Prinzip Verantwortung
Die israelische Linke und der Abzug aus dem Gaza-Streifen
von Natan Sznaider


Die Likud-Partei befindet sich in einer ernsten Krise, seit sie Anfang Mai über Ariel Scharons Abzugspläne aus dem Gaza-Streifen abstimmte und sich dagegen entschied. Hat sich die israelische Rechte damit als friedensunfähig erwiesen? Merkwürdigerweise interessiert sich aber auch Israels Linke nicht für die Gefahren im Zusammenhang des Abzugs.

Am 2. Mai haben die Mitglieder der Likud-Partei über den Scharon-Plan abgestimmt, der einen einseitigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen vorsieht. Die Siedler mobilisierten innerhalb der Partei, überzeugten diejenigen, die nicht ganz überzeugt waren, und spielten geschickt die Legitimationskarte: Die Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen würde das gesamte jüdische Siedlungsprojekt als illegitim abstempeln. Scharon hat sich verrechnet.Die Mitglieder des Likud stimmten gegen seinen Abzugsplan und haben damit diese Partei in ihre schwerste Krise seit ihrer erster Regierungsübernahme im Jahre 1977 geschleudert.

Mit der Abstimmung ist Israel um eine Illusion ärmer geworden. Es handelt sich um die verbreitete Illusion, dass nur die Rechten die noch Rechteren in den Griff bekommen können: dass nur Nixon Frieden mit China schließen konnte, dass nur de Gaulle und nicht die französische Linke im Stande war, den Rückzug Frankreichs aus Algerien zu organisieren. Auch viele Israelis, die der Besatzung schon lange müde geworden sind, lebten in der Illusion, dass nur eine rechte Regierung Frieden schließen könne. Ein rationales Denkmodell, das auch historisch für Israel stimmte. Doch diese Illusion wurde am 2. Mai zerstört. Die israelische Rechte kann und will nicht.

Das heißt noch lange nicht, dass jetzt die Stunde der israelischen Linken geschlagen hat. Die Linke wartet ab und hofft, dass Scharon mit seinen Initiativen scheitert. Weder die Linke noch die in den Medien präsenten Eliten glauben Scharon; er wird nicht mehr ernst genommen. Als er kürzlich, über einen Monat nach der Ablehnung durch seine Partei, den Abzugsplan nun doch seinem Kabinett vorlegte, sah er sich gezwungen, zwei Minister zu entlassen und eine Reihe von Kompromissen zu akzeptieren. Dennoch: Die Regierung hat den Rückzug aus Gaza beschlossen, bis Ende 2005.

Scharon wagt sich damit weiter vor als alle seine Vorgänger. Weder Rabin, Peres, Netanyahu oder Barak haben das getan. Sie alle sprachen davon, dass das Land mit den Palästinensern geteilt werden müsse, aber keiner von ihnen wagte auch nur eine einzige Siedlung anzurühren. Noch ist zwar nichts passiert und noch es ist lange hin bis Ende 2005, aber es ist durchaus möglich, dass mit diesem Beschluss der politische Prozess im Nahen Osten wieder ins Rollen gebracht wurde.

Eine Frage der Gesinnung
Doch in Israel überwiegt die Skepsis. Scharon hat seine Glaubwürdigkeit verloren - als ob es in politischen Prozessen um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ginge. Man teilt die Gesinnung von Scharon nicht, und man ist deshalb sind nicht im Stande, die Konsequenzen seines politischen Handelns abzuwägen. Man erklärt, dass der einseitige Rückzug aus Gaza kein Fortschritt sei, dass die Unterdrückung der Palästinenser damit nur noch schlimmer werde. Die in greifbare Nähe gerückte Räumung wird nur achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Doch gerade auf Seiten der Linken verstehen viele gutgläubige Israelis nicht die politische Gefahr, in der Israel sich befindet. Es sind diese Leute, die den wahren Sieg des Zionismus verkörpern. Sie sehen nur das große, starke Israel auf der einen Seite und das von ihm unterdrückte schwache Volk der Palästinenser auf der anderen Seite, sie machen sich über den globalen Antisemitismus lustig oder halten ihn für eine Moralkeule, mit der sich die Regierung gegen jede Kritik an ihrer Politik immunisieren will. Der Holocaust ist für sie ein fernes Ereignis, das sich in Europa abspielte, und sie sehen in ihm zunehmend, im Gleichklang mit den globalen Sensibilitäten, ein Verbrechen gegen die Menschheit, bei dem die ethnische Identität der Opfer und Täter sekundär wird. Für sie ist Judenvernichtung keine konkrete Gefahr mehr; sie sehen die Bezugnahme auf den Holocaust nur als ein Instrument, mit dem die Regierung ihre Grausamkeit und Aggression rechtfertigt.

