagoge hinter die Mechiza zu den Frauen gehen muß.

Es ist viel für die Gleichberechtigung der Frau in der jüdischen Tradition getan worden. Jeder Mosaikstein - egal ob liberal oder orthodox - ist wichtig. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das Thema mit all seinen Facetten, also auch der Frau im Tallit auf der Bima, nichts Provokatives mehr hat.

Formal haben Frauen in der deutschen Gesellschaft gleiche Rechte und können ihr Leben mit Familie und/oder Beruf gestalten. Ein Blick auf die Realität der jüdischen Gemeinden zeigt jedoch, daß Frauen selbst in den rein säkular-politischen Positionen - sprich: Gemeindevorsitzende, Dezernentinnen, Zentralratsmitglieder - immer noch äußerst rar gesät sind. In das Berliner Gemeindeparlament mit seinen einundzwanzig Sitzen wurden gerade mal drei Frauen gewählt. Nur eine mehr als 1926, als Frauen erstmals wählen durften. Das allein zeigt schon, daß formale Gleichberechtigung offensichtlich nicht ausreicht.

Männer - ob jüdisch oder nichtjüdisch - haben in jahrtausendelanger Einübung gelernt, sich in Konkurrenzbeziehungen hochzupowern. Ihr Anspruch auf Autorität und Macht sowie die Verhaltensweisen, mit denen sie sich ihre Positionen erobern, sind gesellschaftlich legitimiert. Da macht das Judentum keine Ausnahme.

Noch immer lassen sich Frauen schneller einschüchtern als Männer, weichen Konfrontationen aus, und begnügen sich mit weniger Anerkennung und Wertschätzung (insbesondere in finanzieller Hinsicht). Die Frage ist: Ermuntert die jüdische Religion als eine spirituelle Quelle und geistige Stütze Frauen, denen die traditionelle Frauenrolle als "Priesterin des Hauses" nicht ausreicht, zu Selbstbewußtsein und dauerhafter Ebenbürtigkeit?

Tatsächlich ist Judentum vom Grundgedanken her immer emanzipativ. Judentum ist eine Geisteshaltung, die in jeder Gesellschaftsform ihre Dynamik entfaltet. Die Botschaft ist immer dieselbe: Wir sind im Ebenbild Gottes erschaffen. Jeder Mensch trägt den göttlichen Funken in sich. Die Aufgabe des Lebens besteht darin, sein von Gott gegebenes Potential ernst zu nehmen, zu heiligen und zu leben, dabei mutig und authentisch zu sein und sich von den gesellschaftlichen Hierarchien und Widerständen nicht einschüchtern zu lassen. Damit ist immer auch die Verantwortung des einzelnen für die Gemeinschaft verbunden. Man darf nicht nur sein von Gott gegebenes Potential verwirklichen, man muß es sogar, denn die Präsenz Gottes auf Erden hängt von der Leistung aller ab.

Im antiken Ägypten führte das Judentum zur Befreiung der hebräischen Sklaven. Im davidischen Königreich führte das Judentum zur Selbstbehauptung eines kleinen Staates zwischen den Großmächten Ägypten und Assyrien. Im Exil nach der Zerstörung des Tempels führte das Judentum zu einer selbstbewußten Diaspora-Haltung, mit der jeder Jude, jede Jüdin, trotz gesellschaftlichen Außenseiterstatus nicht nur seine und ihre Würde behielt, sondern auch einen selbstbewußten Kontrapunkt zu den herrschenden Bedingungen setzte.

Heute leben wir in einer (post-)modernen Gesellschaft, die vor allem die Frauen herausfordert. Woher können Frauen Kraft schöpfen, an den inneren Widersprüchen und Gefühlen des Unvermögens nicht zu verzagen? Wer autorisiert sie zu ihrem Anspruch auf gleich viel Macht, Autorität, aber auch Verantwortung wie die Männer? Letztlich nur Gott - die Quelle aller Kraft, aus der wir erschaffen sind, und die die göttlichen Funken in Form von Potentialen und Begabungen in uns gelegt hat.

In den USA haben Rabbinerinnen und jüdische Hochschullehrerinnen längst erkannt, daß die Heiligen Schriften alle notwendigen Hinweise in diese Richtung enthalten. So wie die Rabbinen in Babylonien den Talmud auf ihre Lebensbedingungen hin formulierten, so müssen Frauen, ebenso wie Männer, das Judentum anhand der heutigen gesellschaftlichen Bedingungen fortschreiben. Die formale und äußerliche Gleichberechtigung der Frauen kann jedoch nur ein erster Schritt sein. Ihm muß eine geistige Neubestimmung der emanzipativen jüdischen Dynamik zu mehr tatsächlicher Gleichberechtigung folgen.

Elisa Klapheck ist Journalistin und Rabbinerin in Berlin.

Contra
von Rabbiner Mendel Schtroks

Die feministische Bewegung hat ihre Aufmerksamkeit auch der jüdischen Tradition zugewandt und sich dabei besonders auf unterschiedliche Rollen konzentriert, die Frauen und Männer im jüdischen Leben spielen. Die vorgebrachte Kritik hinterläßt den Eindruck, als gäbe es eine männliche Überlegenheit - begründet in der Einstellung, daß immer das, was Männer tun, besser oder erstrebenswerter sei als das, was Frauen tun. Wenn Männer eine Kippa und einen Tallit tragen, wird das Recht der Frauen auf Kippa und Tallit gefordert. Wenn Männer in der Synagoge vorbeten, so sollten es auch Frauen.

