Vordenker des Holocaust

Schon hundert Jahre vor Hitler und Goebbels propagierte der nationalistische Agitator Hartwig Hundt-Radowsky die Vernichtung der Juden

von Peter Fasel

Wann Adolf Hitler den Befehl zur "Endlösung der Judenfrage" gab, ist bis heute ungeklärt. Doch genauso wichtig bleibt die Frage, wann in Deutschland die "gewöhnliche", christlich geprägte Judenfeindschaft umschlug in nationalistisch gefärbten antisemistischen Hass. Die Namen Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn sind in diesem Zusammenhang oft genannt worden. Der glühendste Antisemit jener Inkubationszeit im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts allerdings war Hartwig Hundt-Radowsky (1780 bis 1835) aus Mecklenburg. In seinen Schriften, die sich ins Paranoide steigern, ist der Fanatismus Julius Streichers oder Joseph Goebbels' schon vorweggenommen. Mit Recht lässt sich sagen, dass hier der Weg nach Auschwitz seinen Anfang nahm.

Auschwitz als "Zivilisationsbruch" - darüber ist viel geschrieben und orakelt worden. Immer wieder klingt dabei die Vorstellung an, der Holocaust wäre wie ein Verhängnis über die Welt gekommen und Hitler wäre nichts als ein perfider Zufall der deutschen Geschichte, sein Regime ein grausamer Streich des Schicksals gewesen. Tatsächlich aber hat sich Auschwitz, hat sich der große Mord über Jahrzehnte, ja ein ganzes Jahrhundert hin in Deutschland vorbereitet, fast könnte man sagen: angebahnt. Doch so viel wir heute über das antisemitische Milieu des Kaiserreichs wissen, das unmittelbar zum Nährboden für den Nationalsozialismus wurde, so diffus sind immer noch unsere Kenntnisse von den Anfängen des eliminatorischen, des auf Vernichtung zielenden Antisemitismus, die sich wesentlich früher finden.

Sie liegen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und verbinden sich mit der frühen deutschen Nationalbewegung, die im Kampf gegen Napoleon entstand. Vor allem ein Mann tritt hier in den Vordergrund, dessen Name heute unter Zeithistorikern und NS-Forschern seltsamerweise so gut wie vergessen ist: Joachim Hartwig Hundt-Radowsky. Dabei hat er hierzulande als Erster die völlige Ausrottung der Juden propagiert, und seine fanatischen Schriften befeuerten bis ins 20.Jahrhundert hinein den antisemitischen Wahn.

Sein Lebensweg - zwischen nationalem Aufbegehren und wüsten Vernichtungsfantasien - steht für manchen seiner Zeit. Am 15. Mai 1780 wird er als zweitältester Sohn des mecklenburgischen herzogl. tit. Amtmanns und Gutsbesitzers Johann Hartwig Hundt auf dem Allodialgut Schlieven bei Parchim geboren und evangelisch getauft. Nach der Ausbildung durch Hauslehrer und Jahren am Gymnasium in Parchim arbeitet er zunächst als Landwirt auf den väterlichen Gütern. Im Juni 1802 heiratet er die Parchimer Pastorentochter Lucie Seidel. Warum er seinem Namen später den Zusatz Radowsky angefügt hat, bleibt ungeklärt; wenn es ihm opportun erschien, gab er zudem gern noch ein Adelsprädikat hinzu.

Von Ehmkendorf, das sich kurzzeitig im Besitz seiner Familie befindet, wechselt Hundt im Jahre 1803 auf das Lehngut Goldberg im ritterschaftlichen Amt Neubukow. Bereits 1805 will er dieses Gut wieder abstoßen, gerät im Jahr darauf in Konkurs und muss Goldberg seinen Kreditgebern überlassen. Finanziell angeschlagen, geht der junge Mann nach Helmstedt, wo er von 1806 bis 1809 Jura studiert. Hier schreibt er auch sein erstes Büchlein Blüten des Lebens, eine Sammlung trivialromantischer Liebesgedichte und -erzählungen, die 1807 in Berlin erscheint und seiner Frau gewidmet ist. Anschließend übernimmt er in Parchim die Stelle eines Hof- und Landgerichtsadvokaten.

