"Nicht kampflos in die Gaskammer gehen"
Der Aufstand der Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
am 16. Mai 1944 und seine Vorgeschichte
von Romani Rose
Am Sonntag, dem 16. Mai, wurde bei einer Gedenkveranstaltung
im Auswärtigen Amt in Berlin an den 60. Jahrestag des Aufstands der
Sinti und Roma im KZ Auschwitz erinnert. Romani Rose zeichnet die Geschichte
dieses Widerstands gegen die Vernichtung nach und mahnt die rasche Errichtung
des Holocaust-Denkmals für seine Volksgruppe an.
Der Name Auschwitz, Synonym der industriellen Menschenvernichtung,
ist zum Symbol geworden auch für den Völkermord an unserer Minderheit
im nationalsozialistisch besetzten Europa. Die familienweise Deportation
tausender Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und den okkupierten Ländern
in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau war die letzte Phase eines
Prozesses der Entrechtung und Entmenschlichung, der mit der Machtübernahme
der Nationalsozialisten eingesetzt hatte. Der mit der "Rasse"
begründete Ausschluss der Sinti und Roma aus dem öffentlichen
Leben, ihre systematische Ausgrenzung und Gettoisierung, schließlich
die in Berlin zentral organisierte Deportation unserer Menschen und ihre
fabrikmäßige Ermordung - all dies steht für ein Verbrechen,
das sich bis heute allen Vergleichen entzieht.
Der Aufstand der Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau
am 16. Mai 1944, als die KZ-Kommandantur versuchte, die zu diesem Zeitpunkt
noch lebenden Angehörigen unserer Minderheit in den Gaskammern zu
ermorden, nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. Im Gedächtnis
der Überlebenden symbolisiert dieser Tag bis heute den Widerstand
gegen eine übermächtige Vernichtungsmaschinerie. Zugleich steht
dieses Datum stellvertretend für die vielfältigen anderen Formen
des Widerstands von Sinti und Roma gegen die nationalsozialistische Barbarei.
Um die Ereignisse und die Bedeutung dieses Tages in den historischen Kontext
einordnen zu können, ist es notwendig, sich noch einmal die wichtigsten
Stationen der Verfolgungsgeschichte unserer Minderheit im "Dritten
Reich" vor Augen zu führen.
Grundlage der nationalsozialistischen "Rassenpolitik" war nicht
allein ein mörderischer Antisemitismus, sondern der moderne Rassismus
insgesamt, der auch das biologisch begründete Feindbild des "Zigeuners"
einschloss. Im Zuge der Nürnberger Gesetzgebung ebenso wie die Juden
als "fremdrassig" bzw. "fremdblütig" definiert,
wurden Sinti und Roma systematisch entrechtet und aus allen Bereichen
des öffentlichen Lebens ausgegrenzt.
Erste Opfer der Massentötungen
Schon vor dem Krieg waren hunderte Sinti und Roma in Konzentrationslagern
inhaftiert worden, wo sie wie ihre jüdischen Leidensgenossen einem
grenzenlosen Terror ausgeliefert waren. Im Mai 1940 fuhren auf Befehl
Himmlers die ersten Deportationszüge mit Sinti- und Roma-Familien
in das besetzte Polen. Für die meisten der verschleppten Männer,
Frauen und Kinder war es eine Fahrt in den Tod: Sie erlagen in Zwangsarbeitslagern
und Ghettos den unmenschlichen Lebensbedingungen oder wurden von Exekutionskommandos
erschossen. Sinti und Roma gehörten zu den ersten Opfern der fabrikmäßigen
Massentötungen in den neu errichteten Vernichtungslagern. Wenige
Wochen nachdem die systematischen Deportationen der Juden aus dem Reichsgebiet
begonnen hatten, ließ Eichmann im November 1941 etwa 5000 Sinti
und Roma aus Österreich in das Ghetto Lodz deportieren. Im Januar
1942 brachte man diejenigen, die bis dahin überlebt hatten, in das
Vernichtungslager Chelmno und erstickte die Menschen in Gaswagen.