Traditionelles Judentum hat Frauen und Männer immer als gleichwertig gesehen, jede/r mit einer eigenen Rolle im jüdischen Leben. Ihre Gleichwertigkeit verlangt jedoch, daß die einzigartigen Eigenschaften von Frauen und Männern respektiert werden und in der religiösen Praxis zum Ausdruck kommen.

Im Judentum liegt der Fokus auf der Entwicklung einer andauernden Beziehung zwischen Gott und dem jüdischen Individuum, die in der Art, wie wir denken, sprechen und handeln, zum Ausdruck kommen soll, unabhängig davon, worin wir gerade involviert sind - sei es die niedrigste weltliche Aktivität oder höchste spirituelle Erfahrung. Alles, was wir tun, soll Teil dieser besonderen Beziehung sein. Denn Judentum ist keine Religion von Ritualen, sondern die Art, wie wir leben.

So ist es nur natürlich, daß die religiösen Rituale und Verpflichtungen die physische Differenz zwischen Männern und Frauen reflektieren. Während der Mann Tefillin legt, geht die Frau in die Mikwe. Beide Mizwot schaffen ein erhöhtes Bewußtsein für Göttlichkeit. Die Tefillin enthalten Schriftverse über die Wunder, als Gott in Ägypten die bestehenden Naturgesetze änderte, um die Ägypter zu bestrafen und dem jüdischen Volk zur Befreiung zu verhelfen. Die Mikwe repräsentiert das Wasser, das Gott am Beginn der Schöpfung verwendete - jenes Wasser, durch das Gott alles Leben nährt. Die Frau bringt neues Leben in die Welt und sie verwendet die Mikwe. Sie taucht ihren ganzen Körper in den Wassern der Schöpfung unter, sie stellt eine Verbindung zu Gott her, mittels der Elemente, die symbolisch für die Schöpfung sind. Der Mann hingegen beschäftigt sich nur mit der Entwicklung von bereits Existierendem und kommuniziert mit Gott durch die Tefillin, die Gottes Wunder mittels bereits bestehenden Materials reflektieren. Beide - Mann und Frau - kommunizieren mit Gott, aber auf jeweils seine oder ihre Art, im Einklang mit ihrem physischen Wesen und ihren seelischen Stärken und Bedürfnissen.

Doch unsere Gelehrten gehen noch einen Schritt weiter und lehren uns, daß sowohl Mann als auch Frau unvollständig sind, jeweils nur die Hälfte der ultimativen menschlichen Persönlichkeit, wobei jeder Teil eine unterschiedliche Funktion hat. Erst wenn sich beide durch Heirat vereinigen, ist der Jude/die Jüdin ganz, indem dann gemeinsam sowohl die femininen als auch die maskulinen Aspekte des Judentums erfüllt werden können. Die einzigen Mizwot, die das Judentum für den Mann reserviert, Tefillin und Zizit, kann die Frau nur durch ihren Mann erfüllen, genauso wie der Mann die Mizwot von Mikwe und Challa durch seine Frau erfüllt. Daher hat Gott auch Adam und Eva zunächst als eine Person geschaffen - unsere Weisen beschreiben ein sich selbst genügendes androgynes Wesen, männlich und weiblich. Dann teilte G0tt sie in zwei getrennte Wesen, um zu zeigen, daß der natürliche Zustand von Mann und Frau die Ehe ist, bei der beide Elemente eine Einheit bilden.

Wenn man das Judentum auf die Synagoge reduziert, kann man hinterfragen, was denn die Rolle der Frau in diesem spezifischen Rahmen sei. Doch wenn man das gesamte Judentum in seiner täglichen Praxis betrachtet und akzeptiert, weiß man die Rolle, welche die Frau im jüdischen Leben spielt, als nicht weniger signifikant als die des Mannes zu schätzen.

Die feministische Herausforderung der traditionellen Rolle der Frau im Judentum basiert auf dem säkularen nichtjüdischen Wertesystem, wo hauptsächlich ist, wie sichtbar wir sind, wieviel Geld oder Besitz wir haben, wieviel Macht wir ausüben können und wie viele Hochschulabschlüsse wir besitzen. Daher wird verlangt, daß auch im Judentum Frauen Positionen von Sichtbarkeit und Macht einnehmen sollten, wie Tefillin legen oder das Leiten des Gebets in der Synagoge.

Betrachten wir aber das traditionelle jüdische Wertesystem, das Demut und Bescheidenheit hochhält, die Bändigung von Ego und Begierden, das Entwickeln eines höheren spirituellen Bewußtseins und die Erfüllung des Willens Gottes in den Vordergrund stellt - dann ist es selbstverständlich, daß der Wert eines Rituals darin liegt, daß es ein Gebot Gottes ist. Er liegt in der Beziehung zu Gott und im Demut erzeugenden Effekt, den es auf uns hat. Es ist dann auch verständlich, daß die Bedeutung von Mann und Frau nicht auf deren Sichtbarkeit beruhen kann oder auf einer Position in der jüdischen Hierarchie, die damit einhergeht. Unser Selbstverständnis als jüdische Frauen oder Männer ist, daß unsere Rolle im Judentum von G0tt gegeben wurde, ungeachtet verschiedener Rollen, die wir in der Gesellschaft haben mögen.

Mendel Schtroks ist Rabbiner von "Chabad Lubawitsch" in Köln

Jüdische Allgemeine, 18.3.2004

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