Kastrieren, verschleppen, umbringen - Hundts Hass kennt keine Schranken

Doch Hundt fühlt sich zur Kunst berufen und beschließt, Schriftsteller zu werden. 1813 gibt er seine Tätigkeit auf, verlässt Frau und Sohn und zieht nach Berlin. Dort lernt er Friedrich Ludwig Jahn und andere nationalistische Agitatoren kennen. Hundts in Grundzügen wohl bereits vorhandene Judenfeindlichkeit (sein Vater scheint antijüdisch eingestellt gewesen zu sein) dürfte sich bei diesem Umgang noch verstärkt haben. Er verfasst rachsüchtige antinapoleonische Kriegslyrik (kompiliert in Harfe und Speer, Berlin und Leipzig 1815), dazu einige Geschichten und Artikel.

Die Deutsch-Nationalen des frühen 19. Jahrhunderts sehen sich in der Verlegenheit, ihre Nation, ihr "Volk" und das, was als "volklich", volkstümlich rechterdings würde Geltung beanspruchen dürfen, erst einmal erfinden zu müssen. Für die "Germanomanen" (wie der jüdische Religionsphilosoph Saul Ascher sie nannte) definiert sich die Nation über das Blut und die Abstammung - ein bewusstes Gegenkonzept zum Prinzip der revolutionären französischen Staatsbürgernation. Eifrig machen sie sich daran, ihr "Volk" aus Elementen zu formen, die sie in Sprache und Geschichte, in Natur und Geografie zu entdecken glauben. Weit greifen sie dabei zurück in eine idealisierte, mythisch interpretierte germanisch-nordische Vergangenheit, auf dunkle Mächte zumal, die nach ihrer Vorstellung das "volkliche" Wesen auch in der Gegenwart bestimmen.

Die Deutschen, so schreibt in jenen Tagen der einflussreiche nationalistische Publizist und Dichter Ernst Moritz Arndt, dem später die Nazis als ihrem "weltanschaulichen" Vordenker huldigten, seien nicht "verbastardet, keine Mischlinge geworden", sondern auf ihrer "Urerde" über Jahrtausende hinweg rassisch "rein" geblieben. Aktuell drohe dem "germanischen Wesen" freilich größte Gefahr - durch die Franzosen und die Juden, die er mit "Ungeziefer" vergleicht. "Verflucht aber sei die Humanität und der Kosmopolitismus, womit ihr prahlet! Jener allweltliche Judensinn, den ihr uns preist als den höchsten Gipfel menschlicher Bildung" - mit solchen Worten bringt Arndt 1814 den äußeren und den imaginierten inneren Feind propagandistisch geschickt auf einen Begriff.

Hinsichtlich der Juden geht der "Freiheitsdichter", dessen Judenhass eine Mixtur aus altem christlichen Antijudaismus und modernem Antisemitismus darstellt, immerhin nicht so weit wie Hundt-Radowsky. Arndt, dem sein zeitweiliger Arbeitgeber, der Freiherr vom Stein, eine "Hühnerhundnase zum Aufwittern des verschiedenen Blutes" zuschreibt, will zwar die Zuwanderung ausländischer Juden mit allen Mitteln unterbinden und den einheimischen Juden und "getauften Judengenossen" das volle Bürgerrecht verwehren. Das "Aufgehen" der alteingesessenen Juden in den "Stamm des christlichen Volkes" hält er jedoch für möglich. Dafür müssten diese nur bereit sein, ihre Religion und Kultur aufzugeben, und sich bedingungslos der christlich-germanischen Umwelt anpassen. Innerhalb von drei Generationen nach dem Übertritt zum Christentum könnte so das "verdorbene und entartete" jüdische Element im deutschen Volke wohl verschwinden.