Auf der Grundlage von Himmlers Deportationsbefehl vom
16. Dezember 1942 wurden schließlich ab Februar 1943 etwa 23 000
Sinti und Roma aus elf Ländern Europas - darunter rund 10 000 deutsche
Sinti und Roma aus dem damaligen Reichsgebiet - in das Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau verschleppt. Zu diesem Zeitpunkt war die systematische
Ermordung unserer Minderheit bereits im vollen Gang. Dies belegen die
Massenerschießungen von Sinti und Roma im besetzten Polen, in Serbien
oder in der besetzten Sowjetunion, wo seit Herbst 1941 im Rücken
der Front die SS-"Einsatzgruppen" wüteten.
Für fast alle in Auschwitz-Birkenau inhaftierten
Sinti und Roma - die Hälfte waren Kinder und Jugendliche - war es
die letzte Station einer Leidensgeschichte, die mit der Machtübernahme
der Nationalsozialisten begonnen hatte. Bis Ende 1943 war bereits der
größte Teil der im dortigen Lagerabschnitt B II e inhaftierten
Menschen auf Grund des Terrors und der unmenschlichen Lebensbedingungen
umgekommen oder in den Gaskammern erstickt worden. Misshandlungen und
Folter, schwerste Zwangsarbeit bei völlig unzureichender Ernährung
und katastrophale hygienische Bedingungen bestimmten den Lageralltag.
Die Häftlinge mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Familienangehörigen
erschlagen oder erschossen wurden, wie sie verhungerten oder den zwangsläufig
auftretenden Krankheiten wie Flecktyphus erlagen.
Im Mai 1944 waren von den 23 000 Sinti und Roma nur noch
etwa 6000 Menschen am Leben. Das "Reichssicherheitshauptamt"
gab der KZ-Kommandantur den Befehl, diesen Lagerabschnitt am 16. Mai zu
"liquidieren", wie es in der Sprache der SS hieß. Dies
bedeutete die gewaltsame Räumung der Blocks und die Ermordung aller
Insassen in den Gaskammern. Der polnische Häftling Tadeusz Joachimowski,
ein politischer Gefangener und so genannter "Lagerschreiber",
der auf Grund seiner Funktion Einblick in die internen Lagervorgänge
hatte, schilderte nach 1945, wie er von einem SS-Mann am Abend des 15.
Mai von der für den Folgetag geplanten Vergasungsaktion erfuhr. In
seinem Bericht heißt es, er habe daraufhin seine "Vertrauenspersonen
Josef Steinbach, einen Mithäftling und Boten der Schreibstube, sowie
Paul Wagner, Blockältester im Lagerabschnitt für die Sinti und
Roma, in Kenntnis gesetzt, damit sie eine Verteidigung in der ihnen möglichen
Weise vorbereiten konnten".
Unter den Sinti und Roma im Lager befanden sich auch zahlreiche
ehemalige Wehrmachtssoldaten, die noch Ende 1943 direkt von der Front
nach Auschwitz deportiert worden waren. Unsere Menschen fassten den Beschluss,
sich nicht widerstandslos der SS auszuliefern, sondern bis zuletzt um
ihr Leben und das ihrer Angehörigen zu kämpfen. Einer der am
Aufstand Beteiligten, Willi Ernst, erinnert sich: "Unser Blockältester
hat uns im Mai 1944 gewarnt, dass wir vergast werden sollten. Daraufhin
haben sich alle, so gut es irgend ging, bewaffnet. Ich selbst besaß
ein Messer, andere hatten Werkzeuge, Knüppel. Wir wollten nicht kampflos
in die Gaskammer gehen."
Wie Joachimowski und andere Augenzeugen berichten, wurde
am Abend des 16. Mai um 19.00 Uhr durch die SS eine so genannte Blocksperre
im Lagerabschnitt B II e verhängt; die Häftlinge durften die
Baracken nun nicht mehr verlassen. Die Blocks wurden von 50 bis 60 SS-Männern
umstellt, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren. Dann gab der leitende
SS-Offizier den Befehl, die Häftlinge sollten aus den Baracken heraustreten.
Wie bei anderen Vernichtungsaktionen, wollte die SS die Sinti und Roma
auf Lastwagen aufladen und zum Krematorium bringen. Doch die Menschen
in den Blocks reagierten nicht auf den Räumungsbefehl. Mit Werkzeugen
wie Spaten, Äxten, Brecheisen und anderen improvisierten Waffen,
die sie zuvor heimlich ins Lager geschafft hatten, blieben sie im Inneren
der Baracken. Ihr Plan war, einige der eindringenden SS-Männer zu
überwältigen und ihnen die Maschinengewehre zu entreißen.
