Die neue Weltunterordnung
An Kairos Al-Azhar-Universität erfährt man die Zukunftspläne
der arabischen Welt
von Alexander Goerlach
Dr. Sayyed Fatallah betritt die Fakultät der Islamwissenschaften
in deutscher Sprache an diesem Morgen gut gelaunt. Der studierte Germanist
lehrt an der ältesten islamischen Hochschule, der Al-Azhar-Universität
in Kairo. Seine Dissertation hat er über Anna Seghers geschrieben.
Die Studenten warten bereits auf ihn. Später wird er den Fachbereichsleiter
treffen, Professor Muhammad Mansour. Er greift sich im Vorbeigehen das
neueste Buch seines Chefs, "Einführung in die Koranwissenschaft",
das noch halbverpackt in Kisten auf dem Gang auf die Verteilung an die
Studenten wartet. Es wird ein guter Tag für die Fakultät werden.
Mit der historisch-kritischen Methode, die er sich beim Studium der Literaturwissenschaft
in Europa angeeignet hat, arbeiten hier an der Al-Azhar weder er noch
sein Chef, Professor Mansour, wenn es um ihre heilige Schrift, den Koran,
geht. "Das ist Gottes eigenes Wort; das wird von Muslimen auf der
ganzen Welt auswendig gelernt. Daran gibt es keine Kritik", sagt
Fatallah. Einen Augenblick später erklärt er, daß das
Neue Testament der Christen voller Fehler sei, man könne dies einfach
an mehreren Beispielen mit philologischen Methoden nachweisen. "Das
habe ich selbst schon getan."
Im Glauben der Muslime ist der Koran Gottes selbstgesprochenes
Wort, mit dem er den Erzengel Gabriel in der Nacht zu Muhammad herabgesandt
hat. Die Vorstellung der Verbalinspiration des Korantextes steckt die
Grenzen der islamischen Theologie ab und gibt den Rahmen vor, innerhalb
dessen Dialog moglich ist, zumindest sieht man das im arabischsprachigen
islamischen Kulturraum so, zu dessen anerkanntesten Autoritäten die
Al-Azhar Universität gehört. Für Muhammad Fatallah und
seine Kollegen ist der Koran als Textganzes auf die Erde herabgesandt
worden. Der Autor des Textes ist Gott. Islamische Kollegen, die den Koran
als Textedition sehen, in der man Entwicklungsstufen und literarische
Eingriffe nachweisen kann, beäugt er mehr als skeptisch. "Das
einzigartige am Koran ist, daß er in arabischer Sprache herabgesandt
wird in einer Zeit, als es diese Sprache als feste Größe noch
gar nicht gibt. Das beweist, daß der Koran von Allah stammt."
Die Worte, die Gott zu Muhammad spricht, sind in arabischer
Sprache. Schon zu Lebzeiten von Muhammad mußten die neuen Gläubigen
in den unterworfenen Gebieten Nordafrikas Arabisch lernen; der Islamisierung
ging immer eine Arabisierung voraus. In Ägypten, dem Mutterland der
Al-Azhar-Universität, wurde nach der Eroberung in den Jahren 639
bis 641 Stück um Stück eine Transformation der Gesellschaft
und der Kultur vorbereitet, an deren Ende die arabische Sprache das Koptische
per Dekret abgelöst hat. Damit verbunden war eine Auslöschung
des christlichen Glaubens, der das Land fast sieben Jahrhunderte lang
geprägt hat. Das Koptische hat bis heute fast ausschließlich
als die Sprache der ältesten christlichen Kirche der Welt, in der
Liturgie der Kopten, überlebt. Kein Schulbuch im Land berichtet über
die christliche Kultur, die es in Ägypten und ganz Nordafrika vor
der Eroberung durch die Araber gegeben hat.