"Die frühe deutsche Nationalbewegung", schreibt die Berliner Historikerin Karen Hagemann in ihrer 2002 erschienenen Studie Mannlicher Muth und Teutsche Ehre (Krieg in der Geschichte, Band 8; Verlag Schöningh Wissenschaft, 2002; 617 Seiten, Festeinband, ISBN 3-506-74477-1, 52,- Euro), "erwies sich von Anfang an als aggressiv und ausgrenzend gegenüber allem, was mittels ethnisch-anthropologischer Kriterien als ›nicht deutsch‹ definiert wurde. Antifranzösischer Nationalchauvinismus und früher Antisemitismus reichten weit über den engen Zirkel der bekannten deutsch-nationalen Vordenker hinaus." Das deutsche Nationalbewusstsein, dessen Charakter die Germanomanen so maßgeblich bestimmten, gründete auf Ausgrenzung und Ressentiment, auf Feindseligkeit gegen Juden, Franzosen und bald auch andere Nationen. Fremdenhass und Judenfeindschaft "waren konstitutiver Bestandteil des deutsch-nationalen Denkens der frühen Nationalbewegung".

Da ihm der Boden in Preußen zu heiß wird, übersiedelt Hundt 1817 ins sächsische Altenburg; zwei Jahre später zieht er ins Dorf Plagwitz bei Leipzig. In Berlin lässt er eine Flugschrift zur Ermordung des Dichters August von Kotzebue drucken, in Leipzig publiziert er eine Arbeit gegen die preußische Zensur. Auch dient er dort seinem antisemitischen Verleger Ernst Klein kurz als Herausgeber des Zeitblatts für Literatur und Politik; bereits nach einer Woche wird ihm die Redaktion allerdings wieder entzogen.

Nach dem Mannheimer Attentat auf Kotzebue lässt Metternich die "Demagogenverfolgung" verschärfen; auch Jahn wird der Prozess gemacht. Überstürzt kehrt Hundt Sachsen im Juli 1819 den Rücken, nachdem er erfahren hat, dass seine Verhaftung und Auslieferung an Berlin unmittelbar bevorstehe. Vorerst begibt er sich wohl in den thüringischen Kleinstaat Schwarzburg-Sondershausen. Hier erscheint im Herbst 1819 bei dem Verleger Bernhard Friedrich Voigt, neben zwei weiteren Flugschriften Hundts, sein berüchtigtes "Hauptwerk": der Judenspiegel - ein Schand- und Sittengemälde alter und neuer Zeit. Der Verleger wählt vorsichtshalber ein Pseudonym: Christian Schlagehart, ersichtlich ein sprechender Name.

Zur weiteren Tarnung ist als Publikationsort Würzburg angegeben, nicht zufällig die Stadt, die wenige Monate zuvor, im August, Ausgangspunkt der antijüdischen Hepp-Hepp-Unruhen gewesen ist (benannt nach der viel gegrölten Parole "Hepp! Hepp!! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben / Ihr müßt fliehen oder sterben!"). Wie ein Lauffeuer hatten sie sich auf zahlreiche Orte in Deutschland und selbst in Nachbarländern ausgebreitet. Diese Krawalle, die mehrere Todesopfer forderten - nicht, was reiner Zufall war, unter den Juden, die oft vorübergehend aus ihrem Heimatort geflüchtet waren -, entzündeten sich wesentlich an der Auseinandersetzung um Status und Rechte, um die Emanzipationsfrage. Nach einer jahrelangen, besonders von Zunftbürgern und Professoren (wie K. W. F. Grattenauer, Friedrich Rühs und Jacob F. Fries) betriebenen Agitation wider die staatliche Politik schrittweiser Emanzipation, in einer Situation allgemein scharfer politischer und ökonomischer Spannungen zumal, musste irgendwann der Zeitpunkt kommen, da die antisemitische "Theorie" in die Praxis eines Pogroms umschlug.

Der Judenspiegel erlebt innerhalb von drei Wochen zwei Auflagen mit insgesamt 10000 Exemplaren. Während Hundt eine dritte Auflage vorbereitet, lassen interessierte Kreise die Schrift 1821 in Reutlingen und, gekürzt, in Ulm nachdrucken. Obwohl im größten Teil Deutschlands wegen Störung des Religionsfriedens bald verboten, findet das Buch rasch weitere Verbreitung. Unter dem Titel Die Naturgeschichte der Juden wird es 1848 neuerlich auf den Markt gebracht, diesmal von Wien aus.