Der Entschluss zum Widerstand
Tadeuz Joachimowski schildert, dass angesichts der Weigerung der Häftlinge,
ihre Unterkünfte zu verlassen, große Unsicherheit unter der
SS herrschte. In seiner protokollierten Aussage heißt es weiter:
"Nach einer kurzen Besprechung begaben sich die SS-Männer auf
die Blockführerstube zum Leiter der Aktion. Nach einiger Zeit hörte
ich die Trillerpfeife. Die SS-Männer, die die Baracken umzingelten,
stiegen wieder auf ihre Fahrzeuge und fuhren davon. Die Lagersperre wurde
aufgehoben."
Den Angehörigen unserer Minderheit war es gelungen,
den Versuch der "Liquidierung" ihres Lagerabschnitts zu verhindern.
Den sicheren Tod in den Gaskammern vor Augen, hatten sie den Entschluss
zum Widerstand gefasst. Die SS musste befürchten, dass der Funke
des Widerstands zu diesem Zeitpunkt auch auf die anderen Lagerabschnitte
überspringen könnte. Die mit dieser unerwarteten Situation konfrontierten
SS-Männer wussten auch, dass sich unter den Sinti- und Roma-Häftlingen
zahlreiche ehemalige Soldaten mit militärischer Ausbildung befanden
und mussten daher Verluste in den eigenen Reihen befürchten.
Unmittelbar nach diesem Ereignis begann die Lagerleitung,
die wichtigsten Träger der Widerstands, die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen
mit ihren Familienangehörigen, zu selektieren. Gemeinsam mit anderen
von der SS als "arbeitsfähig" eingestuften Sinti und Roma
wurden sie in Konzentrationslager im Reich wie Buchenwald und Ravensbrück
transportiert, um sie, wie es hieß, durch Arbeit zu vernichten.
Zurück blieben etwa 2900 Sinti und Roma, vor allem
alte und kranke Menschen, Mütter und Kinder. Sie alle wurden bei
der endgültigen Vernichtungsaktion in der Nacht vom 2. auf den 3.
August 1944 in die Gaskammern getrieben. Obgleich diesmal jeder Widerstand
aussichtslos war, widersetzten sie sich nach Augenzeugenberichten bis
zuletzt ihren Mördern.
Der vom NS-Staat systematisch ins Werk gesetzte Völkermord
an unserer Minderheit, dem europaweit 500 000 Menschen zum Opfer fielen,
wurde nach 1945 jahrzehntelang aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein
verdrängt, und damit wurde auch der Aufstand der Sinti und Roma in
Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944 aus dem öffentlichen Gedenken
ausgeschlossen. Am 60. Jahrestag dieses historischen Datums hat (am Sonntag,
d.Red.) im Weltsaal des Auswärtigen Amtes in Berlin eine Gedenkveranstaltung
stattgefunden (. . .). Damit richtet sich die öffentlichen Aufmerksamkeit
zum ersten Mal nicht nur auf ein in der Verfolgungsgeschichte unserer
Minderheit beispielloses Ereignis, sondern auf den Widerstand von Sinti
und Roma gegen den Nationalsozialismus insgesamt.
Dieser Widerstand umfasste ein breites Spektrum: Er reichte
vom Protest gegen Entrechtung und Ausgrenzung oder gegen die Verschleppung
von Angehörigen bis zur Flucht aus den Konzentrationslagern. Als
Teil der Befreiungsbewegungen im nationalsozialistisch besetzten Europa
leisteten Sinti und Roma auch vielerorts bewaffneten Widerstand wie zum
Beispiel innerhalb der französischen Résistance (. . .). Im
ehemaligen Jugoslawien schlossen sich viele Angehörige unserer Minderheit
der "Nationalen Befreiungsfront" unter Tito an. (. . .) In Polen
und in der Sowjetunion waren Sinti und Roma ebenso am Widerstand gegen
die deutsche Besatzung und ihre Ausrottungspolitik beteiligt. (. . .)
In der Geschichte des Widerstands unserer Minderheit gegen den Nationalsozialismus
hat der Aufstand in Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944 einen besonderen
Stellenwert. (. . .)
