Der Anfang einer Reise auf der Suche nach Versöhnung
oder: Auf der Suche nach Menschen der Versöhnung
Momente der Begegnung mit Albert H. Friedlander

von Bertold Klappert

Der plötzliche Abschied von A.H. Friedlander hat uns alle unendlich betroffen gemacht. Allen Freunden und Freundinnen von Albert ist es so ergangen. Die Nachricht, die ich sofort von Jonathan Magonet, der zur Gastdozentur 2004 in Wuppertal weilte, erhielt, traf uns alle ohne Vorankündigung. Sein Bild steht nun auf meinem Schreibtisch. Und dieses Bild vor Augen schreibe ich über Momente meiner Begegnung mit dem Rabbiner, dem Lehrer, dem Menschen und am Ende dem Freund. Andere müssen Anderes berichten und Weiteres erzählen. Ich würdige hier nicht das wissenschaftliche Werk von Albert. Das soll an anderer Stelle geschehen. Ich schreibe als betroffener Mensch, dem Albert auf seiner langen Reise und Suche nach Versöhnung begegnet ist und den er unendlich reich beschenkt hat.

I Die Anfänge der Begegnung

Das Jahr 1977 werde ich nicht so leicht vergessen. Ich referierte zusammen mit Albert und anderen in der Akademie in Aachen über "Exodus und Kreuz im jüdisch-christlichen Dialog": Albert über die jüdische Grunderfahrung des Exodus, die sich besonders in der Pessach-Haggada niedergeschlagen hat und die ständig - erst recht nach der Shoah - neu aktualisiert werden muss. Das Gedenken, das Erinnern wurde zum zentralen Thema seines Vortrages. Ich selber referierte über die älteste Tradition der Passion, des Passahmahles und des Kreuzes Jesu im Neuen Testament und deutete Passah und Passion "nicht gegen Israel, sondern für Israel und die Welt der Völker". Ich konnte nicht ahnen, dass ich diesem Thema später durch Albert in Leo Baecks Schrift von 1938 "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte" in veränderter und vertiefter Gestalt wieder begegnen würde.

Albert und ich trafen uns im theologischen Denken, aber eine Begegnung von Mensch zu Mensch stand noch vor uns. Es folgte 1983 die große Luther-Tagung in der Akademie in Mülheim zu "Martin Luther und die Juden", die unter der Schirmherrschaft von Johannes Rau, dem damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, stand. Es war damals die einzige Tagung im Lutherjahr, die - durch den unvergessenen Heinz Kremers initiiert - sich dem schwierigen Thema wirklich stellte. Albert referierte damals in ergreifender Weise über "Martin Luther und wir Juden". Er stellte sich dem schrecklichen Antijudaismus Luthers und dessen verbrecherischen Folgen im Dritten Reich und stieg zu Luther hinab in den tiefen Keller des Judenhasses: " So sitzen wir uns gegenüber, da im dunklen Keller, und Bruder Martin kann mich gar nicht sehen. Was er sieht, ist eine Zerrfigur, eine höllische Maske. Und das tut mir weh". Doch dabei blieb Albert nicht stehen: "Ach, Martin! ... Hier im Dunklen will ich nicht Abschied nehmen. Wir müssen nach oben gehen, wo du mich wieder als Einen des Volkes Gottes erkennen kannst" (296f).

Auf diesem Kongress zum 500. Geburtstag Luthers im Jahre 1983 referierten erstmals jüdische Wissenschaftler und Historiker wie Ben-Zion Degani, E.L. Ehrlich, G.B. Ginzel und P. Lapide in aufregender und sachkundiger Weise über Luther. Albert aber sprach über 500 Jahre hinweg mit Luther selber: "Wir sind beide Kinder Abrahams. Wir haben gemeinsame Hoffnungen für die Endzeit. Aber um eins muß ich dich im Moment des Abschieds bitten: Verschließ die Folterkammer! Laß sie nie wieder öffnen! Und lehre deine Nachkommen, dass es Zeiten gibt, wo die Mitmenschlichkeit die Dogmen besiegen muß" (297).

