Wandel in der Wüste
An der Ben-Gurion-Universität wird das Leben der Negev-Beduinen erforscht
von Catherine Hirschwitz

Die Unterschiede sind groß, zwischen der liberalen westlichen Kultur, die auf der individuellen Freiheit basiert, und traditionellen Kulturen, für die Kollektivismus und langsamer Wandel charakterisisch sind. Dieser Gegensatz ist besonders in Israel sichtbar, wo nicht nur Juden aus hundert Ländern und sehr unterschiedlichen Kulturkreisen zusammenleben, sondern auch Araber, Drusen und Beduinen.

Der Übergangsprozeß, den die Beduinengesellschaft im Negev durchlaufen hat, spiegelt diese Konfrontation der Weltbilder wider. Ein Beduine verläßt sich weniger auf sich selbst und mehr auf seinen Stamm, um etwa ein Haus oder eine Arbeit zu finden. Jede persönliche Entwicklung muß der Gesellschaftsnorm entsprechen und mit der Gemeinschaft abgestimmt sein. All diese Aspekte des Beduinenlebens werden von der westlichen israelischen Kultur in Frage gestellt. Viele der rapiden Veränderungen, die die Beduinen in den vergangenen fünfzig Jahren erlebt haben, widersprechen ihrer traditionellen Kultur. Außerdem ging mit der ultraliberalen Wirtschaftspolitik auch eine weniger großzügige Fürsorgepolitik des Staates Israel einher. Abraham Doron von der Hebräischen Universität Jerusalem stellt fest, daß Israel aus Inseln von hervorragenden Leistungen und aus Ozeanen von Unwissenheit und Armut besteht. Das Zentrum für Beduinenstudien und -entwicklung an der Ben-Gurion Universität in Beershewa erforscht Probleme und Chancen dieser speziellen Gruppe israelischer Bürger. In Zusammenarbeit mit der Konrad- Adenauer-Stiftung trafen sich hier kürzlich auch Fachleute - Beduinen und Juden - aus verschiedenen Einrichtungen, um die Lage zu diskutieren.

Ein Forschungsgegenstand ist die Rolle der Frauen. Khawla Abu-Baker vom Emek Yezreel College spricht dabei von einem "inneren Kolonialismus" - aus religiösen, sozialen und kulturellen Gründen werden Beduinenfrauen Grundrechte vorenthalten. Die meisten dürfen weder zur Schule gehen noch sich ihren Lebenspartner aussuchen. Ein Drittel der Beduinenfamilien im Negev lebt polygam, also in Familien mit einem männlichen Oberhaupt und mehreren Ehefrauen. Sogenannte Ehrenmorde an Mädchen und Frauen (etwa nach Vergewaltigungen) gibt es immer noch. Laut Untersuchungen wird jede zweite Beduinenfrau mißhandelt.

1988 beziehungsweise 1995 begannen die ersten Beduininnen und Drusinnen ein Studium an israelischen Universitäten. Dort erlebten sie einen Kulturschock. Plötzlich wurden sie mit Individualismus und Pluralismus konfrontiert. Das Äußern persönlicher Gedanken und Überzeugungen wurde ermöglicht und gefordert. Den größten Schock erlebten sie bei der Rückkehr ins Dorf. Sie wollten nicht mehr in den alten sozialen Käfig eingesperrt werden. Sie sitzen fest zwischen zwei Welten und führen ein schizophrenes Leben. Eine Drusin konnte zwar Doktorandin sein, durfte aber ohne Begleitung eines männlichen Familienmitglieds weder zur Arbeit fahren noch einkaufen gehen. Dies hat sich geändert. Wurde eine studierende oder arbeitende Frau früher als Makel für ihre Familie betrachtet, so arbeiten heute immer mehr Frauen in ihrem gelernten Beruf. Ihre Arbeit ist ein Teil des Ehevertrags geworden und verleiht ihrer Familie und ihrem Mann einen sozial angeseheneren Status.