Mit dem Judenspiegel und der 1822/23 in der Schweiz erschienenen Judenschule entwickelt sich Hundt-Radowsky zum Mittler zwischen der überkommenen, christlich geprägten Judenfeindschaft und einem modernen, biologisch-rassentheoretisch begründeten Radikalantisemitismus. Er ist inhaltlich bereits Rassenantisemit, ohne über einen "wissenschaftlichen" Rassebegriff zu verfügen. Noch begründet Hundt seine von unverhohlener Mordlust gezeichneten Vorstellungen wesentlich aus der Religion; so übernimmt er mittelalterliche Ritualmordlegenden. Doch schon ist sein Judenhass, der Vernichtung will, für die ideologischen Bedürfnisse des anbrechenden kapitalistischen Zeitalters aktualisiert und systematisiert.

So finden wir das gesamte Arsenal des eliminatorischen Antisemitismus in diesen Schriften - nur, das versteht sich, noch ohne das antiamerikanische und das antikommunistische Element. Alle Juden sind nach Hundt "Abrahams Saame". Unwandelbar seit Anbeginn ist der verbrecherische Volkscharakter der Juden, schlicht grenzenlos ihre Schlechtigkeit. "Der Teufel ist barmherziger als ein Jude", heißt es im Judenspiegel. Immer sind die Juden auf Versklavung und Zugrunderichtung der Christen aus, und "nicht allein das Fleisch der Christen wollen die Israeliten; nicht allein ihr Blut wollen sie aussaugen; auch ihre Seele wollen sie verschlingen". Den Juden angeboren ist auch "ihr specifischer Geruch, den sie sich durch ihre unnatürlichen Laster, als ein Allen gemeinschaftliches Erbgut, erworben haben".

"Ewig ist jetzt die Rasse, Assimilation die neue Schuld." Massimo Ferrari Zumbini, Historiker an der Universität von Viterbo, formuliert diesen Satz in seinem jüngst erschienenen Buch Die Wurzeln des Bösen (Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler; Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2003; ISBN 3-465-03222-5; 49 EUR)mit Blick auf den Antisemitismus des Kaiserreichs - er trifft jedoch bereits für Hundt-Radowsky zu, und zwar in besonders radikaler Weise. Jede Vermischung von Juden und Nichtjuden muss unterbunden, keinem Israeliten darf der Übertritt zum Christentum gestattet werden, denn "eine solche Annäherung oder Verschmelzung würde für jedes nichtjüdische Volk ein gänzliches physisches und sittliches Verderben zur Folge haben". Den biblischen Jesus hingegen "arisiert" Hundt: "Was Großes, Erhabenes und Göttliches an seinem Leben und seinen Handlungen war, das können die Juden, welche ihn verfolgten und kreuzigten, nicht für sich anführen."

Durch das Buch ziehen sich diverse Tier- beziehungsweise Schädlings-, Krankheits- und Seuchenmetaphern. Der Jude ist bei Hundt, wie bei den später auftretenden Radikalantisemiten, Über- und Untermensch zugleich. Das "jüdische Ungeziefer" habe sich durch unvergleichliche Skrupellosigkeit, gewaltige Geldvermögen und verschwörerische internationale Verbindungen zu den "Herren der Welt" aufgeschwungen. Die Juden müssen, daran lässt er keinen Zweifel, vollständig eliminiert werden. Als Minimallösung der "Judenfrage" schlägt Hundt vor, sie als Sklaven an die Engländer zu verkaufen (sehr bald wird er entdecken, dass die Engländer selbst "weiße Juden" sind!) oder sie als Zwangsarbeiter in die Bergwerke zu schicken beziehungsweise alle männlichen Juden zu kastrieren und ihre Frauen und Töchter - zur Abschreckung der christlichen Kundschaft, versteht sich - in Bordelle zu stecken.

"Am Besten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer." Die Juden sollten, das wäre ihm offenbar am liebsten, nach Abhaltung eines Tribunals ("ein peinliches Gericht") umgebracht werden. Oder aber, man verfrachte sie, vollständig enteignet, auf türkisches Gebiet, wo sie in unausweichlichen Kämpfen mit den Muslimen "vielleicht […] ganz von der Erde vertilgt würden", ohne dass man sich selber die Finger schmutzig machen müsste.

