Hat die Orthodoxie zuviel Einfluss auf die israelische Gesellschaft?

Pro von Roni Forman

Die Orthodoxen haben mehr Einfluß, als für Israel und die jüdische Welt insgesamt gut ist. Die zu den Haredim gehörenden Einwohner Israels bilden einen wesentlichen Bestandteil der israelischen Gesellschaft. Überhaupt nichts spricht dagegen, daß ihre Ansichten in einem demokratischen Land zum Ausdruck gebracht werden. Ihre Traditionen und Werte sind zu achten, auch wenn sie von der Mehrheit der säkularen Bevölkerung nicht geteilt werden.

Im Bereich der Politik streben die Haredim und die Orthodoxen einen dominierenden Einfluß auf das Leben in Israel an. Sie tun das mit stillschweigender Billigung der wichtigen säkularen Parteien Likud und Arbeitspartei. Die Politiker aus dem Lager der Orthodoxen und ihre Unterstützer sorgen dafür, daß in Familienfragen (wie Heirat, Scheidung, Stellung der Frau) das orthodoxe Familienrecht die Oberhand behält und daß nach wie vor in Fragen des Schabbat und anderen Fragen der religiösen Observanz Zwangsvorschriften gelten.

Ebenso wichtig ist, daß diese Kreise mit allen Mitteln die offizielle Anerkennung von Strömungen und Philosophien des Judentums verhindern, die von ihren eigenen Auffassungen abweichen. Gewiß haben das Reformjudentum und das konservative Judentum ein Existenzrecht, aber die Orthodoxen und ihre säkularen Unterstützer stellen sicher, daß diese Formen des Judentums so gut wie keine staatliche Unterstützung erhalten. Nach Ansicht von Ronny Brison, Knessetmitglied der Shinui-Partei und in der Fraktion zuständig für Fragen des Verhältnisses von Religion und Staat, ist das vor dem Hintergrund der fast fünfhundert Millionen Schekel Zuschüsse zu sehen, die jährlich allein an die Jeschiwot der Haredim und der Orthodoxen gehen, wozu noch vier bis fünf Milliarden Schekel zu rechnen sind, die in den Etats der verschiedenen Ministerien für diese Gruppe vorgesehen sind.

Das erfüllte und erfüllt den Tatbestand einer offensichtlichen und schamlosen legalisierten Diskriminierung nichtorthodoxer Formen des Judentums. Dadurch werden in den jüdischen Gemeinden der Diaspora und insbesondere in Nordamerika, wo das Reformjudentum und das konservative Judentum breite Anerkennung genießen, Hunderttausende engagierte und gläubige Juden abgeschreckt, die sich den orthodoxen Auffassungen nicht anschließen wollen. Die einzige Partei, die sich gegen den Würgegriff der Haredim und der Orthodoxen im Familienrecht und in der israelischen Gesetzgebung allgemein zur Wehr setzt, ist Shinui. Die fünfzehn Knessetabgeordneten von Shinui wurden vor allem gewählt, weil sie versprochen haben, sich für ein Ende des Monopols der Politiker aus dem Lager der Haredim und der Orthodoxen auf das jüdische religiöse Leben einzusetzen. Die derzeitige israelische Regierung - obgleich wegen der Pläne von Premierminister Sharon zum einseitigen Rückzug aus dem Gasastreifen zerstritten - ist die erste Regierung Israels seit vierzig Jahren ohne Beteiligung der Schas-Partei und der ultraorthodoxen Parteien des Vereinigten Tora-Judentums.

Die Politiker der Haredim haben sehr "flexible" Grundsätze, was bedeutet, daß sie über viele Jahre hinweg alles mittragen konnten, was Likud oder Arbeitspartei umsetzen wollten, solange die jeweils siegreiche Partei die Überweisungen an die Einrichtungen der Haredim nicht einstellten. Es handelt sich vom Stimmenanteil her um eine kleine Partei, die sehr genau wußte und weiß, wie sie mit Likud oder Arbeitspartei umzugehen hat - je nachdem, wer ihr gerade das bessere "Angebot" macht.

Bei weitem die Mehrheit der Bürger Israels ist säkular eingestellt. Israel ist ein weltlicher Staat auf der Grundlage jüdischer Philosophie und Kultur. Staat und Religion sind getrennt. Das ist nicht anders als in Deutschland, das ein säkularer Staat auf der Grundlage christlicher Philosophie und Kultur ist. In Deutschland wird der Sonntag als Ruhetag oder als Tag der Religionsausübung eingehalten, in Israel auf ganz ähnliche Weise der Sonnabend. In Deutschland wird Weihnachten gefeiert, in Israel Chanukka. Beide Staaten sind säkular, und beide sind Demokratien. Die Halacha, das jüdische religiöse Gesetz, bildet nicht das Recht des Staates Israel, auch wenn die Haredim das nur zu gerne sähen.

Contra von Jonathan Rosenblum

Ari Shavit, einer der bekanntesten Journalisten Israels, lieferte vor kurzem in einem Gespräch mit dem bekannten Schriftsteller Aharon Appelfeld ein weiteres Meisterstück seiner Charakterisierungskunst ab. Shavit bemerkt zu Beginn, daß die etablierte israelische Literaturszene sich gegenüber Appelfeld trotz seines internationalen Bekanntheitsgrades immer ambivalent verhalten hat. Shavit beschreibt den in Czernowitz geborenen Appelfeld, mit acht Jahren alleiniger Überlebender seiner Familie: "Nicht subversiv, aber auch nicht wirklich Zionist. Er gehört nicht wirklich dazu, ist aber auch keiner, der nirgendwo hingehört. Ein Jude."