Nur ein Jahr später, 1984, stand Albert vor einer weiteren, ähnlich schwierigen Aufgabe. Das Bombenattentat auf Hitler am 20. Juli 1944 sollte seitens der politischen Klasse der Bundesrepublik Deutschland erstmals in einem Staatsakt erinnert werden. Durch Vermittlung von Eberhard Bethge war Albert eingeladen worden, die Gedenkrede zu halten. Albert zögerte und stellte zunächst Bedingungen des wahren Erinnerns und des echten Gedenkens: Ich werde dann erwähnen müssen, "dass diese Gruppe von Offizieren nur der kleinste Teil des Widerstandes gegen Hitler war ..., dass der wirkliche Widerstand nach 1933 zumeist von Kommunisten kam und dass der Widerstand im Getto und in den (KZ-)Lagern bis heute unterschätzt wird". Albert hielt die später veröffentlichte Rede in Gegenwart des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und im Beisein des Bundeskanzlers Helmut Kohl, dessen distanzierende Rede von der "Gnade der späten Geburt" von Albert in vielen seiner Bücher nachträglich kritisiert wurde. Denn "Helmut Kohls Berater ist (der Historiker) Herr Stürmer, der genau diese Verantwortung (der Deutschen gegenüber der Verbrechensgeschichte des Dritten Reiches) relativieren will und der es Bundeskanzler Kohl erlaubte, ausgerechnet in Israel sich von der Schuld zu distanzieren" (Ein Streifen Gold 25).

Die Frage, die Albert 50 Jahre nach dem 20. Juli 1944 aus Berlin 1984 mitbrachte, lautete: Würde seine Reise und seine Suche nach Menschen der Versöhnung in Deutschland scheitern? Oder gab es in der Begegnung mit Menschen Anfänge und Momente der Versöhnung im Gedenken an die Nacht der Shoah und im Erinnern des Holocaust?

II "Ich suche die Brüder"

Im Jahre 1988 folgte Albert dem Ruf, die Gastprofessur für "Theologie, Geschichte und Philosophie des Judentums" an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal für das Sommersemester 1988 wahrzunehmen. Diese Professur war als Zeichen der Versöhnung seit dem Rheinischen Synodalbeschluß von 1980 eingerichtet worden, in welchem sich die Rheinische Kirche als erste Kirche in Deutschland zur "Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust" bekannt hatte. Es sollte Alberts erster längerer Aufenthalt in Deutschland sein, nachdem er 50 Jahre vorher in Berlin 1938 als junger Mensch die Synagogenbrände erlebt hatte, der Glaube an die Rechtsinstitutionen und Menschen in ihm zerstört wurde und er 1939 Berlin für immer verlassen hatte. "Aber jetzt muss eine eiserne Wand gesprengt werden. Nach 50 Jahren war ich wieder ein Jude in Deutschland" (Streifen 12). Albert hat unsere Begegnung in Wuppertal in seinem Buch "Ein Streifen Gold. Auf Wegen zur Versöhnung" (1989) ausführlich beschrieben.

Albert eröffnete seine Wuppertaler Vorlesung über "Leo Baeck und die Struktur jüdischer Theologie in den Jahren 1920 bis 1930" mit einem bis heute unveröffentlichten Vortrag über "Jüdisches Selbstverständnis nach Auschwitz", in welchem er wieder mit dem "Sachor!", dem Gedenken der Nacht begann und die Studierenden unmittelbar anredete: "So sehe ich jüdische Identität nach Ausschwitz ... So weit reicht das Denken. Aber die Begegnung steht noch vor uns. Was wird sich ändern? Und wie weit werden wir zusammengehen? Ich grüße Euch in großer Hoffnung: aus meiner jüdischen Identität".

Albert beendete seine erste Vorlesungsstunde mit einem Beispiel für den Midrash und hielt eine Predigt über 1. Mose 37,17ff, die ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde: Josef sagt: "Ich suche meine Brüder", et achai ani m'vakesch. Mit Albert kam der Josef des Alten Testaments erneut und aktuell auf die Studierenden zu. Die Brüder wollen Josef töten und in irgendeine Zisterne, achad ha-borot, werfen. Und Albert fragte: "Warum nicht in irgendein dunkles Tal, das Babi Jar heißt? Warum nicht in einen Gasofen?" Die Brüder des Josef sagen: "Siehe, da kommt der Meister der Träume, der baal ha chalamot!" Und Albert fragte weiter: "Wer waren die Meister der Träume in unserer Zeit?" Und er antwortete: "Freud, Einstein und Kafka, Leo Baeck und Viktor Frankl, P. Celan und E. Wiesel. In dem Versuch, uns Leo Baeck zu nähern, müssen wir die dunkelsten Täler unserer Landschaft besuchen" (Streifen 48f).

