Gleichgültig? Unerfahren? Hilflos?
Antisemitismus und neue Medien
David Gall
Problembeschreibung:
· Antisemitismus ist das zentrale Merkmal fundamental-nationalistischer
Weltanschauung und damit Bindemittel unterschiedlichster Bewegungen.
· Antisemitische Propaganda im Internet ist viel gefährlicher,
als die bisher üblichen Propagandamittel
Gegenstrategien:
· Schaffung eines massiven Gegengewichts <http://www.nazis-im-internet.de/aktion-gegen-rechts/hass.htm>
durch aufklärende Inhalte.
· Nutzung der kommunikativen Möglichkeiten <http://www.hagalil.com/archiv/2004/03/dialog.htm>
eines lebendigen Onlinedienstes, denn eine Vorraussetzung für Verständigung
ist Begegnung.
· Es sind keine neuen Gesetze <http://www.nazis-im-internet.de/aktion-gegen-rechts/aktion.htm>
notwendig, die bestehenden müssen nur angewandt werden.
Über antisemitische Hetze in den mittlerweile nicht
mehr ganz so "neuen Medien" wurde im Laufe der letzten 10 Jahre
viel geschrieben, viel diskutiert, viel lamentiert. Viele Gründe
wurden dafür angeführt, weshalb man so wenig gegen diese Flut
der Hetze unternehmen könne. Einige Vorschläge zur Eindämmung
wurden im Rahmen hochkarätig besetzter Konferenzen diskutiert und
verworfen, andere wurden weiter verfolgt und irgendwann ad acta gelegt,
an wieder anderen wird noch immer gefeilt. An die regelmäßigen
Meldungen der Staatsschutzorgane über immer bedrohlichere Zuwachsraten
der sogenannten "Hass-Seiten" und die zunehmende Hemmungslosigkeit
der Hetzer, hat man sich gewöhnt.
Während der sogenannte "Aufstand der Anständigen"
Zivilcourage und zivilgesellschaftliches Engagement fördern wollte,
fanden in der Diskussion um die zunehmende "Volksverhetzung"
nur obrigkeitsstaatliche Maßnahmen Gehör. Beispielsweise sollte
die UNO einen weltweiten Wertekonsens durchsetzen. Ein Vorschlag der vor
dem 11.September vielleicht noch als "gut gemeint" hätte
belächelt werden können, der im Nachhinein aber nur noch ein
erschreckendes Unvermögen die technischen und thematischen Realitäten
wahrzunehmen dokumentiert.
Das Internet ist international. Die Hetze wird in allen
Sprachen weltweit verbreitet. Betrachten wir das Hauptthema der Hetze,
die Juden und den Staat Israel, dann hätte es auch schon vor der
"zweiten Intifada" und dem 11.September klar sein müssen,
dass hier kaum mit einem Konsens zu rechnen sein dürfte. Dieser hätte
ja festlegen und durchsetzen müssen, was über Juden und Israel
gesagt und verbreitet werden dürfte, und dies nicht nur am Bodensee,
sondern auch in Malaysia, in Durban, in Budapest oder Riad.
Diskussionen in diesem Bereich sollten weniger davon ausgehen,
was vielleicht wünschenswert wäre, als vielmehr davon, was überhaupt
machbar ist. Auf weitere "Patentlösungen", wie Filtersoftware,
Positiv- und Negativlisten, Auswahl-CDs, Kontrolle durch Providerfirmen
etc. will ich deshalb nicht wieder eingehen und stattdessen ihre Aufmerksamkeit
nutzen um ihnen ein nachweislich und nachhaltig erfolgreiches Modell vorzustellen.
Ein sehr einfaches und vielfältig nutzbares Modell. Vielleicht gerade
deshalb so erfolgreich, weil es von Anfang an nicht gegen etwas aufgebaut,
sondern für etwas aufgebaut wurde. Um es ganz einfach in einen Satz
zu packen: "Wir haben weniger gegen die Lüge gearbeitet als
vielmehr für die Wahrheit". Wir waren nicht gegen die Einfalt,
sondern haben die Vielfalt mitgestaltet.