Der Fachbereich von Fatallah ist auf einer Etage der Sprachfakultät
der Al-Azhar-Universität untergebracht. Ein Raum, in dem drei Schreibtische
für die Professoren stehen, ein Telefonanschluß, ein Sekretariat,
der Raum für die Assistenten und einige Unterrichtssäle. Der
Arbeitsplatz von Fachbereichsleiter Mansour ist der Tisch in der Mitte
des Professorenzimmers. Gut gelaunt und geduldig hört der graumelierte
Mann hier täglich die Bitten seiner Studenten an. "Die Studenten
hier werden vorbereitet auf den Kulturdialog in Europa", sagt er.
Das bedeutet in seinen Augen, den "wahren Islam" in den christlichen
Ländern bekannt zu machen. "Wer den wahren Islam kennt, der
wird dann viel leichter Muslim." Prediger werden hier ausgebildet,
die in Europa missionieren sollen. "Wir haben hier in einem Kurs
die Schulbücher Österreichs untersucht", sagt Professor
Mansour. "Es waren unzählige Fehler in der Darstellung über
den Islam darin - in jedem!" sagt Mansour.
Die Islamisierung Europas gilt nur noch als eine Frage
der Zeit
Prediger seines Fachbereichs sollen das richten, nicht
nur in Österreich: In dem Gebäude, in dem seine deutsche Abteilung
untergebracht ist, wird auch auf englisch, französisch, spanisch
und chinesisch unterrichtet. Wenn der "wahre Islam" in Europa
bekannt ist, ist die Islamisierung des Kontinents nur noch eine Frage
der Zeit. Dabei vergessen arabische Enthusiasten gerne, daß der
"wahre Islam" in jedem islamischen Land etwas anders bedeutet
und eine hermeneutische Hegemonie nicht ohne Widerspruch behauptet werden
kann. Über die Möglichkeiten und die Grenzen des Kulturdialogs
mit den Nichtmuslimen machen sich die Lehrkräfte der Fachbereiche
ihre Gedanken. "Man hat hier den Eindruck, daß der Westen den
Dialog und die Themen vorgibt", sagt Sayyed Fatallah, bevor er sich
in die Lektüre der "Einführung in die Koranwissenschaft"
vertieft.
Zwanzig Kilometer entfernt von der islamischen Hochschule,
im Zentrum der Siebzehn-Millionen-Metropole Kairo, liegt im Diplomatenviertel
Zamalek auch die Vertretung des Papstes, die Apostolische Nuntiatur. Der
Palazzo ist ganz im italienischen Stil des ottocento gehalten, an den
Wänden finden sich ölfarbene Gemälde längst verstorbener
Päpste. Der Nuntius, der Botschafter des Papstes, ist arabischer
Herkunft, spricht die Sprache fließend. Von Rom aus ist er beauftragt,
im Namen der Kirche Dialog zu suchen mit den Muslimen im Land, auch an
der Al-Azhar. "Dialog bedeutet im Arabischen, daß man zusammenkommen
muß, wenn etwas schiefgelaufen ist, wenn man gestritten hat und
uneins ist. Es bedeutet nicht, wie in Europa, das Interesse am anderen,
als Mensch, ein Interesse an seiner Kultur und seinen Vorstellungen",
sagt der Nuntius Marco Brogi. Der jüngste Entwicklungsbericht der
Vereinten Nationen, den intellektuelle Muslime über ihren Kulturkreis
geschrieben haben, scheint dies zu bestätigen. Bemängelt wird
in dem im Oktober 2003 erschienenen Dokument an der arabischen Welt das
Beharren auf Autoritäten, das Fehlen von Kreativität und gedanklicher
Innovation. Ein Indikator für den desolaten Interessen- und Bildungszustand:
Obwohl 284 Millionen Menschen arabisch und nur elf Millionen griechisch
sprechen, so der Bericht, werden achtmal mehr Bücher pro Jahr in
das Griechische übersetzt als in das Arabische.
