Die Mutter der sozialen Mütterlichkeit
Gegen die biologische Bestimmung: Vor 100 Jahren wurde der Jüdische Frauenbund gegründet
von Barbara Wündisch

Vor hundert Jahren, am 15. Juni 1904, gründete Bertha Pappenheim gemeinsam mit Sidonie Werner und Henriette May anlässlich eines Internationalen Frauenkongresses in Berlin den Jüdischen Frauenbund (JFB). In der Folgezeit wurde die Organisation zu einer sozialen Institution, die über ihr karitatives Engagement hinaus vor allem auch politisch für die Rechte der Frauen aktiv war. Zuletzt wurde die Geschichte des Jüdischen Frauenbundes vom jüngeren feministischen Diskurs wiederentdeckt.

"Wenn es eine Gerechtigkeit im Jenseits gibt", fragte Bertha Pappenheim in einem ihrer "Denkzettel", "werden drüben die Frauen die Gesetze machen und die Männer die Kinder kriegen. Ob dann der heilige Petrus beamtet bleibt?!" Mit Sätzen wie diesem versuchte Pappenheim, eine der wichtigsten jüdischen Frauenrechtlerinnen, ihrer Kritik an der herrschenden Geschlechterordnung mit dem ihr eigenen Witz Ausdruck zu verleihen.

Schon Ende des 19. Jahrhunderts waren Jüdinnen in der Frauenbewegung aktiv gewesen und besetzten dort Führungspositionen. Mit dem Jüdischen Frauenbund gaben sich Jüdinnen dann eine konfessionelle Vertretung, die das aktive und passive religiöse Frauenwahlrecht in ihren Gemeinden durchsetzen sollte. Mit Erfolg: 1925 wurden erstmals zwei Frauen in die Berliner Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde gewählt.

Der Jüdische Frauenbund reformierte und zentralisierte die ihm angeschlossenen jüdischen Frauenvereine, die traditionell für Armenfürsorge, Krankenbesuche und Totenwäsche zuständig waren. In den 20er Jahren wurde er zum größten Tochterverband des Bundes Deutscher Frauenvereine. Jede dritte deutsche Jüdin trat ihm bei, 1932 hatte er 52 000 Mitglieder, umfasste 38 Ortsgruppen und 450 Vereine. Der Jüdische Frauenbund war Mitglied in nationalen ebenso wie in internationalen Frauenorganisationen. 1923 wandte er sich in seinem Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution sogar an den Völkerbund.
Dass er derart erfolgreich war, ist sicher auch dem Charisma seiner langjährigen Leiterin Bertha Pappenheim zu verdanken. Auf dem zweiten Delegiertentag des Jüdischen Frauenbundes in Frankfurt am Main 1907 löste sie einen Skandal aus, weil sie kritisierte, dass die jüdische Frau allein als "Geschlechtswesen" behandelt werde. Sie genieße innerhalb des jüdischen Gemeindelebens noch nicht einmal die Rechte eines dreizehnjährigen Knaben. "Die poetische Verherrlichung der jüdischen Frau steht in keinem Verhältnisse zu den geringeren Rechten, die ihr im bürgerlichen Leben zuerkannt sind. Die Gesetzgebung kennt überhaupt nur die verheiratete Frau, die, wenn ihre Ehe kinderlos bleibt, schon sehr in der Achtung sinkt", erklärte Pappenheim.

Sie selbst blieb unverheiratet und kinderlos. Aus ihren biographischen Erfahrungen speiste sich ihr soziales und religiöses Engagement. In ihrer Jugend hing sie am Vater, durfte ihm aber, als Mädchen, nicht so nahe kommen wie der Bruder, den sie um seine religiösen Rechte beneidete. Als sie den Vater pflegen musste, erkrankte sie an Hysterie und wurde zum berühmtesten Fall der Psychoanalyse: sie war Sigmund Freuds "Anna O.". Ihr Drang nach Gleichstellung barg den Zündstoff für ihr frauenpolitisches Engagement, der sie bis zu ihrem Tod antrieb.

Idee der Fürsorge
Pappenheim entwickelte den Begriff der "sozialen Mütterlichkeit", der sich gegen eine biologische Bestimmung von Weiblichkeit wandte. Für sie war die kinderlose Frau, die sich für andere engagiert, eben so viel wert wie leibliche Mütter. Die Idee der Fürsorge setzte sie um in ihrer Arbeit mit ehemaligen Prostituierten, unverheirateten Müttern und Waisenkindern im 1907 gegründeten Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg.