Als wir unsere Arbeit begannen, war Jizhak Rabin bereits
ermordet, der Friedensprozess aber noch nicht zusammengebrochen. Die Hamas
sammelte schon Gelder in Europa, von Al-Kaida hatte aber noch niemand
gehört. Horst Mahler schrieb schon alles, was wir heute auch in der
saudischen Presse lesen können. In Brandenburg gab es schon national-befreite
Zonen und in Rostock brannte das Sonnenblumenhaus. Vom WTC konnte man
die halbe Welt sehen und die war damals noch bunter, von Nuancen zu reden
war noch selbstverständlicher.
Klar, für Antisemiten war die Welt schon immer schwarz
und weiß und alle Probleme der Welt haben nur eine einzige Ursache
- die Juden. Die Weltwirtschaft wird vom jüdischen Kapital geknechtet,
der Weltfrieden vom Judenstaat bedroht. Auch wenn es hoffnungslos erscheint,
gegen all diese uralten und abgrundtief dummen Hassparolen vorzugehen
- gewähren lassen kann man die Hetzer nicht.
Um die Gegenmaßnahmen von haGalil gegen die Verbreitung
antisemitischer Hetze verständlich zu machen, möchte ich zunächst
zwei Thesen zur antisemitischen Propaganda im Allgemeinen und in den neuen
Medien im Besonderen vortragen:
Dass antisemitische Stimmungen weit in die sogenannte
Mitte der Gesellschaft hinein reichen, zeigt sich schon seit vielen Jahren,
in der letzten Zeit aber immer deutlicher, als beispielsweise eine österreichische
Regierungspartei beim Wiener Kommunalwahlkampf ganz gezielt auf antisemitische
Stimmungen gesetzt hat, oder als Jürgen Möllemann im Bundestagswahlkampf
2002 mit seinen Flugblättern ähnliches tat. Spätestens
nachdem haGalil onLine Ende 2003 auf die antisemitische Rede des CDU-MdB
Hohmann http://www.hagalil.com/aktuell/archiv/hohmann.htm
hingewiesen hatte, sollte auch der letzte begreifen, dass mittlerweile
auch stundenlange antisemitische Tiraden auf öffentlichen Veranstaltungen
einer demokratischen Volkspartei widerspruchslos hingenommen werden.
Antisemitismus ist das zentrale Merkmal fundamental-nationalistischer
Weltanschauung und damit Bindemittel unterschiedlichster Bewegungen, von
Pamjat in Russland bis zum Ku-Klux-Klan in Amerika, von christlich-arischen
Allianzen und islamistischen Fundamentalisten. Diese Tatsache wird inzwischen
oft genug und deutlich zur Schau gestellt, wenn z.B. Horst Mahler die
Anschläge der Al-Kaida auf das World Trade Center bejubelt. Auf den
Internet-Seiten all dieser Organisationen nimmt der Antisemitismus seit
vielen Jahren eine immer dominantere und immer aggressivere Stellung ein.
Im vergangenen Jahr mussten wir auf die Tatsache, dass
antisemitische Gewalttäter in Komplizenschaft mit der schweigenden
Mehrheit heute - in aller Öffentlichkeit - wieder Existenzen ruinieren
können, am Beispiel eines koscheren Lebensmittelgeschäfts http://www.berlin-judentum.de/news/2003/08/deli.htm
hinweisen. Dass solche Ereignisse ohne die ehrenamtliche Arbeit eines
jüdischen Onlinedienstes gar nicht ins öffentliche Bewusstsein
gelangt wären, macht das ganze Ausmaß von Gleichgültigkeit
und Verdrängung erst recht deutlich. Wie immer im Leben lässt
sich aber auch aus diesen beunruhigenden Tatsachen ein "positiver
Aspekt" folgern: Je zentraler die Bedeutung der antisemitisch-antizionistischen
Konstrukte im ideologischen Fundament einer Bewegung, um so nachhaltiger
ist sie in ihren Grundfesten zu erschüttern, wenn es gelingt, diese
Propaganda als Wahngebilde zu entlarven.
