Der Zionismus ist die Hoffnung
Das Prinzip Israels ist die nationale jüdische Identität. Eben
deshalb ist ein stabiler palästinensischer Staat notwendig
Von Gadi Taub
Trennung von Israelis und Palästinensern durch Mauerbau
und Teilrückzug - das ist der Kern von Ariel Scharons Politik. Auch
wenn er große Stücke palästinensischen Landes annektieren
will, ist der Strategiewechsel beachtlich: weg von der Ideologie eines
"Groß-Israel", wie sie von den Likud-Regierungen und der
Siedlerbewegung bisher stets vertreten wurde. Es dämmert die Erkenntnis,
dass auf lange Sicht die einzige Chance für das Überleben des
Zionismus, der israelischen Gründungsphilosophie, in der nationalen
Befreiung Palästinas besteht. Das gilt auch umgekehrt: Die einzige
Hoffnung auf palästinensische Unabhängigkeit liegt im Zionismus.
Seit seiner Begründung ist der Zionismus ein revolutionäres
Bekenntnis. Er entstand, als europäische Juden am Ende des 19. Jahrhunderts
erkannten, dass ihnen die Assimilierung keine Optionen bot, dass Juden
innerhalb der europäischen Nationalstaaten keine Sicherheit genießen
würden. Die frühen Denker des Zionismus kamen zu dem Schluss,
dass die jüdische Identität von einer religiösen in eine
säkular-nationale verändert werden müsse.
Mit diesem Projekt waren sie erfolgreich: Etwa 80 Prozent
der jüdischen Bevölkerung Israels sind heute nicht religiös.
Für die meisten von uns bedeutet jüdisch zu sein nicht den Glauben
an einen bestimmten Gott. Da die Juden Israels aus vielen verschiedenen
Ethnien stammen, bedeutet es auch nicht die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten ethnischen Gruppe. Jüdisch zu sein ist eine nationale
und kulturelle Identität. Als eine Bewegung, die eine Nation repräsentierte,
begründete der Zionismus seine moralischen Ansprüche. Wie die
israelische Unabhängigkeitserklärung feststellt, haben die Juden
wie alle anderen Völker das Recht auf eine souveräne nationale
Existenz.
Aber genau hier liegt das Problem: Man kann seine Politik
nicht mit der Universalität des Rechts auf Selbstbestimmung begründen,
wenn man anderen dieses Recht verweigert. Die Herrschaft über die
Palästinenser in den besetzten Gebieten steht der Grundidee des Zionismus
entgegen. Schön und gut, sagen nun einige Kritiker Israels, aber
warum vergessen wir nicht ganz einfach den Nationalismus, diesen Anachronismus
aus dem 19. Jahrhundert? Warum einigen wir uns nicht darauf, einen demokratischen
Staat mit gleichen Rechten für alle seine Bürger zu haben, für
Juden und Palästinenser?
Die erste Antwort lautet, dass Nationalismus und Demokratie
in ihrer modernen Form nicht zufällig Bestandteile desselben historischen
Wandels waren. Und es ist kein Zufall, dass stabile Demokratie fast ausschließlich
in stabilen Nationalstaaten existiert. Aber das spiegelt nur etwas Wichtigeres
wider: tatsächliche Einstellungen und Empfindungen.
Amos Oz erzählt diese Geschichte: Bei einem Vortrag
in Schweden skizzierte er die Zweistaatenlösung des israelisch-palästinensischen
Konflikts. Es sei für beide Völker nötig, so legte er dar,
das Territorium in zwei Nationalstaaten aufzuteilen - einen für die
Juden, einen für die Palästinenser. Einer der Zuhörer meldete
sich empört zu Wort. Man müsse nur einmal eine Landkarte betrachten,
dann sehe man sofort, zu welchem Unsinn das führe, ganz zu schweigen
von den ineinander verwobenen Volkswirtschaften. Warum, so fragte er,
könne es nicht einen gemeinsamen Staat mit gleichen Rechten für
alle Bürger geben? Na ja, entgegnete Oz, gucken wir uns doch mal
diese Halbinsel an, auf der die Schweden gemeinsam mit den Norwegern leben:
Die Grenze ist sinnlos; ihr glaubt an denselben Gott, ihr sprecht verwandte
Sprachen. Warum solltet ihr da nicht einen gemeinsamen Staat haben? Da
verschränkte der Schwede die Arme vor der Brust und schüttelte
den Kopf über den Unverstand des Ausländers: Ja ja, antwortete
er Oz, aber Sie wissen nicht, wie diese Norweger sind.
