Die rabbinischen Persönlichkeiten in der Pessach-Erzählung
von Rabbiner Joel Berger

Hillel (der ältere):
Er gründete das erste bedeutende Lehrhaus im Heiligen Land. Hillel und sein Widersacher Schammai bestimmten mit ihren Schulen die Toragelehrsamkeit des Volkes am Ende der Periode des Zweiten Tempels (im ersten Jahrhundert n.d.Z.). Er wurde in Babylonien, dem heutigen Irak, geboren. Vierzig Jahre lang stand er an der Spitze des Sanhedrin. Der Talmud (Sukka 20) vergleicht seine Wirksamkeit mit der von Esra und Moses. Nach seiner Alija wollte Hillel im Heiligen Land Tora studieren. Er war sehr arm. Dennoch, so erzählte man, überließ er einen Teil seiner kärglichen Verdienste dem Hauswächter, damit er ihm in das Lehrhaus von Schemaja und Awtaljon Eintritt gewähre. Vor Hillel kannte man jene, auf die Lehre, den Stoff, bezogene, sachliche Diskussion zwischen den Schulen und Meistern nicht. Später, unter Hillel und Schammai, war dies üblich. Hillel war bescheiden und keineswegs eitel. Daher ist er bis heute ein Vorbild für Friedfertigkeit und Humanismus. Unter seinen historisch wichtigen Anordnungen ragt der Prosbol (griechisch: Übergabe) heraus. Dies ermöglichte, die biblischen Gebote des Schmitta-Jahres (Erlaßjahr) in Bezug auf den Geldverleih flexibler, heute würde man sagen marktgerechter, zu gestalten. Ferner ist aus dem Talmud sein Denkspruch bekannt: "Was dir nicht angenehm ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an."

Elieser ben Hyrkanos:
Er war einer der besten Schüler von Rabban Jochanan ben Sakkai, dem Gründer der Akademie von Jawne. Elieser ben Hyrkanos ist deren Nestor geworden. Sein großes Wissen machte ihn zum tiefsinnigen Diskussionspartner von Rabbi Josse Hagalili. Im zweiten Teil der Pirke Awot wird Elieser ben Hyrkanos wie folgt charakterisiert: "(Er ist) wie eine feste Zisterne, die keinen Tropfen (von ihrem Inhalt) verliert!" Rabbi Elieser lebte nach der Zerstörung des Zweiten Heiligtums. Er hatte in seiner Kindheit keine Möglichkeit, ein Torastudium zu absolvieren und wurde erst als Erwachsener mit den jüdischen Wissenschaften konfrontiert. Die traditionellen Quellen berichten, daß er ein Sproß reicher Landwirte war, die zu den "Ame haaretz", zu den Ungebildeten, zählten. Man sagt, daß er weder das Schma Israel, noch das Tischgebet sprechen konnte, was aber auch eine Übertreibung sein könnte. Doch er ging nach Jerusalem und besuchte dort die Lehrhäuser. Rabban Jochanan selbst übernahm einen Teil der Unterweisung des fleißigen Elieser, der bald rasche Fortschritte machte. Nach nur drei Jahren zählte er zu den begabtesten und kenntnisreichsten Schülern des Meisters. So kam es zu seiner Ehe mit Rabban Gamliels Tochter, Ima Schalom.

Sein Lehrmeister Jochanan ben Sakkaj war sein Vorbild. Stets betonte Elieser Ben Hyrkanos, daß er sich selbst bei seinen eigenen Forschungen auf die halachischen Aussagen seines Meisters stütze. Er war eine markante Persönlichkeit. Seine unbeugsame Haltung während der Diskussionen blieb starr. Er bekam sogar mit Rabban Gamliel Streit, weil er dessen zentralisierende Bestrebungen in Bezug auf die Halacha nicht mittragen wollte. Die Folge war, daß die Weisen von Jawne ihn ausgeschlossen haben. Dennoch nennt ihn der Talmud wegen seines großen Wissens "Elieser Hagadol" (der Große). Er zog sich in sein Lehrhaus nach Lod zurück, wo er weiterlehrte. Seine halachische Richtung folgte den Normen des Lehrhauses Schammai. Elieser Ben Hyrkanos bekämpfte die Ausübung von fremden Kulten und Ritualien schonungslos. Er starb im hohen Alter nach der Niederschlagung des Bar-Kochba- Aufstandes.