Nach Aufenthalten in Straßburg und Paris findet Hundt-Radowsky 1821 im schweizerischen Aargau, 1824 dann im Kanton Appenzell-Außerrhoden Unterschlupf. Durch die in Aarau entstandene Theorie vom "weißen Juden" wird das antisemitische Wahnsystem komplett. Mit 1160 Seiten ist das 1822/23 (in Aarau) publizierte dreibändige Werk Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden eines der umfangreichsten antisemitischen Werke überhaupt. Gewidmet ist es ironisch dem Baron Rothschild in Paris, dem "Beschützer der Legitimität in Europa, dem Freunde aller illiberalen Künste". Der erste Band wird fast unverzüglich in Reutlingen nachgedruckt. Eine Neuausgabe aller drei Bücher erscheint 1830 unter dem Titel Die Juden wie sie waren, wie sie sind und wie sie seyn werden wiederum in Reutlingen.

"Der Jude" ist überall und steckt hinter allem Schlechten in der Welt

In den ersten beiden Bänden macht sich Hundt über die "finstere" Religion sowie die Sitten und Gebräuche der "schwarzen", also der wirklichen Juden her, zu denen er übrigens auch die Zigeuner zählt. Wie im Judenspiegel stellt er hier einen zutiefst verderbten Charakter aller Juden als ewig und unwandelbar dar. So ist durch die Taufe kein Jude zu bessern: "Wer einen Juden tauft, der brennt der Sau nur ein anderes Zeichen auf den Hintern!" Für Hundt bleiben die jüdischen "Schädlinge" gleich, was auch passiert, "bis sie endlich durch ein furchtbares Erdbeben von unten auf erschüttert und verschlungen werden".

Das dritte Buch der Judenschule hingegen ist den "weißen" Juden vorbehalten, denen Hundt gleichfalls die Vernichtung wünscht. Als "weiße" Juden bezeichnet er alle, die ihm (oder vielleicht auch nur seinen Lesern) unangenehm aufgefallen, aber keine Juden sind, beispielsweise die Engländer. Sie werden kurzerhand zu echten Juden erklärt. Ihre führenden Vertreter stammen nach Hundt direkt von Abraham und dessen zweiter Frau Ketura ab. Die "kleineren weißen" Juden hingegen seien unmittelbare Abkömmlinge Abrahams und dessen Mätressen. "Gleich seinen schwarzen Brüdern und dem Unkraut im Evangelium ist Abrahams weisser Saame in der ganzen Welt zerstreuet. In den Palästen der Fürsten und Großen und in den Hütten der Bauern; in den Sälen der Richter und in den Studierstuben der Gelehrten; in den Häusern und Buden der Kaufleute und Krämer und in den Werkstätten der Künstler und Handwerker; auf den Schaubühnen und - auf den Kanzeln, kurz unter allen Klassen und Ständen findet man ihn. […] Das weisse Judenthum ist an keine kirchliche Formen und an keine Dogmatik gebunden. Es hat seine Bekenner unter allen Christen, Ketzern, Heiden und Götzendienern; ja sogar unter Magnaten, Aristokraten, Diplomaten, Patriarchen, Scholarchen, und anderen Aten und Archen soll es weisse Juden geben, und diese sollen gerade die schlimmsten sein."

Das monomanische Welt- und Wahnbild des Joachim Hartwig Hundt-Radowsky ist jetzt wasserdicht. Alles Schlechte in der Welt wird von den Juden verschuldet. Grundsätzlich kann damit jeder gemeint sein, unabhängig von seiner tatsächlichen Herkunft. Die Ausrottungspraxis, einmal in Gang gesetzt, brauchte mit der Tötung der wirklichen Juden längst nicht ihr Ende zu finden. Der Fanatismus der Germanomanen, hatte Saul Ascher bereits im Jahre 1815 hellsichtig formuliert, bleibe nicht dabei stehen, "die Juden seine Geißel fühlen zu lassen". Er kenne keine Grenzen. Von seinen wüstesten Hetzwerken, dem Judenspiegel und der Judenschule, hat sich Hundt-Radowsky nie distanziert. Im Gegenteil: Mit der Wiederauflage Letzterer wollte er 1830, nach der Pariser Julirevolution, die Bevölkerung erneut zum Pogrom aufstacheln. Offen blutgierige Attacken gegen die Juden hat er danach zwar nicht mehr wiederholt, ein Fanatiker ist Hundt aber geblieben. Noch sein letztes Werk, eine autobiografisch gefärbte Jugendgeschichte (Wiechart, oder Bruchstücke aus dem Leben eines alten Demagogen, Liestal 1835), enthält antisemitische Schmähungen. In dem 1828 publizierten Neuen Judenspiegel mildert er, sich opportunistisch der liberalen Opposition empfehlend, seine Eliminierungsforderungen ab: Hundts Bestreben richtet sich hier, ganz christlich-antijudaisch, "nur mehr" auf die Auslöschung der jüdischen Religion, die "Erziehbarkeit" mancher Juden soll anerkannt sein. Als Voraussetzung verlangt er von ihnen, wie schon Arndt, die Aufgabe ihrer Religion und Kultur.