Da man nur israelisch und nicht mehr jüdisch denkt, wird man blind gegenüber den globalen Gefahren. Man ist dermaßen mit sich selbst beschäftigt, dass die Stimmen, die von außen hereindringen, nicht wahrgenommen oder nur unter dem Aspekt der israelischen Stärke interpretiert werden. Dazu kommt das zionistische Selbstbewusstsein, das oft ganz bewusst ignoriert, wie sich Politik und Stimmungen gerade auch unter Israels Verbündeten ändern. Doch man muss sich nur die Kommentare etwa von Nicholas Kristoff in der New York Times anschauen, um zu sehen, wie sich der Wind in den USA langsam dreht.

Die Verknüpfung mit Irak
Es kommt immer häufiger vor, dass amerikanische Politiker und auch hohe Militärs (wie der ehemalige General Anthony Zinni), die eigene Regierung beschuldigen, den Irak-Krieg nicht für amerikanische Interessen, sondern für die Interessen Israels und der Juden geführt zu haben. Je schlechter die Lage in Irak wird, desto mehr werden die Juden und Israel für diese Situation verantwortlich gemacht werden. Die Bedeutung der amerikanischen Sicherheitsgarantie für Israel ist kaum zu überschätzen, aber auch sie kann und darf nicht als selbstverständlich gesehen werden. Der einseitige Rückzug aus dem Gaza-Streifen ist daher nicht nur eine lokale Angelegenheit. Es geht auch darum, den Amerikanern zu zeigen, dass man bereit ist, Zugeständnisse zu machen, die wiederum wichtig für die amerikanischen Sicherheitsgarantien sind - welche wiederum helfen können, die konkret vorhandenen Gefahren für Israel einzudämmen.

Liberale innerhalb und außerhalb Israels sollten daher diese Initiative unterstützen. Dafür muss man bereit sein, Kompromisse auch in Punkten einzugehen, die die eigenen Prinzipien betreffen. Das ist wahre Verantwortungsethik - zu verstehen, dass man Kompromisse eingehen muss, die einen auf einen Weg jenseits der eigenen Werte führen. Es geht darum, die Konsequenzen des politischen Handelns mit einzubeziehen, es geht um Verantwortung für das eigenen Leben und für die Sicherheit und Existenz der eigenen Gruppe. Verantwortungsloser Extremismus, ob auf Seiten derjenigen, die nicht bereit sind, auch nur einen Zentimeter der Siedlungen preiszugeben, oder auf Seiten derjenigen, die bereit sind, auf alles zu verzichten, nur damit sie sich im Spiegel nicht mehr als Unterdrücker sehen müssen, kümmert sich nicht um Konsequenzen. Es geht diesen Leuten nur um die richtige Gesinnung.

Der wahre liberale Heroismus besteht aber darin, nicht das zu tun, was man tun will - weil man versteht, dass das Leben gemäß der wahren Werte, an die man glaubt, nur alles schlimmer machen wird. Genau das ist es, was Scharon nun versucht. Dabei spielt es keine Rolle, ob er wirklich daran glaubt, dass Siedlungen geräumt werden sollen (wahrscheinlich tut er es nicht). Doch das ist nicht der Punkt. Worum es geht, ist, dass Scharon versucht, verantwortungsvoll zu handeln. Mehr ist in der Politik nicht zu erwarten. Alles andere folgt nur der Maxime: "Es herrsche Gerechtigkeit, möge auch die Welt darüber zu Grunde gehen."

Natan Sznaider ist Professor für Soziologie in Tel Aviv.
Frankfurter Rundschau, 12.06.2004

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