In der Falle der mörderischen Deutschen
Auch die ungarischen Judenräte konnten 1944 nicht handeln, ohne sich in Schuld zu verstricken
von Ulrike Winkler

Vor 60 Jahren, am 19. März 1944, begann unter dem Namen "Unternehmen Margarethe" die deutsche Besetzung Ungarns. Anlass zur Okkupation waren Waffenstillstandsverhandlungen des bis dahin treuen Bündnispartners mit den westlichen Alliierten. Ein Absprung Ungarns aus der "Achse" hätte die prekäre militärstrategische Lage Deutschlands weiter verschlechtert. Der Verzicht auf das ungarische Wirtschaftspotenzial (so war Ungarn nach der Befreiung Nikopols der einzige Manganlieferant Deutschlands) hätte sowohl die Versorgung der deutschen Bevölkerung als auch der an der Ostfront stehenden deutschen Truppen massiv gefährdet.

Eine Ablösung der Regierung Kállay schien nach deutschem Ermessen aber nicht nur auf Grund wirtschaftlicher und geostrategischer Erwägungen geboten. Auch die intendierte rassenideologisch motivierte Neuordnung Europas war aus deutscher Sicht ein wichtiger Grund für die Besetzung Ungarns. Denn dort hatte die letzte, große jüdische Gemeinde Europas mit etwa 795 000 Menschen überlebt.

Schon vor der Besetzung waren die Juden Ungarns massiven rechtlichen, materiellen und kulturellen Restriktionen durch den ungarischen Staat ausgesetzt gewesen. Insbesondere die 1938 und 1939 erlassenen Gesetze, die die wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten der jüdischen Bevölkerung stark beschnitten, forcierten deren Pauperisierung. Diese diskriminierenden Maßnahmen sind nicht nur als Entgegenkommen gegenüber dem deutschen Bündnispartner zu werten. Einheimische Wirtschafts- und Finanzkreise hatten ein großes Interesse an der "Magyarisierung" jüdischer Firmen, Banken, Praxen, Verlage und Handwerksbetriebe.

Letztlich stand ein seiner Rechte weitgehend entblößtes jüdisches Arbeitskräftereservoir zu günstigen Konditionen zur Verfügung. Das Eheverbot von 1941 vollzog auf rassistischer Grundlage die weitere soziale Segregation. Die Abschiebung und Ermordung von mindestens 14 000 so genannten "staatenlosen" Juden aus Ungarn (das waren Juden, die schon viele Generationen in Ungarn lebten, jedoch nicht den Nachweis erbringen konnten, dass ihre Familien seit 1867 dort ansässig waren) in das ukrainische Kamenez-Podolski 1941, zeigte schließlich, dass der ungarische Staat nicht zurückhaltend in den Methoden zur Durchführung seiner politischen Ziele war. Diese gewaltsame und diskriminierende Politik wurde vom Antisemitismus weiter Teile der christlichen Bevölkerung sekundiert.

Nach dem Einmarsch des Sondereinsatzkommandos Adolf Eichmanns entfaltete sich mit Hilfe eines kooperationswilligen ungarischen Verwaltungs- und Polizeiapparates der "arbeitsteilige Massenraubmord" (Gerlach/Aly) an der jüdischen Bevölkerung. Dieser sollte auch mit Hilfe eines von den Deutschen eingesetzten Judenrates exekutiert werden. In ihm waren Menschen vertreten, die sich primär als Ungarn jüdischen Glaubens begriffen und staatsloyal gewesen waren.

Für Konfrontation nicht gewappnet

Plötzlich sahen sie sich einem komplexen, teilweise undurchschaubaren und sich je nach aktuellen Erfordernissen verändernden Machtgefüge gegenüber, dessen mörderische Intention sich ihnen nicht in voller Tragweite erschloss. Die Judenratsmitglieder waren für die Konfrontation mit den Nationalsozialisten, die arbeitsteilig und auf der Grundlage einschlägiger Erfahrungen konsequent den Mord von hunderttausenden Menschen vorbereiteten und schließlich durchführten, einfach nicht gewappnet. Sie setzten in der Folge auf den Einsatz legaler Mittel, um das Leben ihrer Gemeinden zu retten.