Die Begegnung mit den Menschen fand dann anfangsweise während des Semesters statt: z.B. mit den Studierenden in der Mensa. Im Speisesaal hing eine vergrößerte Fotografie vom Protestmarsch Martin Luther Kings mit A.Y. Heschel u.a. von Selma nach Montgomery, auf welcher Albert sich in der dritten Reihe wiedererkannte. Studierende wurden darüber hinaus zur Shabbat-Feier der Familie Friedlander mit Evelyn und Ariel eingeladen: "Der Tisch wurde wieder ein Altar und die Tischgesellschaft eine Gemeinde. Nur mussten wir vorsichtig sein, dass dieses Erlebnis nicht missbraucht wurde: die jüdischen Gebräuche werden manchmal missbraucht, indem das Judentum einfach als Vorstufe für das Christentum missverstanden wird ... Die Studenten nahmen teil an der Shabbat-Feier der Familie Friedlander und erkannten, dass ganz unabhängig und außerhalb des Christentums ein authentisches (jüdisches) Leben besteht" (Streifen 34).

Ich brachte Albert zur Wuppertaler Wohnung des damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau, der Albert als jüdischen Gastdozenten in Wuppertal sehen und sprechen wollte. "Auch über die Hoffnung, in den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen Lehrstühle für die Erforschung des Judentums einzurichten, wurde gesprochen". Rau plante, an der Bergischen Universität Wuppertal und an der Universität Bonn Lehrstühle für Judaistik als Zeichen auch von staatlich-institutioneller Umkehr und Erneuerung einzurichten. Jakob Petuchowski, ebenfalls ein Leo-Baeck-Schüler, nahm dafür Gespräche mit der Bonner Fakultät auf. Die Pläne Raus scheiterten aber an dem Unwillen der dortigen Dekane, dieses Angebot der Landesregierung in die institutionelle Tat umzusetzen. Albert war von Rau, der als erster Bundespräsident aus Israel die Einladung bekam, in der Kenesset auf Deutsch zu sprechen, menschlich tief beeindruckt.

Wir brachen verspätet vom Besuch bei Rau auf und Albert wusste, dass es unmöglich war, noch rechtzeitig das Flugzeug nach London in Düsseldorf zu erreichen. Da sich die Zeit des Abfluges aber um zwei Stunden verzögerte, kam Albert noch rechtzeitig zum Start an: "Ich fand eine verärgerte Gruppe von Fluggästen: zwei Stunden Verspätung! Als ich diese Nachricht mit Freude aufnahm, wurde ich ziemlich unbeliebt bei den Mitpassagieren" (53).

Im Seminar behandelten wir mit den Studierenden die beiden Bücher Baecks: "Das Wesen des Judentums" und "Dieses Volk. Jüdische Existenz". Über dem Lehrer und Rabbiner Baeck fanden Albert und ich uns nicht nur im Denken, sondern als Menschen, als Jude und als Christ. Es entstand - angestoßen und mit herausgegeben durch Prof. Werner Licharz - erstmals der Plan einer Gesamtausgabe des Werkes von Leo Baeck, weil dieses den Studierenden literarisch nur völlig unzureichend zur Verfügung gestellt werden konnte. Albert lud mich auch ein, zur Taschenbuch-Neuausgabe seines großen Buches über Leo-Baeck im Christian Kaiser Verlag (1990) ein ausführliches Nachwort "Brücken zwischen Judentum und Christentum" (285-328) zu schreiben, dem er seinerseits ein kurzes Vorwort voranstellte (283f). Unsere Gespräche über Baeck dauerten bis tief in die Nächte und wir fanden darüber zur Freundschaft. Zum Abschluss des Sommersemesters 1988 schenkte mir Albert seine inzwischen veröffentlichte Rede zum 20. Juli 1944 "Dimensionen des Widerstandes" mit der Widmung: "Für Bertold, in Liebe und Anerkennung. Dein Freund Albert".