Sayyed Fattalah legt das Buch zur Seite. "Muhammad
ist das Siegel der Propheten", beginnt er eine theologische Ausführung.
"Das bedeutet, daß alle Religionen und Kulturen dem Islam untergeordnet
sind." Schon der Koran wünscht, daß neben Kirchen und
Synagogen Moscheen zu errichten sind, die die anderen Sakralbauten überragen
sollen. "Allah uakbar" - Gott ist größer! -, ist
fünfmal am Tag die Mahnung an die Andersgläubigen, sich ihrer
Minderwertigkeit bewußt zu bleiben. Das Ansinnen etwa von Muslimen
im bayerischen Freising, unter dem Zeichen der Toleranz auf dem Domberg
neben der Kathedrale eine Moschee mit Minaretten zu bauen, von denen der
Gebetsruf erschallen soll, wird in der arabischen Öffentlichkeit
klar gesehen als Zeichen des Vormarschs des Islam. Dafür ist auch
das Mittel der Täuschung recht: "Wenn eure Gesetze es hergeben,
dann überwinden wir eure Religion und Kultur mit diesen Gesetzen",
ist ein Tenor in der Öffentlichkeit. In Deutschland kennt man solche
Sätze nur von zwielichtigen Gestalten wie dem sogenannten Kalifen
von Köln, hier in Ägypten ist diese Meinung en vogue. Toleranz
ist hier ein Zeichen von Schwäche. Als im vergangenen November ein
italienischer Richter entschied, in einem süditalienischen Dorf das
Kreuz aus dem Klassenzimmer zu entfernen, titelten die Zeitungen in Ägypten:
"Sieg! Das Kreuz fällt!" Einen Tag später wurde das
Kreuz in Süditalien wieder aufgehängt, an seinen alten Platz;
die italienische Verfassung sieht nämlich ein Kruzifix in allen öffentlichen
Räumen vor. Darüber berichteten die Zeitungen am Nil nichts
mehr.
Die Weisung des Koran, das "Haus des Islam"
bis an die Grenzen der Erde auszuweiten, wird in der arabischen Welt immer
noch als aktuelle Verpflichtung begriffen, entgegen allen andersklingenden
Beteuerungen. In Ägypten bekommen die Christen ihre angebliche Minderheit
plastisch zu spüren. Carlyle Murphy, Pulitzerpreisgewinner und einstiger
Korrespondent für die "Washington Post" in der Region,
berichtet von Christenverfolgungen und Morden, zum Beispiel im Jahr 1992
in Oberägypten. In seinem Buch "Passion for Islam" beschreibt
er, wie Christen auf offener Straße und an ihren Arbeitsplätzen
hingemetzelt wurden, weil sie die vom Koran vorgesehenen Tributzahlungen
an die (im konkreten Falle selbsternannten) islamischen Herrscher nicht
zahlen wollten oder konnten. "Das ist Gott sei Dank die Ausnahme",
betont der Apostolische Nuntius. "Aber man kann schon von dauerhafter
Diskriminierung der Christen hier in Ägypten sprechen." Der
Nuntius verweist gleichzeitig auf die verzweifelte Lage aller Christen
in der arabischen Welt, besonders im Heiligen Land.
In Jerusalem bei der Apostolischen Delegation des Heiligen
Stuhles weiß man genau, wovon Kollege Brogi in Kairo spricht. Botschaftssekretär
Bert van Megen führt aus, daß die Christen immer wieder zum
Spielball zwischen den Interessen von Muslimen und Juden werden. "In
Bethlehem sind vergangenes Jahr dreihundert christliche Familien ausgewandert,
weil die muslimischen Palästinenser in ihre Häuser eingedrungen
sind, von dort aus auf die Israelis geschossen haben. Darauf wurden die
Häuser der Christen im Artilleriefeuer zerstört. Andere Muslime
gehen auf die Grundstücke der Christen, beten dort und erheben dann
Anspruch, das Territorium sei durch das Gebet islamisch geworden."