Bereits mit dem Eintritt in das Konzentrationslager wurde
der Häftling zur bloßen Nummer degradiert, die man ihm auf
die Haut eintätowierte. Er wurde all dessen beraubt, was Personalität
und menschliche Autonomie ausmacht. An diesem Ort grenzenloser Willkür
und - aus der Sicht der Opfer - der totalen Ohnmacht ist jeder Versuch,
sich der aufgezwungenen Entmenschlichung entgegenzustellen, als ein Akt
des Widerstands zu betrachten. Dass es in dieser Hölle dennoch Solidarität
und Standhaftigkeit gegeben hat, verdient unsere höchste Anerkennung.
Erst vor diesem Hintergrund wird begreiflich, welchen ungeheueren Mut
unsere Menschen am 16. Mai 1944 in Auschwitz bewiesen haben.
Mut in auswegloser Situation
Indem wir an diesen Tag erinnern, wollen wir das Bewusstsein dafür
schärfen, dass Sinti und Roma nicht nur Opfer waren. Ihr Widerstand
richtete sich gegen ein Regime, das zur vollständigen Vernichtung
unserer Minderheit vom Säugling bis zum Greis entschlossen war. Zur
Geschichte des Holocaust gehört auch der Mut derer, die selbst in
ausweglosen Situationen ihren Mördern getrotzt haben. Diesem existenziellen
Ringen um Selbstbehauptung gebührt unser Respekt und ein Platz in
unserem historischen Gedächtnis.
Zugleich ist dieser Gedenktag für uns Anlass zu fordern,
dass die Errichtung des geplanten Holocaust-Denkmals für die im nationalsozialistisch
besetzten Europa ermordeten Sinti und Roma auf dem Standort zwischen dem
Reichstag und Brandenburger Tor nicht weiter verzögert wird. Das
bekannte Zitat des früheren Bundespräsidenten Herzog muss die
Inschrift auf dem Denkmal werden. In seiner historisch wichtigen Rede
sagte er am 16. März 1997 über die Bedeutung des Holocaust:
"Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv
des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur
planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt
worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der
Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum
Greis ermordet."
Der vorherige Staatsminister Prof. Nida-Rümelin traf
am 12. Juli 2002 die Entscheidung für das Herzog-Zitat als Inschrift
des Denkmals. Und noch am 2. Juni 2003 sagte mir die neue Staatsministerin
Dr. Weiss, sie stimme dieser Entscheidung und dem Denkmalskonzept des
aus Israel stammenden Künstlers Dani Karavan zu. Dies darf sie jetzt
nicht revidieren.
Die Bundesregierung muss anerkennen, dass auch im Ausland
Organisationen der Roma und Sinti (. . .) das Herzog-Zitat als Inschrift
fordern. Sie muss anerkennen, dass mehr als 1500 Holocaust-Überlebende
der deutschen Sinti und Roma schon im Jahre 2000 gemeinsam mit über
200 Persönlichkeiten wie Simon Wiesenthal und Paul Spiegel einen
entsprechenden Appell an Bundestagspräsident Thierse unterzeichneten
(. . .)
Das Holocaust-Denkmal für Sinti und Roma in der Mitte
Berlins bewahrt die Erinnerung an ein Verbrechen, das in seinem Ausmaß
unvorstellbar bleibt. Es ist zugleich ein Bekenntnis dieses Staates für
die besondere historische Verantwortung gegenüber unserer Minderheit.
Romani Rose wurde 1946 in Heidelberg geboren. Er war dort
bis 1982 selbstständiger Kaufmann. Seit 1982 ist er Vorsitzender
des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, im Jahr 1991 übernahm er
die Geschäftsführung des Dokumentations- und Kulturzentrums
Deutscher Sinti und Roma. Mit Minderheitenvertretern aus USA, Mexiko,
Argentinien, Japan, Indien, Sri Lanka, Frankreich und Holland ist Romani
Rose Direktoriumsmitglied der 1988 in Tokio gegründeten Internationalen
Bewegung gegen Diskriminierung und Rassismus. Rose ist Autor bzw. Herausgeber
mehrerer Bücher, u. a. Bürgerrechte für Sinti und Roma.
Das Buch zum Rassismus in Deutschland (1987) und "Den Rauch hatten
wir täglich vor Augen". Der nationalsozialistische Völkermord
an den Sinti und Roma (1999). Außerdem verfasste Romani Rose zahlreiche
Aufsätze, darunter auch Beiträge für Veröffentlichungen
der OSZE und des UN-Ausschusses gegen Rassismus.
Frankfurter Rundschau, 17.05.2004
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