Im ganzen Gespräch stellt Appelfeld klar, daß die ambivalente Haltung des israelischen Establishments mehr als gerechtfertigt ist, da er selbst zwischen sich und diesen Kreisen eine große Kluft sieht. Appelfeld stammt zwar aus einer assimilierten Familie, kehrt aber immer wieder zur jüdischen Geschichte zurück. "Die schwerste Krankheit der israelischen Gesellschaft" sieht er darin, "daß so viele Menschen in ihr sich vollständig von ihrer Vergangenheit abgeschnitten haben. Sie haben ihre Vergangenheit amputiert." Und damit haben sie "die inneren Organe ihrer Seele herausgenommen". Zurück bleibt nur "ein schwarzes Loch der Identität".

Diese Amputation der Vergangenheit ist nach Auffassung Appelfelds kein Zufall, sondern ein charakteristischer Zug moderner Bewegungen. Insbesondere der Zionismus hat sich mit großer Heftigkeit "gegen die Diaspora gewandt und gegen jüdische Reichtümer angekämpft". Der Preis, der dafür heute zu zahlen ist, ist das "Schwinden der jüdischen Seele".

Appelfeld geht noch weiter und beschuldigt alle modernen jüdischen Bewegungen, "den Judenhaß verinnerlicht" zu haben, dem die europäischen Juden immer ausgesetzt gewesen seien. "Die modernen Juden wollen keine Juden sein. Sie laufen davor weg. Alles, was sie zwingt, an ihre Jüdischkeit zu denken, verursacht ihnen Unbehagen und Widerwillen. Sie finden es unästhetisch", so Appelfeld gegenüber Shavit. Genau wie die assimilierten Juden Deutschlands, die sich kurz vor der Eingliederung und Aufnahme in die deutsche Gesellschaft wähnten und sich angewidert von den ankommenden Ostjuden abwandten, zeigen die modernen Juden Israels heute schreckliche Angst vor Mea Schearim.

Anita Shapira, eine der führenden Historikerinnen des Zionismus in Israel, hat gleichfalls eine Verinnerlichung der antisemitischen Kritik an den Juden durch viele frühe Zionisten festgestellt. Die frühen Zionisten übernahmen die Kritik der Aufklärung an der jüdischen Erniedrigung und wollten dieser Erniedrigung durch die Schaffung eines "neuen Juden" entkommen. entkommen. Shapira drückt das so aus: "Die jüdische nationalistische Bewegung orientierte sich an der Begriffswelt der sozialen und nationalen Bewegungen Europas, um zu bestimmen, was als hochstehend und was als niedrig, was als ehrenvoll und was als verabscheuungswürdig, was als bewundernswert und was als abscheulich anzusehen ist." Das Ergebnis war, daß Zionisten und Antisemiten dieselben "Bilder, Stereotype und Mythen" in bezug auf die Juden hatten.

Appelfeld geht noch weiter und behauptet, dieser verinnerlichte Selbsthaß erkläre zu einem guten Teil die Haltung der heutigen israelischen Intelligenz, ihren Mangel an Einfühlungsvermögen für die Juden und ihre Geschichte. Dieser Mangel spiegelt sich im modernen Israel von heute im mangelnden Interesse an der "kollektiven jüdischen Seele" wider. Noch verräterischer in dieser Hinsicht, so Appelfeld, sei die Haltung der intellektuellen Elite im arabisch-israelischen Konflikt. "Es ist höchste Zeit, daß wir auch uns selbst gegenüber ein wenig Mitgefühl zeigen, ein wenig Eigenliebe. Erbarmen mit den Arabern, ja. Aber auch ein wenig Erbarmen für die Juden. Auch sie verdienen, in einer freundlichen Welt zu leben. Wir dürfen auch sie lieben", so Appelfeld.

Wenn die zionistische Bemühung, die modernen Israelis von der kollektiven jüdischen Geschichte abzuschneiden, nach Appelfelds Worten ein schwarzes Loch der jüdischen Identität hinterlassen hat, dann konnte der Zionismus dieses Loch jedenfalls nicht füllen. "Der Zionismus", so Appelfeld, "hat aufgehört, sich um die Einpflanzung neuer Wurzeln zu bemühen."

Mit dem Scheitern des Zionismus in seinem Versuch, die jüdische Identität durch eine mächtige neue Identität zu ersetzen, befaßt sich auch Noah Efron. Efron sucht zunächst nach einer Erklärung für die Obsession säkularer Israelis mit den Haredim. Diese Obsession drückt sich in vielen Fällen in ganz irrationalem Haß aus. Efron berichtet von einem Gespräch mit einer israelischen Professorin, die er als die "freundlichste Israelin, die ich überhaupt kenne" beschreibt. In diesem Gespräch schrie sie ihn fast an, als er ihr von seiner Absicht erzählte, nach zwei Freisemestern im Ausland nach Israel zurückzukehren, und sie prophezeite ihm, daß seine kleine Tochter ihn eines Tages aus einem Stacheldrahtlager heraus dafür verfluchen werde, aus einem Lager, wie die Haredim sie heute schon für säkulare Juden planen.

Dieser Haß auf die Haredim ist also nur ein weiterer Ausdruck für die mangelnde Identität und Selbstachtung, die den modernen Juden charakterisiert.

Roni Forman ist Vorsitzende des englischsprachigen Forums von Shinui. Jonathan Rosenblum ist Gründungsdirektor von "Jewish Media Resources" in Israel.

Jüdische Allgemeine, 15.9.2004

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