Der neue niederländische Botschafter sei bei seinem Antrittsbesuch
von Arafat darauf hingewiesen worden, daß die Israelis in Nazareth
bei einem Gefecht auf die Mariensäule inmitten der Stadt geschossen
und dabei der Skulptur der seligen Jungfrau erheblichen Schaden zugefügt
hätten. "So wird versucht, christliche Emotionen zu wecken,
mittels deren Einfluß auf den Verlauf des Nahostkonflikts genommen
werden soll", sagt van Megen.
Juden und Christen sollen ihre heiligen Schriften gefälscht
haben
Muhammad Mansour sieht das anders: "Die christlichen
Minderheiten sind gute Mitbürger und nette Mitmenschen. Sie werden
ausgezeichnet behandelt." Jetzt ist Mittag, Gebetszeit. Fatallah
begibt sich in eine Ecke seines Raumes und betet. Die Assistenten der
Fakultät beten jetzt auch in einem Zimmer nebenan. Da es nur einen
Teppich gibt, fertigen sie aus dem Kartons, in denen am Morgen noch die
Bücher von Professor Mansour, die "Einführung in die Koranwissenschaft",
verpackt waren, weitere Unterlagen, um das Gebet kultisch korrekt vollziehen
zu können. Wenn sich die Assistenten in ihrem Raum nach Mekka wenden,
schauen sie auf ein Bücherregal, meist Grammatik- und Wörterbücher
der deutschen Sprache. Das ist die Fachbereichsbibliothek. Werke über
islamische Theologie finden sich am Fachbereich Islamwissenschaft in deutscher
Sprache keine, dafür zwei Bibeln. "Die Juden und die Christen
haben ihre heiligen Schriften gefälscht. Dafür gibt es den Begriff
des tharif", erklärt Fatallah nach dem Gebet. "Die Juden
haben diese Fälschung mit Absicht vorgenommen, die Christen aus Unwissenheit",
fährt er fort. "Die Wahrheit über die heiligen Schriften
der Juden und der Christen kennen nur die Muslime, weil die Wahrheit über
diese Religionen nur in unserem Koran steht." Sayyed Fatallah hat
diesbezüglich keine seltene Sondermeinung, sondern er gibt das wieder,
was sich auch in vielen deutschsprachigen wissenschaftlichen Darstellungen
des Islam findet.
Diese Sicht auf den anderen hat erheblichen Einfluß
auf die Möglichkeiten interkulturellen und interreligiösen Dialogs.
Das weiß man auch in Rom in der Zentrale der katholischen Kirche.
Von dort aus versucht der Päpstliche Rat für den Interreligiösen
Dialog seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil offiziellen Dialog mit allen
Religionen und Geistesströmungen auf dem Globus zu unterhalten, auch
mit der Al-Azhar-Universität in Kairo. "Der interreligiöse
Dialog hat der katholischen Kirche sehr viel gebracht. Er öffnet
unsere Augen für die wunderbaren Wege, auf denen Gott in die Herzen
von jedem Menschen auf der Welt kommen kann", sagt der Präsident
des Rates, Erzbischof Michael Fitzgerald. "Mein Wunsch ist, daß
Muslime das auch so zu sehen beginnen." Ein gemeinsames Komitee von
Vatikan und Al-Azhar wurde 1998 gegründet - von ägyptischer
Seite auf Wunsch der Regierung. Man trifft sich einmal im Jahr, mal in
Rom, mal in Kairo. Die Themen, über die gesprochen wird, legt weitgehend
die Al-Azhar fest. "Als ich den Großen Scheich der Al-Azhar-Universität
1998 getroffen habe, sagte er mir sofort, daß er nicht über
Theologie reden möchte", berichtet Fitzgerald. Da man von islamischer
Seite voraussetze, daß die christlichen und die jüdischen Schriften
gefälscht sind, kann man auch nicht theologisch gleichberechtigt
in Kontakt treten. Der Koran berichtet beispielsweise, die Christen glaubten
an drei Götter, den Vater-Gott, eine Mutter-Göttin (Maria),
die zusammen durch physische geschlechtliche Zeugung den dritten Gott
(Jesus) erzeugen. Diese Auffassung spiegelt nicht die christliche Lehre
vom einen Gott in den drei Personen wieder. Gerne würde man von Rom
aus über Themen wie diese reden, nicht zuletzt, um die Meinung über
Christen in der arabischen Welt zu verändern.