III Schritte aus der Nacht in die Morgendämmerung

Nachdem eine Brücke zwischen Judentum und Christentum in der Begegnung zweier Menschen gefunden war, versuchten wir Schritte auf dieser Brücke zu gehen: Wir bekamen von der "Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" die Aufgabe, auf den Kirchentagen die Dialogbibelarbeit zu halten, wobei die Hallen wegen Albert immer voll besetzt waren. Dabei ließ sich Albert - den Wegen seines Lehrers Baeck und dessen Schrift "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte" (1938) folgend - ohne Vorbehalt auch auf die rabbinische Auslegung neutestamentlicher Texte ein. Ich nenne nur zwei Beispiele: Auf dem Kirchentag in Berlin 1989 dialogisierten wir über das Gleichnis vom sprossenden Feigenbaum (Mk 13,28-33), mit dem Baeck seine Schrift von 1938 beendet hatte. Der Dialog erfolgte unter dem Stichwort "Zeichen des Sprossens der Erlösung". Auf dem Kirchentag in Dortmund 1991 legten wir gemeinsam die Geschichte von der Heilung des epileptischen Jungen (Mk 9,14-29) unter dem Motto aus: "Damit die Herrlichkeit und Schechina ADONAIs offenbar werde". Wir referierten 1996 auf dem Leo-Baeck-Symposion in München gemeinsam mit anderen über Leo Baeck, was dann in dem Band "Zwischen Geheimnis und Gebot" (1997) dokumentiert wurde. In dieser Zeit erschienen die von Albert und mir betreuten und kommentierten Leo-Baeck-Werkbände I "Das Wesen des Judentums" (1998), II "Dieses Volk" (1996) und IV "Aus drei Jahrtausenden" (2000), darin die wichtige Schrift Baecks aus dem Jahre 1938: "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte".

Auf dem Kirchentag in Frankfurt 2001 übernahm ich die Moderation eines Dialoges, ja einer Kontroverse zwischen Albert und E.L. Ehrlich, den beiden großen Baeck-Schüler in England und in der Schweiz. Das Gespräch fand mit zahlreichen Zuhörern im Jüdischen Museum in Frankfurt statt und behandelte u.a. auch das Thema "Leo Baeck in den Jahren des NS-Regimes" und "Bislang unbekannte Quellen zur Entstehungsgeschichte des Werkes 'Die Entwicklung der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland' " (Leo-Baeck-Katalog, Frankfurt 2001, 77ff, 103ff). So wie sich Albert zuvor gegen Hannah Arendts Verdächtigung, Baeck habe in Theresienstadt die Menschen über den Vernichtungsweg nach Auschwitz belogen und getäuscht, gewandt hatte, so setzte er sich jetzt gegen Ehrlich emotional und engagiert für die persönliche Integrität Baecks auch in der fraglichen Zeit vor 1943 ein. Hier war er nicht bereit, auch nur den leisesten Verdacht eines Schattens, der auf Baeck fallen könnte, zu dulden. Der so sanfte und menschlich so freundliche Albert wurde hier zum kämpferischen, ja zornigen Albert!

IV Letzte Begegnungen und Abschied

Im Sommersemester 2000 folgte Albert ein zweites Mal der Einladung, ein Gastsemester mit den Studierenden an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal zu verbringen. Albert las über das Thema "Geschichte, Theologie und Philosophie des Judentums von Mendelssohn bis Rosenzweig". Dabei kamen in Anschluss an Baecks Vorlesungen in Münster "Von Mendelssohn bis Rosenzweig" (1956) und dessen Buch "Epochen jüdischer Geschichte" (1956) auch Heine, Buber, Heschel und E. Bloch zur Sprache. Albert hatte im Jahr zuvor die Franz-Rosenzweig-Dozentur in Kassel und 1995 die Martin-Buber-Professur der Universität Frankfurt wahrgenommen. Im Seminar behandelten wir die Aufsätze Baecks, die wir dann in der Baeck-Werkausgabe Bd. V "Nach der Schoah - Warum sind die Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit" (2002) herausgebracht haben. Die Einleitungen, die ich zu einigen Texten Baecks schrieb, wurden von Albert gekürzt und überarbeitet und damit von ihm entscheidend verantwortet. Besonders wichtig war uns einer der letzten Aufsätze Baecks aus dessen Todesjahr 1956, den uns E.L. Ehrlich aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt hatte: "Judentum, Christentum und Islam", in welchem Baeck seine Vision des Friedens und der Versöhnung der drei abrahamitischen Religionen weltweit und für Israel-Palästina entfaltet hatte. In seinen politischen Stellungnahmen zum notwendigen Nebeneinander der beiden Staaten Israel und Palästina ist Albert dieser Vision Baecks literarisch und politisch-praktisch immer gefolgt: und zwar gegen die Politik der Schamirs und Kahanes und Scharons in Israel.

