Weckruf für die Seele
Wie der Klang des Schofar ins Innerste des Menschen dringt
von Yaakov Astor

Der Schofar weckt die göttliche Stimme in unserem Innersten und ruft uns zurück zu unserer Quelle. Der Schofar besitzt eine Aura der Ehrfurcht und Heiligkeit. Sein Schall kann Herzen aus Stein erweichen und alle Selbstgerechtigkeit beiseite fegen. Sein Ruf kann uns an Orte tief in unserem Innern zurückbringen, an die wir auf keine andere Weise gelangen.

Der Baal Schem Tow erzählte dazu folgende Geschichte: "Im Palast des Königs gibt es viele Zimmer, und jedes hat seinen eigenen Schlüssel. Es gibt aber einen Schlüssel, einen einzigen, der alle Türen öffnen kann, nämlich die Axt. Der Schofar ist eine Axt. Wenn jemand vor dem Allmächtigen leidenschaftlich sein Herz ausschüttet, kann er damit jede Tür im Palast des Königs der Könige sprengen."

Der Baal Schem Tow lehrt, daß der Schofar ein emotionaler, intuitiver Weg ins Innerste unseres Herzens und zur Erfahrung Gottes ist. König David scheint dem zu widersprechen. In einem seiner Psalmen (89,16) heißt es: "Heil dem Volke, das den Posaunenklang kennt, Ewiger, im Lichte deines Antlitzes wandeln sie." Es geht also darum, den Schofarton zu kennen, und nicht zu hören. Der Schwerpunkt scheint ganz auf dem Verstand zu liegen.

Was ist nun richtig? Ist die Erfahrung des Schofar eine gefühlsmäßige, intuitive, wie der Baal Schem Tow sagt, oder ist sie eine intellektuelle Erfahrung, wie die Worte König Davids andeuten?

Der Maggid von Dubno kennt eine Parabel, die uns helfen könnte, diese Frage zu beantworten. Ein armer Bauer hatte einen reichen Onkel in der Stadt, der ihn einmal zu sich einlud. Der Bauer machte sich voller gespannter Erwartung auf den Weg. Bei seiner Ankunft wurde er herzlich begrüßt und in einen großen Speisesaal mit einem langen Tisch geführt. Die beiden unterhielten sich über die Familie, als der Onkel zu einer Messingglocke griff und läutete. Sofort erschienen Diener mit Tabletts voller Appetithäppchen. Der Bauer hatte nie zuvor solch verlockende Speisen gesehen. Die Diener verschwanden wieder in die Küche, und die beiden Verwandten setzten ihr Gespräch fort. Kurz danach läutete der Onkel noch einmal, und die Diener erschienen wieder, räumten die alten Tabletts weg und brachten neue mit dem ersten Gang der Hauptmahlzeit. Dem Bauern gingen die Augen über. Niemals hatte er solche Mengen an Speisen und eine solche Bedienung gesehen.

Den ganzen Abend hindurch ging es so. Jedes Mal wenn der Onkel die Glocke läutete, erschienen zahlreiche Diener, räumten die vorigen Speisen ab und ersetzten sie durch neue. Und mit jedem Male staunte der Bauer mehr.

Als es schließlich Zeit zum Aufbruch wurde, dankte der Bauer seinem Onkel herzlich und ging vor der Heimkehr noch kurz in ein Geschäft am Ort. Als er nach Hause kam, weckte er seine Frau. "Du wirst nicht glauben, was ich getan habe!" "Was denn?" "Ich habe unseren letzten Penny ausgegeben!" "Du hast was?!" "Nur keine Aufregung. Ich habe das Geld für etwas ausgegeben, für das du mir ewig dankbar sein wirst. Schau, hier." Und er nahm aus seiner Jacke eine Messingglocke, genau wie sein Onkel eine besaß. "Das hier", sagte der Bauer zu seiner Frau, "ist eine Zauberglocke." Seine Frau sah ihn an, als sei er verrückt. Unbeirrt fuhr der Mann fort: "Du wirst sehen, ich muß sie nur läuten, und sofort werden Diener erscheinen und uns die köstlichsten Speisen bringen, von denen wir nach Herzenslust nehmen können." Natürlich erschienen keine Diener. Die Glocke besaß keine Zauberkraft. Sie funktionierte nur als Signal für Diener, die schon da waren und warteten.

Genauso ist es mit dem Schofar. Wenn wir nicht selbst schon Kräfte in uns gesammelt haben, dann hat der Schofar nicht mehr Wirkung als die Zauberglocke jenes armen Bauern. Damit der Schofar in uns etwas wachrufen kann, müssen wir vorbereitet sein. Das ist es, was König David meinte, als er die Bedeutung der Kenntnis des Schofarklangs unterstrich. Wir müssen zunächst an uns selbst arbeiten und in uns die rechte Empfangsbereitschaft wecken, damit der Schofar wirklich auf uns wirken kann. Das ist auch der Grund, weshalb wir den Schofar im Monat Elul an jedem Wochentag bis zum Tag vor Rosch Haschana Morgen für Morgen blasen - um uns für seine Botschaft empfänglich zu machen.