Dies scheitert im Falle Ägyptens an der Blockade
der Al-Azhar. "Wir möchten aber trotz aller Schwierigkeit in
Dialog bleiben, weil es gut ist, wenn man sich kennt und wenn man miteinander
spricht", sagt der Erzbischof. "Wir als Katholiken sagen mit
dem Zweiten Vatikanischen Konzil, daß alle Religionen etwas von
der Wahrheit und der Schönheit Gottes aussagen können. Wir sagen
dies in unserem Glauben an Jesus Christus, der sich in Liebe allen Menschen
zugewandt hat. Er ist die Fülle dessen, was der Mensch über
Gott wissen kann."
In Islam und Christentum treffen zwei konträre Offenbarungsvorstellungen
aufeinander. Für die Muslime offenbart sich Gott in seinem eigenen,
gesprochenen Wort in arabischer Sprache. Deshalb kann man den Koran nicht
übersetzen, sondern nur in andere Sprachen übertragen. Die Menschen
müssen sich hier diesem Wort zuwenden, es erlernen, studieren und
befolgen. Die Antwort des Menschen ist hier der Gehorsam. Für die
Christen offenbart sich Gott in Jesus Christus; er ist der "logos",
das Wort, das in die Welt kommt. Gott wendet sich hier dem Menschen zu
aus Gnade und Liebe. Die Antwort auf diese Zuwendung ist der Glaube. Das
Neue Testament berichtet über Jesus und ist somit nicht die Offenbarung
selbst, sondern die Schrift über die Offenbarung. Das Christentum
ist anders als der Islam keine Buch-, sondern eine Offenbarungsreligion.
Das Neue Testament kann man mit dem ihm innewohnenden Selbstverständnis
in alle Sprachen übersetzen, den Koran nicht.
In der arabischen Welt, auch in Kreisen der Al-Azhar,
führt diese Annahme zu folgender Konsequenz: Wenn Gott in einer bestimmten
Zeit an einem bestimmten Ort den Koran, die "Rechtleitung",
wie er genannt wird, herabsendet, dann ist die Gesellschaft zu jener Zeit
so, wie Gott sich die Welt wünscht. Die Kodifizierung jedes Aspektes
des menschlichen Lebens, wie sie der Koran leistet, macht eine Abstrahierung
oder eine Weiterentwicklung des Textes unmöglich, denn Gottes Wort
ist perfekt und kann nicht durch menschliche Modifikation verfeinert oder
übertroffen werden. Die islamische Gesellschaft soll sich so nicht
fort-, sondern zurückentwickeln, so wie sie zur Zeit des Propheten
war. Von einer skurrilen Frucht dieses Verständnisses berichtet der
Assistent des Nuntius in Kairo, Jean-Marie Speich: "In den ägyptischen
Medien wird bisweilen gesagt, daß Auto und Fernseher von Muslimen
erfunden worden seien. Würde die Mehrzahl der Muslime hier wissen,
daß Christen diese Dinge erfunden haben, würden sie die Benutzung
ablehnen."