Ich verstehe im Nachhinein, warum Albert so gedrängt hat, die Baeck-Werkbände bis zu Michael A. Meyers großem Band VI "Briefe, Reden, Aufsätze" (2003) Jahr für Jahr herauszubringen und damit sein Lebenswerk zu vollenden. Er ahnte wohl, dass er dazu nicht mehr viel Zeit hatte, während ich für eine langsamere und "wissenschaftlichere" Herausgabe plädierte. Albert hatte auch diesmal recht!

Während dieses letzten Gastsemesters in Wuppertal referierte Albert auch in der dortigen Christlich-Jüdischen Gesellschaft über Heinrich-Heine, über den er zu einer menschlichen und wissenschaftlichen Begegnung mit Wolf Biermann während seines Aufenthaltes im Wissenschaftskolleg in Berlin fand. Als Albert von Wuppertal aus zum Katholikentag 2000 nach Hamburg aufbrechen musste, um dort zusammen mit Kardinal Lehmann zu referieren, entdeckte er, dass er kein passendes schwarzes Jackett bei sich hatte. Ich ermunterte ihn, bei seinem hellen Jackett zu bleiben. Das aber lehnte er ab. Ich habe ihm dann mein schwarzes Jackett ausgeliehen mit der Auflage, Kardinal Lehmann von mir in Erinnerung an die gemeinsamen Zeiten unserer Promotion sehr herzlich zu grüßen. So saß am Ende der jüdische Rabbiner neben dem katholischen Kardinal auf dem Podium, bekleidet mit dem Jackett des evangelischen Professors aus Wuppertal: Kleider machen Leute und bringen Menschen zusammen. Auch das möchte ich nicht unerwähnt lassen: Während ich Albert während seines Wuppertaler Aufenthaltes vor seinem jeweiligen Abflug nach London mit dem von ihm und seiner Familie sehr geschätzten Spargel vom Wochenmarkt versorgte, brachte er mir jedes Mal von der Firma "Wilkin and Sons" die von mir so geliebte Orangenmarmelade mit: Liebe geht eben auch durch den Magen!

Albert hat sich schon in Amerika, aber dann auch in Deutschland in erstaunlich offener Weise auf solche christlichen Theologen eingelassen, die sich dem NS-Regime entgegengestellt und sich theologisch auf den Weg der Versöhnung mit dem Judentum gemacht haben. So schrieb er über "Ein letzte Gespräch mit Paul Tillich" (1965), über seine Freundschaft mit Dorothee Sölle und seine Nähe zur ihrer Theologie nach der Schoah, über D. Bonhoeffer, dessen Weg er durch Eberhard Bethge näher kennenlernte, zuletzt auch über Karl Barth, den exilierten Staatsfeind Hitlers, dessen unentwegter politischer Widerstand gegen Hitler Albert beeindruckte und über dessen Lehre vom Nichtigen er 1991 einen Aufsatz verfasste: "Karl Barth und das Nichtige". Ich hatte Albert auf den § 50 der Kirchlichen Dogmatik, den Barth 1948 nach der Schoah publiziert hat, aufmerksam gemacht und ihm die entsprechenden Abschnitte fotokopiert nach London mitgegeben. Albert schenkte mir zum Abschied von seiner Wuppertaler Gastprofessur 2000 sein Buch "Das Ende der Nacht" (1995) mit der Widmung: "Für Bertold. In Liebe und Freundschaft. Immer, Dein Albert".

Ich bin Albert zuletzt 2003 auf dem Evangelischen Forum in Bonn über das Dokument "Dabru Emet", "Redet Wahrheit", das mein Freund M. Signer entscheidend entworfen hat, begegnet. Dort saß ich zwischen Albert und Edna Brocke und wir diskutierten kontrovers. Ich warnte Albert, der Dabru Emet mit unterschrieben hatte, davor, dass dieses Dokument, das auch ich begrüße, zu schnell von falscher Seite vereinnahmt und von traditionell-christlichen Positionen im Sinne einer Bestätigung missverstanden werden könnte. Albert ließ sich das gerne sagen. Dennoch teilten wir gemeinsam die Meinung, dass hier ein Anfang der Reise in die Versöhnung auch seitens des Judentums übernommen worden ist, der auf den Anfang der Erneuerung im katholischen und evangelischen Christentum seit 1965 hilfreich und wegweisend antwortete.