So kamen sie den deutschen Forderungen nach Organisation von Arbeitskräften, Abgabe von Wertgegenständen und "Beruhigung" der verängstigten jüdischen Bevölkerung ebenso nach wie ihren wohlfahrtspflegerischen Verpflichtungen gegenüber ihrer Gemeinde.

Gleichzeitig aktivierten sie ihre Kontakte zur ungarischen Regierung. Auch unterhielten sie vielfältige Beziehungen zum deutschen Besatzungsapparat, bestachen dessen Angehörige hin und wieder auch. Sie richteten dutzende Petitionen an internationale und nationale Persönlichkeiten und Institutionen und finanzierten schließlich mit Hilfe der Vaadah (einem zionistisch orientierten Hilfskomitee) den Freikauf von mehreren hundert ausgewählten Juden. Aber durch den Versuch, mittels beschränkter Kooperation mit den Nationalsozialisten und ihren ungarischen Vasallen Leben zu retten, verstrickten sie sich unvermeidlich und auf tragische Weise in die tödliche Strategie der Massenmörder.

Trotz ihres gleichermaßen zähen wie verzweifelten Ringens um das Leben ihrer Gemeinde konnten sie den Tod von mehr als 450 000 Menschen in den Gaskammern von Auschwitz nicht verhindern.

Das Handeln des Budapester Judenrates angesichts der Vernichtung seiner Gemeinde war nach Kriegsende in Israel und im angelsächsischen Sprachraum Gegenstand außerordentlich heftiger und erbitterter Kontroversen. Folgende Versäumnisse wurden ihm zur Last gelegt: Zum einen habe er seine Informationen über Auschwitz in der ungarischen jüdischen Gemeinde nicht vollständig öffentlich gemacht. Zum Zweiten habe er versäumt, den potenziellen Opfern zur Flucht zu raten, während er gemeinsam mit der Vaadah für ausgewählte Juden sehr wohl erfolgreiche Rettungsanstrengungen unternommen habe. Und drittens habe er keinen bewaffneten Widerstand organisiert. Daher seien die Mitglieder des Judenrates zu Agenten ihrer eigenen Vernichtung geworden. Diese Position vertrat am vehementesten Hannah Arendt. Worin lag die Besonderheit in der Situation der ungarischen Juden und ihrer Repräsentanten, die solcherlei Vorwürfe hervorriefen?

Einzigartige Merkmale kennzeichneten ihre Situation im Frühjahr 1944. Die Rote Armee stand bereits in den Karpaten, die Alliierten landeten im Frühsommer in der Normandie, Satellitenstaaten und Bündnispartner hatten sich von Hitler losgesagt. Ein Sieg über das Deutsche Reich und die mit ihm verbundene Rettung waren also nur noch eine Frage der Zeit.

Der Vorwurf einer kollaborativen Verstrickung des Budapester Judenrates erreichte in der so genannten "Kasztner-Affäre" Mitte der 1950er Jahre (dem Vaadah-Mitglied Kasztner war u. a. Zusammenarbeit mit der SS vorgeworfen worden, er hatte den Freikauf von mehreren hundert Juden aus Cluj, darunter auch Verwandte und Freunde, ermöglichen können) sowie im Eichmann-Prozess 1961 einen Höhepunkt, der tiefe Gräben in der jüdischen Welt hinterließ.

Der Kollaborationsvorwurf blieb jedoch nicht auf den Budapester Judenrat beschränkt. Den meisten europäischen Judenratsmitgliedern wurde ihre "Zusammenarbeit" mit den Deutschen vorgehalten, ungeachtet ihrer jeweiligen Motive angesichts extrem begrenzter Handlungsmöglichkeiten. Sie wurden jenen gegenübergestellt, die bewaffneten Widerstand geleistet hatten. Diese Sichtweise wurde wohl auch von dem verständlichen politischen Interesse der Überlebenden an einer Haftbarmachung "jüdischer Kollaborateure" forciert.

Zudem privilegierte die Staatsgründungsideologie Israels die Widerstandskämpfer und verlieh ihnen eine transzendente Bedeutung: Der bewaffnete Widerstand war und ist konstituierendes Element eines sich als kämpferisch verstehenden jüdischen Bewusstseins.