Rabban Gamliel II.:
Er war ein Nachfahre des bedeutenden Patriarchen Hillel. Sein Vater, Schimon ben Gamliel, wurde im Jüdischen Krieg (um 70 n.d.Z.) ermordet. Er verkörperte eine große Autorität und setzte sich mit viel Mut und Todesverachtung ein, um die Lehre der Tora und die jüdische Lebensform zu erhalten. Mit anderen Gelehrten war Rabban Gamliel öfters in Rom, um gegen die Eigenmächtigkeiten der römischen Statthalter zu protestieren. Die talmudischen Quellen bewahrten zahlreiche seiner Dialoge mit den römischen Kaisern auf. Er war schon mehr als vierzig Jahre alt, als ihm die römischen Gewaltherrscher, die das Heilige Land besetzt hatten, erlaubten, den Sitz des Nassi einzunehmen, den bereits seine Vorfahren innehatten. Er war ein vermögender Mann, war sehr gastfreundlich, führte ein großes Haus und blieb dennoch bescheiden. Es ist überliefert, daß man im Hause des Nassi fremde Sprachen, vornehmlich Griechisch, lernte und den jüngeren Mitgliedern der Familie Einblicke in die griechische Kultur erlaubte, um mit den Besatzern leichter kommunizieren zu können. Rabban Gamliel kannte sich auch in der Astrologie aus. Dies war erforderlich, um die genaue Zeit von Rosch Chodesch, des Monatsbeginns, wie auch die Feiertage berechnen zu können.

Er führte eine autoritäre Herrschaft, um die "Einheitlichkeit der Halacha" im Geiste der toleranten und liberalen Einstellung Hillels zu sichern. In der Liturgie führte er im Schmone Essre (Achtzehngebet) die Benediktion gegen die "Verleumder" und Häretiker ein (jene, die der römischen Besatzungsmacht ihre Brüder auslieferten). Es muß unbedingt gesagt werden, daß diese Bracha sich nicht ausschließlich gegen Christen richtet.

Rabbi Elasar ben Azarja:
Er stammte aus einer vermögenden Familie, war ein bedeutender Gelehrte und Interimspräsident des Sanhedrin. Seine Familie führte ihr "Jichus", ihre noble Abstammung, bis auf den biblischen Esra zurück. Sie flüchtete vor der Zerstörung Jerusalems in den Galil, wo der junge Elasar ein Schüler von Rabbi Josse Hagalili wurde. Später schloß er sich der Schule in Jawne an. Als die Rabbinen gegen Rabban Gamliel "putschten", wurde er an seine Stelle als Nassi gewählt. Er war damals erst achtzehn Jahre alt. Bevor er die Ernennung annahm, kündigte er an, daß er sich zuerst mit seiner Frau beraten wolle. Diese hat ihm davon abgeraten, weil er zu jung sei und noch nicht einmal graue Haare habe. Daraufhin, so berichtet der Talmud, ergrauten diese über Nacht. In vielen talmudischen Gesetzeserörterungen war er ein Gegner Rabbi Akibas. Er kritisierte die Logik seiner Exegese. Rabbi Elasar meinte, "die Tora spricht die Sprache des Menschen", daher müßten nicht aus jedem Zeichen oder Wort weitreichende Konsequenzen abgeleitet werden. Man erzählte, daß er in seinem Hause in Zippori mehrere geflüchtete Gelehrte versteckt hielt, die vor dem Terror der Römer fliehen mußten. Er starb zu Beginn des Bar-Kochba Aufstandes.

Rabbi Joschua ben Chananja:
Eine der interessantesten Persönlichkeiten der Akademie von Jawne. In seiner Jugend sang er noch im Tempelchor der Leviten in Jerusalem. Nach Aussage eines späteren Kollegen, Rabbi Dossa ben Hyrkanos, führte ihn seine Mutter, als er noch in der Wiege lag, ins Lehrhaus, damit das Kind sich an die Töne des Studiums gewöhnen möge. Auch er war Schüler von Rabban Jochanan ben Sakkai. Mit seinem Freund Elieser ben Hyrkanos schmuggelten sie ihren Meister aus dem belagerten Jerusalem, um von Vespasian die Stadt Jawne als Ort des Torastudiums zu erbitten. Er gehörte zu den bettelarmen Gelehrten. Von Beruf war er Schmied, stellte Nägel her und mußte sie selber verkaufen. Dennoch war er eine Weile "Aw bet Din" (Gerichtspräsident). Von seiner Natur her war er tolerant und stets mäßigend, ein Gegner jeglicher Extremisten. Er galt als allgemein gebildet, pflegte mit den Römern Kontakte, um Gewalttaten zu verhindern. Viele seiner Dialoge mit den Herrschenden von Rom sind im Talmud bewahrt.

Rabbi Josse Hagalili:
Er war ein jüngerer Zeitgenosse von Rabbi Akiba, Rabbi Tarfon und Rabbi Meir. Etwa fünfundzwanzig Mal wird er in der Mischna, dem Grundtext des Talmuds, erwähnt. Dennoch wissen wir wenig über sein Leben. In mehreren Gesetzesdiskussionen debattierte er mit Rabbi Akiba und blieb häufig erfolgreich. Spätere Geschlechter bewahrten sein Andenken als "Zaddik" (gerechter Meister).