Nationalgefühle sind erstaunlich widerstandsfähig.
Wenn sich schon Schweden und Norweger nicht vorstellen können, ihre
nationale Existenz zugunsten einer nichtnationalen Verfahrensdemokratie
aufzugeben, dann ist dies erst recht unmöglich für die israelischen
Juden und die Palästinenser - zwei durch das Fehlen nationaler Souveränität
zutiefst traumatisierte Völker, die einander zu Recht mit Misstrauen
begegnen.
Dass die nationale Existenz der Israelis an die der Palästinenser
geknüpft ist und umgekehrt - das ist eine tragisch verspätete
Erkenntnis. Ein Jahrhundert lang haben beide Seiten alles darangesetzt,
die nationalen Bestrebungen der jeweils anderen zunichte zu machen. Die
Palästinenser haben sich von Anfang an geweigert, die Teilung zu
akzeptieren; sie haben sich geweigert, das Existenzrecht des jüdischen
Staates anzuerkennen. Von den ersten Vorschlägen der Briten in den
zwanziger Jahren über die Peel Commission 1937 und die Teilungsresolution
der Vereinten Nationen 1947 bis zum Angebot des Premierministers Ehud
Barak in Camp David 2000 und dem darauf folgenden Clinton-Papier: An jeder
dieser Weichen akzeptierte Israel die Teilung, und die Palästinenser
lehnten ab. Und jedes Mal bezahlten die Palästinenser für ihre
Weigerung einen hohen Preis: Der arabische Aufstand der dreißiger
Jahre endete im Desaster; der Krieg von 1948, der die israelische Unabhängigkeit
verhindern sollte, mit der Expansion Israels und 700000 palästinensischen
Flüchtlingen (von denen viele aus Kriegsgebieten flohen, während
andere von der israelischen Armee vertrieben wurden).
Die Versuche Israels, den palästinensischen Nationalismus
zu unterdrücken, waren nicht erfolgreicher. 1948 vertrieben wir Menschen
in Massen und schufen damit das Flüchtlingsproblem, das uns fortan
sowohl in Palästina wie im Libanon zu schaffen machen sollte; 1967
eroberten wir das Westjordanland und den Gaza-Streifen und korrumpieren
seither die moralischen Grundlagen unserer Demokratie, indem wir eine
Militärherrschaft über ein ganzes Volk ausüben, das wir
seiner Menschenrechte berauben. Beginnend mit den siebziger Jahren wurde
die Besetzung zu einer dauerhaften Tatsache, die den ideologischen Konsens
Israels zerstörte. Jedes Mal, wenn die Israelis glaubten, sie hätten
dem Drang der Palästinenser nach Selbstbestimmung einen Schlag versetzt,
gefährdeten sie in Wirklichkeit ihre eigene Existenz. Und wann immer
die Palästinenser meinten, sie hätten die Existenz des jüdischen
Staates unterminiert, verringerten sie in Wahrheit ihre Chancen auf Unabhängigkeit.
Scharon ist die demografische Zeitbombe bewusst geworden,
die eine fortdauernde Besetzung der Palästinensergebiete bedeutet:
Ein Groß-Israel hätte, aufgrund der hohen Geburtenraten in
Gaza und im Westjordanland, schon in wenigen Jahren eine arabische Bevölkerungsmehrheit.
Wenn Israel die besetzten Gebiete nicht verlässt, verheißt
die bevorstehende arabische Mehrheit das Ende des Zionismus. Israel gibt
dann entweder seinen jüdischen Charakter auf, indem es der palästinensischen
Mehrheit das Wahlrecht gewährt. Oder das Land wird zu einem Apartheidstaat,
in dem nur Juden bürgerliche Rechte haben. Für die meisten Juden
ist diese zweite Alternative unvorstellbar, für die internationale
Gemeinschaft ist sie inakzeptabel. Jedenfalls würde eine arabische
Mehrheit in Israel das Ende des Zionismus bedeuten.
Arafat war einer der Ersten, die dies begriffen haben.