Die extremen Ausnahmebedingungen, die von ständigem Terror und Todesbedrohung, von Erschütterung und Enttäuschung, aber auch von Hoffnung evozierenden Zugeständnissen und beruhigenden Atempausen geprägt waren, gerieten bei der Beurteilung der Judenräte dabei teilweise aus dem Blickfeld.

Handeln in Grenzsituationen

Mit wachsendem zeitlichem Abstand, national- und regionalgeschichtlicher Recherchen sowie mit Hilfe differenzierter Analyseansätze, die etwa individualpsychologische Aspekte menschlichen Handelns in Grenzsituationen berücksichtigten, relativierte sich die einseitig verurteilende Haltung gegenüber den Judenräten im Allgemeinen und dem Budapester Judenrat im Besonderen. Verschiedene wissenschaftliche Kolloquien (z. B. "The Bauer/Rosenstreich-Discussion", New York 1981) betonten, dass das kritisierte Verhalten der Judenräte aus deren jeweiliger Situation heraus zu begreifen und zu interpretieren sei. Auch verzichtete man auf weitere ahistorische Vorwürfe und moralisierende Haltungen, die von den Opfern ein widerständiges Verhalten angesichts ihrer Vernichtung geradezu eingefordert hatten.

Vielmehr kristallisierten sich Positionen heraus, die auf eine sozio-historische Kontextualisierung ebenso setzten wie auf eine angemessene Berücksichtigung der teilweise unberechenbaren, sich in unterschiedlichem Tempo entwickelnden politischen und wirtschaftlichen Interessen der Deutschen und ihrer Verbündeten. Neue Bewertungen zum kritisierten Handeln des Budapester Judenrates setzten sich durch.

Keine Information über Auschwitz

Er hatte tatsächlich eine breite Information der jüdischen Öffentlichkeit über Auschwitz unterlassen. Über die Gründe schweigen sich die Erinnerungsberichte der Judenratsmitglieder aus. Allerdings gab es Versuche, zumindest einigen Gemeindemitgliedern mitzuteilen, was in Auschwitz mit ihnen passieren würde. Die Warnungen riefen zumeist ungläubiges Staunen hervor. Zu grausam und unvorstellbar erschien den potenziellen Opfern das Geschilderte. So berichtete ein Überlebender: "Im Dezember (1943) kam der erste Jude nach Kolozsvár, der im Auschwitzer Lager war. … Er meldete sich im Spital und erzählte, was Selektion und Vergasung ist. Wir schickten ihn zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung."

Die in beschränktem Umfang erfolgten Fluchtaufrufe waren vergeblich. Selbst informierte Juden waren zumeist nicht bereit zu fliehen. Denn trotz aller Diskrimierung und Bedrohung: Sie fühlten sich mit ihren Familien in Ungarn immer noch "zu Hause" und relativ sicher. Wohin hätten sie auch fliehen können? Eine Flucht bzw. ein erfolgreiches Verbergen hing maßgeblich von der Unterstützung hilfsbereiter und mutiger Menschen ab. Von der christlichen Bevölkerung Ungarns war wenig Hilfe zu erwarten. Auch wenn viele Ungarn das Ende der deutschen Besatzung herbeisehnten, bedeutete dies nicht, dass sie sich und ihre Existenz zu Gunsten von Juden gefährdeten.

Dass ein vom Judenrat organisierter bewaffneter Widerstand ausblieb, erklärt sich vor allem aus dessen legalistischer Einstellung, die bewaffnete Aktionen als illegal ablehnte. Allerdings gab es Juden, die in Budapest zu den Waffen griffen und sich gegen ihre Deportation zur Wehr setzten. Diese Taten sind jedoch nur bedingt mit dem Warschauer Ghettoaufstand von 1943, der in aller Regel als Maßstab herangezogen wird, zu vergleichen. Die Juden in Warschau wollten angesichts ihres sicheren Todes ein bleibendes Fanal setzen. Die ungarischen Juden wollten ihr Leben retten, was angesichts der militärischen Entwicklung nicht unrealistisch war. Über die Erfolgsaussichten und die Folgen eines solchen Aufstandes lässt sich indes nur mutmaßen.