Wie hemmungslos auch die dümmsten Hetzschriften immer
wieder angeboten und auch angenommen werden, zeigt sich ganz besonders
deutlich in den neuen Medien. Seit Mitte der 90er Jahre wird es immer
offensichtlicher, dass antisemitische Propaganda im Internet, viel gefährlicher
ist, als die bisher üblichen Propagandamittel (Zeitungen, Flugblätter
und NPD-Vorträge in irgendwelchen Hinterzimmern). Die Erklärung
dafür ist einfach: Über relevante Stichworte ist es im Internet
möglich, völlig "unbedarfte Leser" zu erreichen, zum
Beispiel einen Schüler, der ein Referat zum Thema "jüdische
Feiertage http://www.nazis-im-internet.de/rechtsextremismus/hagalil-rgrg.htm"
schreiben muss. Diese Entwicklungen werden auch heute, im Jahre 2004,
noch immer viel zu wenig ernst genommen. Noch viel weniger wahr genommen
wird aber auch, dass wir nicht hilflos, ahnungslos und fassungslos dastehen,
sondern sehr viel tun können. Wir haben in den letzten Jahren verschiedene
Lösungsansätze, die sich in drei Gruppen zusammenfassen lassen,
entwickelt:
- - - Am wichtigsten ist uns die Schaffung eines massiven
Gegengewichts durch aufklärende Inhalte http://www.nazis-im-internet.de/aktion-gegen-rechts/hass.htm,
das heißt Wahrheit gegen Lüge und Hass. Der NPD-Anwalt Horst
Mahler, um nur ein Beispiel zu nennen, sieht den Hauptfeind des Deutschtums
inzwischen nicht mehr in der "jüdischen Rasse", sondern
in der jüdischen Religion. Dementsprechend finden wir auf den einschlägigen
Seiten eine unglaubliche Menge an Artikeln die sich mit dem "Judentum"
befassen - beziehungsweise dem, was Mahler und seine Kollegen (im weitesten
Sinne) dafür halten. Wenn wir nun einhundert unserer Seiten gegen
eine dieser Seiten setzen - zum Beispiel zum harmlos erscheinenden Thema
"jüdische Feiertage", dann liegen die Chancen eines Schülers,
auf der Suche nach Informationen zu seinem Referat bei haGalil onLine
anstatt auf den Nazi-Seiten zu landen bei 100:1.
Information und Aufklärung darf aber nicht Gegenpropaganda
sein. Sie muss das Denken anregen, nicht vorschreiben. Widersprüche
und Diskussionen, Facetten und Pluralismus sind nicht Mittel zum Zweck,
sondern Weg und Ziel. Bestechend an diesem absolut einfachen Ansatz ist,
dass der "inhaltliche Schutzwall" unabhängig von allen
Schwachpunkten der bisher von offizieller Seite angedachten Strategien
funktioniert, denn das Verhältnis 100:1 bleibt effektiv auch ohne
den in der "Berliner Erklärung http://www.nazis-im-internet.de/aktion-gegen-rechts/wertekatalog.htm"
des Justizministeriums erhofften weltweiten Wertekonsens. Es wird auch
bestehen bleiben, nachdem sich die vielleicht irgendwann einmal installierten
Filterprogramme als wirkungslos - da umgehbar - erwiesen haben werden
und selbst im Falle, dass antisemitische Hetze einmal straffrei sein sollte
- was ich vorerst nicht annehme - , wird diese "Blockade" weiter
funktionieren.
