Endlich ein Zuhause
Die reformierte Wiener jüdische Gemeinde Or Chadasch mit neuer Rabbinerin und eigener Synagoge

von Gunnar Bach

Bis vor gut anderthalb Jahren kannte ich Wien nur als Touristin", sagt Rabbinerin Irit Shillor. Sie blickt auf ihre bisherige "sehr schöne" Eingewöhnungszeit in der etwa 100 Mitglieder zählenden progressiven jüdischen Reformgemeinde Or Chadasch ("Neues Licht") in Wien zurück. Seit ihrer Einführungsfeier in der neuen Synagoge im 2. Wiener Gemeindebezirk ist sie nun ganz offiziell in Amt und Würden. Die Räumlichkeiten für die neue Synagoge in der Robertgasse 2 - eine ehemalige jüdische Druckerei - hat die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) der Reformgemeinde ohne Miete zur Verfügung gestellt. Bund und Land unterstützten den Umbau mit einem Betrag von je 125 000 Euro. Den Rest haben die Mitglieder der Reformgemeinde Or Chadasch selbst aufgebracht.

Rabbinerin Shillor ist monatlich fünf bis sieben Tage in Wien. Sie hat österreichische Wurzeln. Ihre Mutter musste 1939 im Alter von 14 Jahren vor den Nazis nach Jerusalem emigrieren. Als "fliegende Rabbinerin" versucht Irit Shillor, die von ihr noch zusätzlich betreuten Reformgemeinden in Hannover, Hameln, Bad Pyrmont und Gudensberg bei Kassel unter einen Hut zu bringen. Genauer gesagt unter ihre Kippa, eine Kopfbedeckung, die im orthodoxen Judentum den Männern vorbehalten ist. Ihre Ausbildungzur Rabbinerin hat die Mathematikerin und Physikerin am liberalen Leo-Baeck-College in London abgeschlossen.

Über 13 Jahre ist die Reformgemeinde Or Chadasch inzwischen alt. Für Rabbinerin Shillor befindet sich die 1990 gegründete Wiener Reformgemeinde im "Bar-Mizwa-Jahr". Das heißt, die Gemeinde bereitet sich darauf vor, die "Pflichten eines Erwachsenen" zu übernehmen. Die neue Synagoge soll nicht nur ein Gebetshaus sein und rituellen Zwecken dienen: Eine Bibliothek, ein Lern-, Diskussions- und Aufenthaltsraum - all diese Funktionen soll das Gebäude übernehmen, ein Zentrum für die Gemeinde sein.

Von März 2001 an wurde die Reformgemeinde Or Chadasch für eine Jahr von einer Frau geleitet: Eveline Goodmann-Thau, die erste Rabbinerin Osterreichs, wurde für ein Jahr mit Unterstützung der Stadt Wien in Vollzeit angestellt. Einen ähnlichen Status erhofft sich die Or Chadasch nun für Rabbinerin Shillor, falls sie von der Gemeindearbeit in Deutschland entlastet wird.

Übertritte zum Judentum, Konversionen, werden von der Israelitischen Kultusgemeinde, die als Einheitsgemeinde staatlich anerkannt ist, nicht anerkannt. Deshalb verpflichtete sich Or Chadasch schon 1997 in einem Abkommen mit der Israelitischen Kultusgemeinde, in Wien keine Übertritte oder Scheidungen zu akzeptieren. Auf der Liste zum Kultusrat der Einheitsgemeinde sind bis heute keine Or-Chadasch-Mitglieder vertreten.

Orthodoxe Juden werfen der liberalen Gemeinde vor, Konversionswilligen zu schnellen Zugang zu gewähren. "Es handelt sich nicht um McDonald's-Übertritte", wehrt sich Or-Chadasch-Präsident Theodor Much. Im Übrigen wisse er auch nur von zwei bis drei Fällen, erklärt er gegenüber Publik-Forum. Es fehle in Wien ein "Beth Din", ein Prüfungsausschuss von drei Rabbinern, der eine Aufnahme in die Kultusgemeinde beschließen könnte, ergänzt Or-Chadasch-Sprecherin Eva Huber. "Konflikte gibt es in jeder Gemeinde", sagt Reformer-Präsident Much mit Blick auf das zwar verbesserte, aber noch nicht reibungsfreie Verhältnis zwischen den Reformern und der staatlich anerkannten jüdischen Einheitsgemeinde. Am Anfang habe die Reformgemeinde vor vielen Problemen gestanden: Ohne ständigen Rabbiner habe man sich bis zum Ausbau der Robertgasse 2 zur Synagoge in einem "hässlichen untervermieteten Wohnbau" in der Haidgasse treffen müssen: "Es war eine triste Situation", blickt er auf die Startschwierigkeiten zurück.

Rabbiner Walter Homolka, der Rektor des deutschen reformjüdischen Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam, sieht in der Kooperation einer liberalen jüdischen Gemeinde unter dem Dach einer einheitlichen Israelitischen Kultusgemeinde ein Modell, das Schule machen könnte. Und Ruth Cohen, die Präsidentin der Weltunion für Progressives Judentum, ist froh, dass Or Chadasch mit der ersten österreichischen Reformsynagoge in der Robertgasse 2 endlich ein Zuhause gefunden hat.

Publik-Forum, 9/2004

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