Neuland
Orthodoxe Rabbiner diskutierten erstmals über Homosexualität

von Michael Borgstede

Vielleicht wollte man keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht hatte man vor der eigenen Courage doch ein wenig Angst bekommen. "Herzen einander näher bringen in Zeiten moderner Fragestellungen" stand auf der Tagesordnung der internationalen Konferenz zur Feier der zwanzigsten Jahrestages des Amiel-Institutes. Ein geheimnisvoller Titel der mit nichts darauf hindeutete, daß sich einige Dutzend orthodoxe Rabbiner in Jerusalem erstmalig einem Thema widmeten, das in der orthodoxen Welt bisher weitgehend tabu war: Wie sollen den Traditionen verbundene Geistliche mit offen homosexuellen Gemeindemitgliedern umgehen, die trotz ihrer sexuellen Orientierung am Gemeindeleben teilnehmen wollen?

In seiner Einleitung gab sich Rabbiner Schai Freundlich nachdenklich: "Sollen wir Ihnen raten, zu einem Arzt zu gehen oder sie mit Liebe und Wärme empfangen? Sollen wir das Problem unter den Teppich kehren oder sollen wir versuchen, es zu verstehen und damit angemessen umzugehen?" Die Mehrheit der Rabbiner unterstützte Freundlichs Ansatz. Doch es gab auch andere Meinungen. Sei es nicht möglich, Homosexualität therapeutisch zu "heilen", wollte ein Rabbiner wissen. Nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand wahrscheinlich nicht, entgegnete Rabbiner Weinstein, ein Psychiater. Trotzdem sei und bleibe Homosexualität eine Sünde, warf der Fragesteller ein. Da habe er natürlich recht, antwortete Rabbiner Steve Greenberg aus New York, der erste offen homosexuelle orthodoxe Rabbiner. Doch eben nur eine Sünde unter vielen. Zudem sei die Halacha weniger deutlich als allgemein angenommen werde. Zwar gebe es in der Tora ein eindeutiges Verbot von Geschlechtsverkehr zwischen Männern, andere sexuelle Praktiken würden jedoch nicht angesprochen. Auch blieben lesbische Beziehungen unerwähnt. Die würden nur in späteren Traktaten angesprochen, und auch dort nur am Rande.

Seit Greenberg vor drei Jahren in Sandi DuBowskis Film Trembling Before God mitgewirkt hat, gilt er als Leitfigur der homosexuellen Orthodoxen. In dem Film berichten strenggläubige Juden von ihrer Iso lation, ihrem Selbsthaß und den Versuchen, ihre Veranlagung zu unterdrücken. Laut Greenberg hat der Film auch in orthodoxen Kreisen ein Umdenken eingeleitet. "Natürlich fragen viele Rabbiner sich, ob es gut sein kann, wenn Familien ihre Söhne verstoßen, wenn Studenten vom Tora- Studium ausgeschlossen und als krank bezeichnet werden. Da spielt die klassische Homophobie eine Rolle, denn das jüdische Gesetz rechtfertigt eine solche Reaktion nicht."

Für Rabbiner Weinstein beginnt die Furcht vor Schwulen da, wo Menschen ihren Haß auf Homosexuelle hinter der Erfüllung der Mizwot verstecken. "Es ist natürlich viel einfacher, sich als gesetzestreuen Juden zu sehen, als zu realisieren, daß man ein psychologisches Problem hat." Als die Sitzung sich nach einigen Stunden sachlicher Diskussion ihrem Ende neigte, war deutlich, daß die orthodoxen Rabbiner bei einem sehr schwierigen Thema Zeichen ungekannter Flexibilität gezeigt hatten. Auch wenn, wie Steven Greenberg meint, der Grundkonflikt natürlich nicht aufzulösen sei. "Die Halacha verändert sich nicht", stellte er kategorisch fest. "Nach meinem coming out 1999 sagte ein israelischer Kollege, ein schwuler Rabbiner sei wie einer, der an Jom Kippur Cheeseburger esse. Doch wegen eines Cheeseburgers wurde noch niemand dazu gezwungen, sein Leben ohne Liebe und einen Partner zu verbringen."

Dennoch kennt auch Greenberg Zweifel, ob er den göttlichen Gesetzen nicht zuwiderhandele. "Ich behaupte nicht, daß ich Gottes Wege oder sein endgültiges Urteil kenne. Man lebt sein Leben und vertraut darauf, daß ein liebender und gerechter Gott uns schließlich trotzdem annimmt. Nur ein Idiot wäre nicht auf Überraschungen vorbereitet, wenn er dem Allmächtigen schließlich gegenübersteht."

Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 15.1.2004

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606