Anders wäre kaum zu erklären, warum er Ehud Baraks Angebot von
Camp David ausschlug und auch das Clinton-Papier ablehnte, das den Palästinensern
so gut wie alles zugestand, was eine Vereinbarung ihnen nur zugestehen
konnte. Arafat lehnte nicht nur ab, er forderte obendrein für die
Flüchtlinge von 1948 ein Rückkehrrecht in das Israel innerhalb
der "Grünen Linie". Israelis brauchen keine Nachhilfe,
um zu verstehen, was das bedeutet. Es bedeutet, eine jüdische Mehrheit
auch innerhalb der "Grünen Linie" in den Wind zu schreiben
oder, um es klarer zu formulieren, nationalen Selbstmord zu begehen. Arafat
schien genau zu wissen, was er tat. Die Teilung so lange wie möglich
verhindern, die israelischen Wähler in die Arme einer expansionistischen,
siedlerfreundlichen Rechten treiben - das ist eine vielversprechende Strategie,
um eine palästinensische Mehrheit in Israel zu erreichen. Für
diesen Zweck ist die Fortdauer des Terrorismus das beste Mittel.
Aber Arafat irrt, wenn er meint, dass ein solches Ende
des Zionismus die Sache der palästinensischen Unabhängigkeit
voranbringen werde. Die Juden Israels würden nie, wie es die palästinensische
Propaganda will, "nach Europa zurückkehren". Erstens ist
nur die Hälfte von uns europäischer Abstammung, und die anderen
werden nicht "zurückgehen" nach Syrien, Ägypten, Libyen,
Marokko oder gar in den Irak. Zweitens kennen wir unsere Geschichte gut
genug: Ob wir europäischer Abstammung sind oder nicht, es gibt eine
Losung, auf die sich alle Israelis jederzeit einigen können: "Nie
wieder!" Nie wieder werden sich Juden verfolgen, demütigen und
abschlachten lassen, weil es ihnen an nationaler Souveränität
fehlt. Das haben uns unsere 2000 Jahre im Exil und schließlich mehr
als alles andere der Holocaust gelehrt. Dies ist heute so sehr Bestandteil
unserer Identität, dass die Aufgabe der nationalen Existenz Israels
das Letzte ist, was Israelis je tun würden. Arafat könnte also
imstande sein, den Zionismus zu zerstören, aber an seiner Stelle
würde er keinen palästinensischen Staat, sondern ein neues Bosnien
schaffen.
Auf der anderen Seite stehen der langjährige Verrat
des Likud am Zionismus und die Bewegung der religiösen Siedler. Aber
das Besatzungsregime zu verschärfen und die Siedlungen auszubauen,
das war nie ein Rezept für den Sieg über den palästinensischen
Nationalismus. Dieser Weg führt vielmehr zu einem binationalen Staat,
der auf Dauer im Bürgerkrieg mit sich selbst liegt. Auch das: ein
Weg nach Bosnien.
Israel kann die Anführer der Palästinenser nicht
auswählen und auch nicht deren Politik. Solange es keinen Partner
gibt, mit dem ein Teilungsabkommen geschlossen werden könnte - und
solange Arafat am Ruder sitzt, dürfte dies der Fall sein -, haben
wir eine paradoxe Situation. Die einzige Möglichkeit, die beiden
Völker vor einem weiteren Jahrhundert des Blutvergießens zu
bewahren, besteht darin, dass Israel den Palästinensern die Unabhängigkeit
gewissermaßen aufzwingt, indem es sich aus den besetzten Gebieten
zurückzieht.
Scharons Plan ist, wenn er denn überhaupt verwirklicht
wird, nur ein halber Schritt zurück zum Zionismus. Er bedeutet das
Eingeständnis, dass wir die besetzten Gebiete aufgeben müssen,
wenn wir einen Staat mit jüdischer Mehrheit bewahren wollen. Aber
die andere Hälfte fehlt noch immer. Scharon glaubt weiterhin, Israels
Interessen sei umso mehr gedient, je weniger die Palästinenser bekommen.
Aber in Wirklichkeit hat Israel ganz andere Interessen. Wir bleiben dem
Zionismus nicht dadurch treu, dass wir uns murrend mit irgendeinem Minimalkonzept
palästinensischer Unabhängigkeit abfinden. Im Gegenteil, Treue
zum Zionismus heißt, die nationale Befreiung unserer Nachbarn aktiv
zu fördern.
Je stabiler und sicherer der palästinensische Staat,
desto größer die Chance, über die Teilung hinaus zu einem
zukünftigen Frieden zu kommen. Hier liegt der größte Fehler
des Plans von Ariel Scharon: Je mehr Land Israel behält, desto instabiler
werden beide Staaten sein.
Das Ergebnis dieser Überlegungen, das vielleicht
überrascht, lautet mithin: Der Zionismus ist nicht nur die einzige
Hoffnung der Israelis. Er ist auch die einzige Hoffnung der Palästinenser.
Der Historiker Gadi Taub lehrt an der Hebräischen
Universität Jerusalem
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Die Zeit, 27.5.2004
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