Marwan Dwairy von der Universität Haifa hält es deshalb für wichtig, die westlichen Theorien zu variieren. "Es ist unbedingt nötig, mit den Familien zusammenzuarbeiten, um deren kulturelle Normen und Werte zu verstehen." Das gilt besonders, wenn es um die Gesundheitsversorgung geht. Dwairy weiß, daß in der arabischen Gesellschaft nur wenige etwa mit psychischen Problemen den Arzt aufsuchen. Geisteskrankheit ist mit Stigmatisierung verbunden und wird innerhalb der Familien "behandelt". Einerseits seien deshalb multikulturelle Kliniken mit Sozialarbeitern und Psychologen nötig, die mit den verschiedenen Bräuchen vertraut sind. Zugleich müsse das Bewußtsein der arabischen Öffentlichkeit für Geistesstörungen und deren Behandlung geweckt werden, um Unwissenheit zu bekämpfen. Auch andere spezifische Gesundheitsprobleme sind sowohl der israelischen Mehrheitsgesellschaft als auch den Beduinen selbst noch zu wenig bewußt. Die Beduinengesellschaft hat eine der höchsten Geburtenraten der Welt. Armut und die verbreitete Sitte, Ehen innerhalb der eigenen Familie zu schließen, haben enorme Auswirkungen. Geburtsfehler wie Taubheit sind sehr häufig. Auch der schnelle Übergang zum modernen Leben hat Folgen. Vor fünfzig Jahren noch fast unbekannt, ist Diabetes inzwischen eine sehr info häufige Krankheit geworden, die von vielen nicht erkannt wird. Auch Drogenmißbrauch ist ein wachsendes Problem.

Ein anderer Aspekt dieser Übergangsgesellschaft tritt bei den heutigen Erziehungsanforderungen zutage. 62 Prozent der Beduinen im Negev unter achtzehn Jahren benötigen dringend langfristige Hilfe. Lehrer und Schuldirektoren sind mit Armut und Arbeitslosigkeit (60 Prozent der Schulkinder sitzen hungrig im Unterricht, 30 Prozent der Väter sind arbeitslos), mit Drogen und Gewalt konfrontiert. Viele Kinder verlassen trotz Schulpflicht vorzeitig die Schulen und drohen damit die Unwissenheit der Elterngeneration fortzuführen - mehr als die Hälfte der Eltern sind Analphabeten.

Trotz allem gibt es Hoffnung. Sonderprogramme für wissenschaftlich-technologische Ausbildungen sowie spezielle Projekte zur Eingliederung in das akademische Bildungssystem wurden für die Beduinenschüler im Negev mit Hilfe der Konrad-Adenauer- Stiftung entwickelt. In Rahat hat ein Programm begonnen, das Müttern klar machen soll, wie wichtig Schule für ihre Kinder ist, und wie sie ihnen helfen können. Die Ergebnisse zeigen, daß Beteiligung der Mütter - auch der ungebildeten - die Leistungen der Kinder verbessern kann.

In den vergangenen Jahren haben die Beduinen angefangen, sich zu organisieren. Sie gründeten 1997 den "Regionalrat für die nicht anerkannten Siedlungen". Obwohl nicht vom Staat anerkannt, gilt der Rat als eine Art Munizipalregierung. 1999 stellte der Rat eine alternative Planung für die Beduinensiedlungen im Negev 2010 vor, die den Vorstellungen der Regierung zum Teil deutlich widerspricht. Die Förderung der Beduinen ist in dieser Hinsicht ein Beispiel, das zu mehr Dialog und Verständnis zwischen den verschiedenen Gesellschaften innerhalb Israels beitragen kann.

In der Negev-Wüste leben rund hunderttausend arabische Beduinen, die israelische Staatsbürger sind. Nur die wenigsten sind Nomaden. Ungefähr die Hälfte lebt in den Siedlungen, die Israels Regierung für sie in den sechziger und siebziger Jahren eingerichtet hat. Die andere Hälfte lehnt die Ansiedlungspläne ab und wohnt in landwirtschaftlich geprägten Dörfern. Mit 4,8 Prozent Bevölkerungswachstum, 65 Prozent Kindern und 0,2 Prozent Akademikern ist die beduinische Gesellschaft in der modernen Welt bedroht.

Das Zentrum für Beduinenstudien im Internet: www.bgu.ac.il/bedouin/
Jüdische Allgemeine, 2.9.2004

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