Die heftigste Kritik hatte der Umstand ausgelöst, dass der Judenrat gemeinsam mit der Vaadah bestimmte Juden gerettet hatte. Als Auswahlkriterien waren u. a. Alter, Geschlecht, Beruf, Familienstand und schließlich das Vermögen, da die Rettungstransporte finanziert werden mussten, zu Grunde gelegt worden. Damit, so Arendt, sei die Selektionsideologie der Nazis von den jüdischen Repräsentanten übernommen worden. Die Rettung der wenigen habe die Vernichtung der vielen anderen nach sich gezogen. Aber: Hätte der Verzicht auf die Rettung der wenigen die Vernichtung der anderen verhindert?

Ein Blick auf die Rettungsstrategien anderer Judenräte mag das kritisierte Verhalten der jüdischen Repräsentanten in Budapest erhellen. Die Judenräte befanden sich vielfach in der Annahme, dass durch ein den Wünschen der Deutschen entsprechendes bzw. antizipierendes Handeln und Verhalten die Ermordung ihrer Gemeinden wenn schon nicht zu verhindern, so doch wenigstens zu verlangsamen sei.

Nach der Errichtung von Ghettos in Polen, Litauen usw. bemühten sich Judenräte um die Versorgung der auf engstem Raum zusammengedrängt lebenden Menschen. Um die Existenz der Ghettos zu sichern, beschritten einige Judenratsvorsitzende (Chaim Rumkowski von Lodz als bekanntestes Beispiel) den Weg, sich durch permanente Produktivitätssteigerung den Deutschen quasi unentbehrlich machen zu wollen, um Leben zu retten und Zeit zu gewinnen. Ihr Dilemma war nun aber gewesen, dass sie von ihrem auf Rationalität und Nützlichkeitserwägungen beruhenden Mittel (Zurverfügungstellung von Arbeitskraft) einen korrelativen Zweck in den Handlungen der Besatzer folgerten (Erhaltung jüdischer Arbeitskraft zum Zwecke der Ausbeutung). Die den Nationalsozialisten unterstellte Zweckrationalität, also dass sie kriegsbedingtem Arbeitskräftebedarf und damit der Selbsterhaltung die Priorität vor der Massenvernichtung einräumen würden, erwies sich als Irrtum. Die Judenräte verstrickten sich mehr und mehr in diesem Netz aus Handlungszwang, Hoffnung und Ohnmacht. Besonders in den polnischen Ghettos fand die Strategie "Rettung durch Arbeit" mit der Opferung der "Unproduktiven", der Alten und Kranken sowie der Kinder, aber auch der Unerwünschten (etwa Straffällige) ihre absolute Zuspitzung.

Die Judenräte hatten letztlich nie die Option, über Leben oder Tod ihrer Gemeinden zu befinden. Die ihnen aufgebürdeten Entscheidungen waren stets und unausweichlich kumulativ und gleichzeitig solche über Leben und Tod. Die erhoffte Entscheidung für das Leben war tatsächlich stets auch die Entscheidung zum Tod.

Die Strategie der jüdischen Repräsentanten, durch ein rationales, an zivilisatorischen Grundsätzen orientiertes Handeln die Nationalsozialisten wenigstens zu "mäßigen", erwies sich letztendlich als sinnlos. Ihr Handeln traf auf keine korrelierende, sondern auf die entgegengesetzte, weiterhin tödliche Rationalität der Vernichtung.

Von Terror, Krieg und Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen geprägte Situationen sind als Grenzsituationen zu bewerten, in denen alle moralischen, universellen und humanitären Standards außer Kraft gesetzt werden, und zwar von denen, die die Macht über Leben und Tod in Händen halten. Die Nationalsozialisten bestimmten die Rationalität des Handelns. Sie entschieden darüber, dass die verzweifelten Abwehrversuche der Opfer diese in eine fatale Handlungsfalle führten. Die Mitglieder des Judenrates konnten sich ihrer Verantwortung zum Handeln nicht entziehen. Und sie konnten nicht handeln, ohne sich zu verstricken.
Die Bewertung des Handelns des Budapester Judenrates erweist sich immer noch als ein außerordentlich heikles Unterfangen. Es scheint geradezu unmöglich, der tragischen Dimension des Geschehens gerecht zu werden. Gerade in dem Land, das die Täter hervorbrachte, muss die Würde der Opfer unantastbarer Maßstab jeder Beurteilung sein. Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungssystems waren auch die Mitglieder des Budapester Judenrates.

Frankfurter Rundschau, 19.3.2004

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