Pappenheim, die nie für Geld arbeiten musste, war sich nicht zu fein, Bordelle in Ostgalizien und Palästina zu besuchen und lokale Hilfsprojekte zu initiieren. Manche der "gefallenen Mädchen" holte sie nach Deutschland. Bis zur Schließung des Heims 1942 fanden dort rund 1 750 Säuglinge, Klein- und Schulkinder, weibliche Jugendliche und junge Mütter ein Zuhause. Als Heimmutter lag Pappenheim die religiöse Erziehung der Kinder am Herzen.

Nach Ansicht der evangelischen Theologin Britta Konz hat Pappenheim eine eigene Theologie entwickelt: "Die Wurzel ihres ganzen Tuns war die Suche danach, welchen Weg ihr Gott in der Welt gewiesen hat." Konz hat die Gebete Pappenheims analysiert, in denen Gott als Gerechtigkeit, Wahrheit und Lebenswillen bezeichnet wird. Sie sieht darin ihre These unterstützt, dass Gott als Gerechtigkeit mit der Frauenbewegung identifiziert wird und sich Pappenheim in ihrem Kampf um Frauenrechte direkt von Gott unterstützt fühlte - eine Autorität über allen Männern und Rabbinern.

Die Arbeit des Jüdischen Frauenbundes blieb nicht konfliktfrei. Immer wieder hatte sich Bertha Pappenheim mit dem Antisemitismus im Bund Deutscher Frauenvereine auseinander zu setzen. Der Nationalsozialismus wurde erst relativ spät als Gefahr erkannt, dann bereitete der zionistische Flügel des JFB die Emigration vor. Bertha Pappenheim starb am 28. Mai 1936 nach längerer schwerer Krankheit. Kurz zuvor war sie von der Gestapo verhört worden und schickte das Gesprächsprotokoll, mit Anmerkungen und Korrekturen versehen, zurück.

Bis zur Zwangsauflösung 1938 leitete Ottilie Schönewald die Leitung des Jüdischen Frauenbundes. Pappenheim hatte sich Schülerinnen herangezogen, die ihre Arbeit nach ihrem Tod fortsetzten. Hannah Karminski übernahm das Heim in Neu-Isenburg, das in der Pogromnacht 1938 zum Teil verbrannte und anschließend von der Hitlerjugend beschlagnahmt wurde. 1942 wurden Karminski und die letzten verbliebenen Kinder nach Theresienstadt deportiert und in Auschwitz und Majdanek ermordet.

1953 gründeten Jeanette Wolff und Ruth Galinski den Jüdischen Frauenbund neu. Heute hat er rund 4 000 Mitglieder und 34 angeschlossene Frauenvereine in ganz Deutschland. Er wird vom Zentralrat der Juden unterstützt. Eine der Hauptaufgaben sei die Integration der Einwanderinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, erklärt die Vorstandsangehörige Edith Kelly. Ein Problem des alten Jüdischen Frauenbundes ist geblieben. Die jüngere Generation sei sehr schwer zur Mitarbeit zu überzeugen, hat Vorstandsmitglied Hanna Jacobius festgestellt. Dennoch wächst der Jüdische Frauenbund. "Es ist wohl wieder Bedarf da", meint Kelly.

Wunder des Neubeginns
Die jüdisch-feministische Gruppe Bet Debora bezieht sich inhaltlich auf Bertha Pappenheim und den Jüdischen Frauenbund der Vorkriegszeit. Jüdische Frauen stellten heute die Gender-Frage und überlegten sich, ob sie nicht genau dieselben Domänen wie die Männer besetzen könnten, sagt die Berliner Rabbinerin Elisa Klapheck. Frauen seien in Gremien nach wie vor unterrepräsentiert. Zu dem europäischen Netzwerk gehören Frauen, die öffentlich im religiösen Leben tätig sind, wie Rabbinerinnen, Kantorinnen und Hochschullehrerinnen.

Ein hundertjähriges Jubiläum sei in der jüdischen Welt, zumal in Deutschland und in der gegenwärtigen Generation, kein gewöhnliches Ereignis, schreibt Abraham Hochwald, ehemaliger Landesrabbiner von Nordrhein-Westfalen, in der Festschrift des Jüdischen Frauenbundes. Von einem "unglaublichen Wunder des Neubeginns" spricht der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, und wünscht, dass der Jüdische Frauenbund in seinem Engagement "mindestens für die nächsten hundert Jahre nicht nachlassen möge".

Frankfurter Rundschau, 15.06.2004

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