Kriegsaufnahmen zeigten präzises Bild
von Auschwitz
Britisches Nationalarchiv veröffentlicht historische Fotos der Royal
Air Force im Internet
von Peter Nonnenmacher
Hätte die Royal Air Force, die britische Luftwaffe,
den Gräueln von Auschwitz vor der Zeit ein Ende bereiten können?
Über detaillierte Luftbilder des Konzentrationslagers verfügte
die britische Seite jedenfalls schon im August 1944 - fünf Monate
und viele Hunderttausend Opfer vor dem Ende des KZ.
Das britische Nationalarchiv veröffentlichte im Januar
im Internet eine spektakuläre Sammlung von fünf Millionen Luftbildern
aus dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts des weltweiten Interesses an der
bislang so gut wie unbekannten Kollektion kollabierte die Website prompt.
Wer freilich noch rechtzeitig Zugang fand, sah sich mit Kriegsfotografien
konfrontiert, die in ihrer Schärfe und historischen Bedeutung ihresgleichen
suchen.
Die Luftaufnahmen, von Fotografen der Royal Air Force
während des Krieges im Schnellverfahren gemacht, dokumentieren unter
anderem die Landungen der Alliierten in der Normandie ("D-Day"),
die Verfolgung und Versenkung des deutschen Kriegsschiffs "Bismarck"
durch alliierte Schiffe, und die Zerstörung Kölns durch alliierte
Bomber. Als Aufklärungsfotos gesammelt und im Eiltempo ausgewertet,
halfen die Aufnahmen den Alliierten während des Krieges, den Feldzug
gegen Hitler-Deutschland zu planen und - wie im Falle der Normandie-Strände
- mit genauen Informationen anzureichern. Nach dem Krieg gerieten die
Fotos in Vergessenheit. 1962 wurden sie ans Nationalarchiv übergeben,
und in Tausenden von Kisten in der Universität von Keele abgelegt.
Wiewohl schon seit Jahren für die Öffentlichkeit
frei gegeben, fand die Mammutsammlung bisher nur geringeres Interesse.
Das Suchen nach einzelnen Bildern war zu zeitraubend, als dass viele Forscher
sich dieser Mühe unterzogen hätten. Erst die Idee des Archiv-Leiters
Allan Williams, die Fotos auf eine spezielle Internet-Seite zu stellen,
und sie der Allgemeinheit so zugänglich zu machen, änderte die
Situation schlagartig.
"Wir sprechen hier immerhin von 33 000 Flugeinsätzen",
meint Williams. "Wir haben manuell 800 000 Kartenverweise eingegeben."
Dass sich die mühsame Eingabe-Arbeit seines Teams gelohnt hat, davon
ist Williams überzeugt. Wenn die Internet-Seite des Archivs erst
einmal den Publikumsandrang der ersten Tage bewältigt habe, werde
man "in Sekundenschnelle" Zugriff auf fünf Millionen unveröffentlichte
Bilder haben - und sich "mitten in den Krieg hinein versetzen können",
"wie in einer Zeitmaschine".
Vor allem die Auschwitz-Fotos, sagt der Projektleiter,
hätten ihn "aufs Äußerste bewegt". Seines Wissen
gebe es "keine anderen Luftaufnahmen von Auschwitz aus dieser Zeit".
In der Tat erlaubt die feine Rasterung der Aufnahmen einen schon fast
unheimlich präzisen Blick auf das Konzentrationslager. Auf manchen
Bildern sieht man aus einem Massengrab am Rande des Lagers weißen
Rauch aufsteigen, auf anderen Häftlinge, aufgereiht zum Appell.
Die Frage, ob solche Bilder nicht zu britischen Aktionen
hätten führen müssen, wehrt Williams ab mit der Vermutung,
dass die Masse der Bilder den mit der Fotoauswertung befassten Soldaten
wenig Zeit zur Begutachtung ziviler Ziele ließ: "Die Leute
waren angehalten, ausschließlich nach militärisch wichtigen
Daten zu suchen."
Die Bedeutung der Auschwitz-Bilder sei den Betreffenden
offenbar entgangen, "weil die Technologie ihre Operateure glatt überrollte",
fand auch der liberale Londoner Guardian - nicht ohne anzufügen,
dass die Befreiung der Insassen der Todescamps "im alliierten Krieg
keinen Vorrang genoss". Immerhin wussten die politischen Führungen
in London und Washington durch die Entschlüsselung deutscher Codes
und durch verlässliche Informanten schon Anfang 1943, lange vor den
Luftaufnahmen, von der systematischen Vernichtung der Juden durch das
Nazi-Regime.
"Unklar" ist indes auch dem Archiv-Leiter Williams,
warum britische Flugzeuge nicht zumindest die Zugverbindungen nach Auschwitz
bombardierten, um die Deportation weiterer Hunderttausender nach Auschwitz
zu verhindern. Schon in der Vergangenheit war in der britischen Öffentlichkeit
diese Frage gelegentlich debattiert worden.
Der Starterfolg des britischen Netz-Archivs hat derweil
dessen Initiatoren zu weiteren, ehrgeizigen Projekten angeregt. Williams
Leute planen, als nächstes 2,5 Millionen Aufnahmen der deutschen
Luftwaffe aus dem Zweiten Weltkrieg zu veröffentlichen, die über
Osteuropa gemacht wurden, und die die Alliierten nach Kriegsende beschlagnahmt
hatten. Später würde man gern die Luftaufnahmen aus diversen
britischen Kriegen - Suez, Korea, Falkland, Golf - ins Netz stellen: In
fünf Jahren sollen übers "Luftaufklärungs-Archiv"
40 Millionen Fotos elektronisch abrufbar sein.
Die fünf Millionen Luftaufnahmen, die die Fotografen
der Royal Air Force machten, sollten den Krieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland
unterstützen. Besondere optische Verfahren wurden angewandt, damit
die Bilder räumliche Eindrücke vermittelten. So lieferten sie
den Militärs präzise Informationen für die Planung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die Fotos in Vergessenheit.
1962 wurden sie dem britischen Nationalarchiv übergeben und in der
Universität von Keele abgelegt. Für die Öffentlichkeit
waren die Bilder schon lange zugänglich, wegen der Lagerung in Tausenden
von Kisten war die Suche nach einzelnen Bildern aber zeitraubend. Nun
sind die Aufnahmen im Internet unter der Adresse "www.evidenceincamera.co.uk"
veröffentlicht.
Frankfurter Rundschau, 22.01.2004
zur Titelseite
zum Seitenanfang
|