Rabbi Tarfon:
Er war ein Kohen, Angehöriger der zweiten Generation der Akademie von Jawne. Er hatte noch den Tempel gesehen. Er war wohlhabend und wohltätig. Seiner Meinung nach ist die Tat, die Wohltätigkeit, sogar wichtiger als das Studium. Besonders hoch schätzte er die Arbeit. In Pirke Awot (2,21) wird er zitiert: "… es obliegt dir nicht, die Arbeit zu vollenden, jedoch bist du auch nicht frei, dich ihr zu entziehen." Und im Midrasch sagte er: "Gottes Herrlichkeit ruhte so lange nicht auf den Kindern Israels, bis sie die Arbeit am Mischkan (Wüstenheiligtum) vollendet haben".

Rabbi Akiba:
Akiba ben Jossef lebte im ersten Jahrhundert. Sein Vater Jossef hatte den Glauben der Israeliten angenommen. Akiba wuchs als einfacher Hirte auf. Man sagt, daß er als Vierzigjähriger noch nicht richtig lesen konnte. Er stand im Dienste eines sehr wohlhabenden Mannes. Dieser hatte eine sehr schöne Tochter, Rachel. Akiba und Rachel gewannen einander bald lieb und heirateten, gegen den Willen des Vaters. Die junge Frau verpflichtete ihren Mann, seine Bildungsrückstände aufzuarbeiten. Die harte Arbeit beider ermöglichte, daß Akiba bald im Lehrhaus von berühmten Meistern lernen konnte. Man sagt, daß Akiba über ein Jahrzehnt lang seine Zeit größtenteils dem Studium widmete. Als er endlich heimkehrte, folgten ihm Tausende von Schülern, die nun von ihm lernen wollten. Sein Ruf als scharfsinniger Gelehrter der Mischna, des Grundstoffes des Talmuds, eilte ihm voraus. Er galt als einer der weisen Lehrer, Schriftexegeten und Gesetzeskundler der Israeliten. Sein Wissen umfaßte, außer dem Talmud, viele Gebiete des damaligen Lebens, wie Heilkunde, Naturwissenschaften und auch Astronomie. Er sprach mehrere Sprachen. Daher durfte er den Nassi Gamliel nach Rom begleiten, um dort als Fürsprecher der jüdischen Gemeinschaft aufzutreten. Gamliel und Akiba unternahmen den Versuch, die Unterdrückung der Israeliten zu lindern. Rabbi Akiba war zu Beginn des zweiten Jahrhunderts ein Initiator und geistiger Mentor des Bar-Kochba-Aufstandes. Diese letzte große Revolte wollte noch einmal den Existenzkampf gegen die brutalen, erbarmungslosen römischen Unterdrücker aufnehmen. Akiba erkannte mit vielen anderen, daß Rom und seine Kaiser ihre Macht imperialistisch und rücksichtslos ausübten und für die jüdische Lebensform und Lehre keinen Raum ließen. Der Aufstand war zu Beginn sehr erfolgreich. Ein weiter Teil des Landes konnte von den Römern befreit werden. Letzen Endes gelang es den Römern aber, den Aufstand brutal niederzuringen. Die Vergeltung war besonders hart. Eine Tradition berichtet, daß mehr als zwanzigtausend Schüler von Rabbi Akiba in den Kämpfen getötet wurden. Nach Niederschlagung des Aufstandes war es bei Todesstrafe verboten, den Schabbat zu halten und die Tora zu studieren. Rabbi Akiba fügte sich nicht. Er sammelte auch weiter Schüler, um sie zu unterweisen. Der Talmud (Brachot 61b) berichtet, daß Pappos damals fragte: "Akiba, fürchtest Du Dich nicht? Du weißt, was dich erwartet, wenn die Römer Dich erwischen?" Akiba antwortete: "Die Tora und ihr Studium ist unser Lebenselixier! Wenn schon das Studium eine Gefahr bedeutet, um so mehr, wenn wir uns von ihr entfernen würden!" Wenig später wurde Akiba verhaftet, verurteilt und zum Scheiterhaufen geführt. Die Römer quälten und marterten seinen Körper, jedoch er bekannte sich zu Gott. Seine Schüler, die ihn in seiner letzten Stunde nicht allein ließen, standen um den Meister und fragten: "Dahin soll unser Weg führen?" Der Meister antwortete: "Ein Leben lang wollte ich die Worte unseres Glaubensbekenntnisses erfüllen! ('Mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele sollst du deinen Gott lieben') - also auch dann noch, wenn Er meine Seele zu sich nimmt! Ich fragte mich: Wann bietet sich mir die Gelegenheit, dies zu tun? Und jetzt, wo es mir möglich wird, diese grenzenlose Liebe zu erfüllen, soll ich es nicht tun?" Er sprach den Schluß des Glaubensbekenntnisses: "Unser Gott ist einzig - 'echad'." Bei diesem Wort hauchte er seine Seele aus. Bis zum heutigen Tag, wenn wir das Wort "Echad" während des Schma-Gebetes sprechen, verdecken wir die Augen - im Gedenken an Rabbi Akiba, um dessen Augen es bei diesem Wort dunkel wurde. Wir gedenken Rabbi Akiba und seiner "jüdischen Passion".

Jüdische Allgemeine, 1.April 2004

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