Einen neuen Kreuzzug sehen die Muslime auf sich zurollen
Gemeinsame Erklärungen von Vatikan und Al-Azhar gibt
es zu dringenden Fragen politischer Art, etwa nach dem 11. September 2001,
während des Balkan -Krieges und zur Lage der palästinensischen
Flüchtlinge. Hier scheint es von seiten der Al-Azhar- Universität
eine zweifache Sprachregelung zu geben. In der gemeinsamen Erklärung
nach dem 11. September wird Gewalt und Terrorismus im Namen der Religion
als falsch gebrandmarkt, wenige Wochen später befindet der Oberste
Scheich der Universität, Sayyed Tantawi, Selbstmordattentate prinzipiell
für gut. Im Zusammenhang mit dem letzten Irak-Krieg wurde von seiten
der AL-Azhar von einem "neuen Kreuzzug" gegen die Muslime gesprochen.
Der Heilige Stuhl hat daraufhin Einspruch erhoben. Nach einer beruhigenden
Stellungnahme von seiten der Al-Azhar, die Wogen glätten sollte,
stand der Begriff Kreuzfahrer wenige Tage später wieder in den Blättern
des Landes.
Scheich Tantawi, der oberste Schirmherr des Komitees für
den Dialog mit den Monotheistischen Religionen, hat noch in einer Predigt
im April 2002 die Juden "als Feinde Gottes und Abkömmlinge von
Schweinen und Affen" bezeichnet. Schon die Doktorarbeit des Höchsten
Geistlichen des Landes aus den späten sechziger Jahren widmete sich
den "Kindern Israels" und ihrem vermeintlichen Anspruch auf
das Heilige Land. Wie ernsthaft unter diesen Vorbedingungen Dialog, Verständigung
mit Menschen anderer Religion und Herkunft betrieben werden kann, bleibt
offen. Die Gelehrten der Al-Azhar-Universität jedenfalls sind keine
Freunde des Dialogs mit den Christen und den Juden.
Von seiten der Regierung werden die Kleriker für
die Moscheen ernannt, was Unmut im Land hervorruft. Immer mehr "illegale"
Gebetsstätten entstehen in Ägypten in Seitenstraßen, Kellern
und Hinterhöfen. Wären morgen Wahlen, würden die moderaten
Islamisten gewinnen, würde die Sharia als Gesetz eingeführt.
Unterstützen denn die Gelehrten der Al-Azhar das säkulare politische
System? Professor Mansour hebt die Augenbrauen und lächelt. "Nein",
sagt er. Nach einer Pause ergänzt er: "Glaube ich."
Mansour und Fatallah sitzen am späten Nachmittag
zusammen im großen Zimmer des Fachbereichs. Die Studenten sind nach
Hause gegangen, im Nebenzimmer erledigen die Assistenten ihre Aufgaben.
An den Wänden hängen gerahmte Poster von Neuschwanstein, dem
Hamburger Hafen und der Wartburg. Die beiden werden gleich aufbrechen,
um einer Gruppe von Frauen, die am normalen Unterrichtsleben der Fakultät
aufgrund ihres Geschlechts nicht teilnehmen können, in privaten Abendstunden
die Kultur und Religion Europas nahezubringen. Alle diese Frauen sprechen
deutsch, sie haben auf einer der drei deutschen kirchlichen Schulen in
Kairo ihren Schulabschluß gemacht. Die beiden Dozenten lesen die
Einleitung des neuen Buches von Professor Mansour. "Möge Allah
mit dieser meiner Arbeit zufrieden sein", heißt es da. Das
Werk von Mansour ist mehr eine Apologie des Koran als eine Einführung
in das literarische Wesen des Buches. Die Anwendung historisch-kritischer
Methoden war eben von vorneherein nicht intendiert. "Wenn die Europäer
den Koran verstehen, wenn sie die Feinheit der arabischen Sprache sehen,
müssen sie doch glauben, daß das Hinterfragen des Textes ohne
Belang ist." Daraufhin ist das Buch angelegt. Darin sind die beiden
Männer sich einig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.5.2004
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