Worin besteht die Botschaft? Maimonides erläutert: "Wenn wir dem Klang des Schofar lauschen, sollen wir uns eine verborgene Botschaft verdeutlichen. Diese Botschaft lautet: Ihr, die ihr schlaft! Erwacht aus eurem Schlaf! Ihr, die ihr schlummert! Erwacht aus eurem Schlummer! Prüft eure Taten. Denkt an euren Schöpfer und tut Teschuwa."

Der Ruf des Schofar ist der Ruf zur Teschuwa. Teschuwa, oft unzureichend als Reue übersetzt, bedeutet im Wortsinn Umkehr und meint Umkehr auf den Weg des ethischen und spirituellen Lebens, wie ihn uns die Tora vorzeichnet. Maimonides will jedoch nicht nur sagen, daß uns der Schofar zu äußeren Teschuwa aufruft. Es ruft uns zu einer Teschuwa, die uns "an unseren Schöpfer gemahnt".

Hier und da können wir Teschuwa für ganz bestimmte Handlungen üben, von denen wir wissen, daß wir sie nicht hätten tun sollen, womit wir aber nicht zur wirklichen Wurzel des Problems vordringen. Solange wir uns nur um die Symptome kümmern und die wahre Ursache vernachlässigen, werden wir es immer nur mit nachgeordneten Problemen zu tun haben. Der Schofar ruft uns auf, uns dem Kern der Sache zuzuwenden - uns an unseren Schöpfer zu erinnern. Jede Verfehlung bedeutet letzten Endes, daß wir vergessen haben, daß wir in Gottes Gegenwart leben.

Im Talmud wird eine interessante Frage erörtert. Sie betrifft einen Fall, in dem ein Schofar gehört wurde, der sich in einem anderen Schofar befand. Hat man seine Pflicht erfüllt, wenn man den Klang aus einem solchen Doppel-Schofar hört? Die Antwort lautet: "Wird der Klang des inneren Schofar gehört, dann ist die Pflicht erfüllt." Man muß nur sicherstellen, daß man den Klang des inneren, nicht des äußeren Schofar hört.

Metaphorisch läßt sich das so interpretieren: Der Zweck des Schofars liegt darin, das Innere eines Menschen zu einer Reaktion zu bewegen. Der Schofar gibt nicht bloß einen Klang von sich, den wir mit den physischen Organ hören, sondern mit ihm ertönt ein Ruf, den wir mit dem inneren Ohr vernehmen. Der Klang des Schofar ist nicht bloßes Geräusch, er ist eine Stimme in unserem eigenen innersten Selbst, die uns zu unserer Quelle zurückruft.

Deshalb lautet der Segensspruch, den gläubige Juden beim Klang des Schofar sprechen: "Gesegnet bist Du ... der uns geboten hat, den Klang des Schofar zu vernehmen." Der Segen lautet nicht: "... der uns gebot, den Schofar zu blasen (litkoa)", sondern "den Schofar zu vernehmen (lischmoa)". Wir müssen ihn hören. Er muß uns berühren. Sein Schall muß ins Innerste unserer Seele dringen.

Gott, der an Rosch Haschana den ersten Menschen erschuf, erschuf ihn aus Erde. "Und Gott formte den Menschen aus dem Staub der Erde." Der Mensch war Körper. Dann, so heißt es in der Tora, blies Gott dem Menschen den Atem des Lebens ein, und der Mensch wurde zu einem geistigen Wesen.

Wir sind körperliche Geschöpfe. Wir können den Fallstricken der menschlichen Fehlbarkeit nicht entgehen. Und wir sollen unsere körperliche Natur auch gar nicht verleugnen. Auch mit der größten Anstrengung werden wir als körperliche Wesen nicht verhindern können, daß wir zumindest hier und da Rückschläge erleiden und Fehltritte begehen. Mit dem Leben geht eine gewisse Entfremdung der Seele einher. Wir entfremden uns selbst. Der Klang des Schofar soll uns helfen, intuitiv wieder unser wahres, tiefstes, wirkliches Sein zu erfassen.

Der Schofar ist eigentlich nichts als ein hohles Widderhorn. Wenn der Atem eines Menschen durch ihn hindurchgeblasen wird, verwandelt sich der Schofar. In diesem Moment wird er zu einer lebenden Verkörperung des Herzens und des Gefühls des Menschen, der jenem Göttlichen Selbst zum Ausdruck verhilft, das sich in unserem Herzen und in unserem Gefühl regt und nach seinem Schöpfer ruft.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Aish HaTorah Jerusalem/Israel, www.aish.com
Jüdische Allgemeine, 9.9.2004

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