Doch bereits 1830 erscheint in Stuttgart der dreibändige Christenspiegel, an dem Hundt seit Mitte der zwanziger Jahre gearbeitet hat. Darin attackiert er das Christentum und seine "orthodoxen" Vertreter als verjudet und deshalb die Welt verderbend. Er fordert, die christlichen Konfessionen müssten sich "von dem faulichten Urstamm" ihrer Religion, dem Alten Testament, lösen. "Jahwe oder Jesus" - auch was die von späteren Antisemiten oft beschworene "Entjudung des Christentums" angeht, ist Hundt Avantgarde.

Das Exil führt ihn in den zwanziger Jahren ins appenzellische Bühler, dann in die Gemeinde Speicher, wo er von 1825 an bei einem Freund wohnt. Gilt er seinen Anhängern in der Schweiz als aufrechter Radikaler - noch die Appenzellischen Jahrbücher von 1908 nennen Hundt einen "von hartem Schicksale verfolgten, ernsten, edelgesinnten und aussergewöhnlichen Mann und Gelehrten" -, sehen einige Einheimische wegen seiner Polemik gegen die "orthodoxe" Geistlichkeit aller Konfessionen in ihm geradezu den Leibhaftigen. Weil ihn Beamte und Seelsorger der Gottlosigkeit und Gotteslästerei beschuldigen, wird Hundt im Dezember 1828 vom Großen Rat des Kantons aus Appenzell-Außerrhoden ausgewiesen. Von aufgebrachten Gläubigen bedroht, muss er schleunigst das Weite suchen.

Ein Versuch, sich in Liestal bei Basel niederzulassen, scheitert, auch dort ist Hundt bald unerwünscht. Im Herbst 1831 gelingt es ihm, sich einen in Stuttgart ausgestellten Pass zu besorgen, mit dem er im Januar 1832 nach Straßburg reist. Hier gibt er die antilegitimistische Zeitschrift Die Geissel heraus, die aber mit dem zweiten Heft eingestellt wird. Im April 1833 muss er die Stadt verlassen und wendet sich nach Nancy, wo er bis zum Frühjahr 1834 bleibt. Anschließend geht er zurück in die Schweiz. Aus Liestal wiederum ausgewiesen, wird sein letzter Zufluchtsort Burgdorf im Kanton Bern.

Vereinsamt, "zum Bettler herabgesunken und sehr elend", wie es in den Polizeiakten heißt, haust er am Ende "fortwährend zu Burgdorf in einer ärmlichen Kneipe", wo er nicht zuletzt "durch den übermäßigen Genuß geistiger Getränke in die krasseste Gemeinheit" verfallen sei. "In seiner geistigen Produktivität gänzlich gelähmt, auch körperlich herabgewürdigt", stirbt er am 15. August 1835. Auf dem neuen Kirchhof in Burgdorf wird er zwei Tage später beigesetzt. Das Grab existiert längst nicht mehr. Doch während Hundt in Vergessenheit geriet (nicht einmal ein Porträt von ihm hat sich bewahrt), keimten und wucherten seine Hassfantasien weiter - eine höllische Saat, die hundert Jahre später blutig aufgehen sollte.

Der Autor ist Historiker und lebt in Würzburg

DIE ZEIT, 22.01.2004 Nr.5

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