Unser zweiter Ansatz nutzt die kommunikativen Möglichkeiten
http://www.nazis-im-internet.de/aktion-gegen-rechts/or.htm
eines lebendigen Onlinedienstes, denn die beste Vorraussetzung für
Verständigung sind Begegnung und authentische Information.
Wir wissen längst, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gerade
dort am meisten verbreitet sind, wo die wenigsten Juden leben. Für
einen Jugendlichen in Brandenburg ist haGalil onLine oft die erste und
einzige Möglichkeit, mit Juden in einen Dialog zu treten.
Aus einer Menge von 210.000 Besuchern, jeden Monat, erhalten wir täglich
Dutzende von e-Mails mit Anfragen von Schülern und Lehrern und unsere
Foren und Chats bieten die Möglichkeiten zur Kommunikation der Leser
untereinander.
So lernte beispielsweise eine Nazi-Aussteigerin die Vorsitzende einer
jüdischen Gemeinde in Bayern kennen. Gemeinsam gestalteten sie zahlreiche
Vorträge an Schulen und Jugendzentren.
Von vielen werden wir als Anlaufstelle für den Kampf gegen Rechts
wahrgenommen und unsere Ausdauer, gerade auch nach verheerenden Angriffen
auf unsere offenen Foren, ist für viele ein ermutigendes Zeichen
in dieser Auseinandersetzung.
Unser dritter Ansatz resultiert aus eben diesen Angriffen:
Die juristische Komponente http://www.hagalil.com/archiv/2004/03/hassdelikte.htm
unserer Arbeit musste immer weiter ausgebaut und verbessert werden. 1997
haben wir das erste Meldeformular für NS-Seiten ins Netz gestellt.
Im Jahr gehen hier ca. 1.000 Anzeigen ein, und inzwischen ist fast jede
dritte Strafanzeige in Deutschland in diesem Bereich auf eine Meldung
über unsere Anlaufstelle zurückzuführen.
Es geht hier aber nicht nur um Quantität, sondern vor allem um Qualität:
Wir leiten die hier gemachten Beobachtungen unserer Leser nicht einfach
an die Staatsanwaltschaften weiter, sondern führen eigene - oft auch
anlassunabhängige - Ermittlungen zur Täterfeststellung durch
und geben den Staatsanwaltschaften sowohl juristische als auch technische
"Nachhilfe", so dass der größte Teil der über
uns erstatteten Anzeigen auch tatsächlich zu einer Verurteilung führt.
Es sind keine neuen Gesetze notwendig, die Anwendung der bestehenden würde
bereits ausreichen.
Grundsätzlich lässt sich zusammenfassen, dass
Antisemitismus, Antizionismus, Hass und Demokratiefeindlichkeit im Internet,
im Internet und mit den Möglichkeiten des Internets bekämpft
werden müssen. Wenn wir uns heute anschauen, welche Effektivität
haGalil onLine mit welch geringen Mitteln, finanziell und personell, erreicht
hat, dann besteht durchaus Hoffnung, dass die Verbreitung fundamentalistisch-nationalistischer
Hetze - mit den Mitteln des Internets - ganz entscheidend behindert werden
kann.
Im Vorfeld einer neuen Konferenz, diesmal der OSZE, möchte
ich darauf hinweisen, dass es eine große Hilfe wäre, wenn die
vielen Zuständigen in diesem Land endlich die unspektakuläre
alltägliche Arbeit effektiver Gruppen unterstützen würden.
HaGalil onLine kommt nicht als Hochglanzbroschüre
daher und nicht als pädagogisches Projekt zur theoretischen Konzeption
politischer Bildungsarbeit, sondern ganz einfach als lebendiges und alltägliches
und selbstverständliches Zeichen in einer offenen und vielfarbigen
Gesellschaft.
Quelle: http://www.hagalil.com/archiv/2004/03/antisemitismus.htm
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