Anschließend verbrachten wir gemeinsam die Nacht im Hotel am Hofgarten in Bonn und hatten am folgenden Morgen noch ausgiebig Zeit, uns menschlich und theologisch auszutauschen.

Wir sprachen über "Leo Baeck in Deutschland", also darüber, wie das Werk Baecks in Deutschland wieder zur Wirkung gebracht werden könne und nicht in problematischer Weise orthodox vereinnahmt werden dürfe. Ich drückte dabei meine Enttäuschung darüber aus, dass Albert für sein Lebenswerk im Dienste von Martin Buber und Franz Rosenzweig und seines Lehrers Baeck nicht die Buber-Rosenzweig-Medaille oder den Leo-Baeck-Preis erhalten habe: ein - wie ich meine - beschämendes Zeichen für die sogenannten Verwalter des Leo-Baeck-Erbes in Deutschland. So saßen wir vertraut zusammen, wie wir zusammen mit Evelyn und meiner Frau im Wuppertaler Haus zusammengesessen und zusammen gegessen hatten. Ich befragte ihn zuletzt über das Verhältnis von Thora und Prophetie und über die problematische Vorliebe der Orthodoxie für die Thora im Unterschied zur Prophetie. Albert antwortete: "In der Thora ist viel Prophetisches und in der Prophetie ist viel Thora. Die Prophetie legt die Thora aus. Eine Alternative kann und darf es hier nicht geben!"

Bei seinem letzten Gastsemester in Wuppertal 2000 - so sagte ich bereits - schenkte mir Albert sein Buch "Das Ende der Nacht. Jüdische und christliche Denker nach dem Holocaust" (1995). Dort stellte er alle jüdischen und auch einige christliche "Reisende in die Morgendämmerung und in das Licht" vor, die aus der Nacht der Schoah kamen und anfangende Schritte in die Morgendämmerung unternahmen. Auch Albert ist in seinem ganzen Wollen und Wirken, in seinem ganzen Denken und noch mehr in seiner ganzen jüdischen und darin menschlichen Existenz ein solcher "Reisender aus der Nacht in die Morgendämmerung des anbrechenden Tages" gewesen.

Als ich am 15.7.2004 hier an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal zum meinem 65. Geburtstag emeritiert wurde, habe ich auch des kurz zuvor erfolgten Sterbens von Albert gedacht und in meiner Predigt über Hebräer Kap. 11 gesagt: Albert gehört nun auch zu der "Wolke der Zeuginnen und Zeugen", von denen der Hebräerbrief von Abraham und Sara über Mose bis in die Makkabäerzeit hinein spricht. Ich konnte dabei nicht wissen, dass in der anschließend mir überreichten Festschrift "Momente der Begegnung" (2004) auch Albert einen Beitrag für mich geschrieben hatte. Albert fasste dort unsere letzte Begegnung auf dem Podium in Bonn über Dabru Emet unter dem Titel zusammen: Bejn Ha-sch'maschot: 'dabru emet' im Zwielicht des Dialogs". Er wollte damit sagen: Der erst anfangende jüdisch-christliche Dialog findet erst im Zwielicht der Morgendämmerung statt. Die Erlösung kommt immer mit dem Dunkel der Nacht, immer durch das messianische Leiden hindurch. Denn das "Ende der Nacht" ist noch lange nicht in Sicht. Und die Schatten der Nacht sind noch immer sehr lang, wie der wachsende deutsche, der osteuropäische und der islamisch-fundamentalistische Antisemitismus und der christliche Antijudaismus in Mel Gibsons Film "Die Passion Jesu Christi" überdeutlich zeigen. So ist dieser Beitrag Alberts letzter und persönlicher, ja testamentarischer Gruß an mich. Das hat mich tief bewegt und menschlich erschüttert.

Wir verlieren als Christinnen und Christen, aber auch als Kirchen mit Albert einen langjährigen jüdischen Lehrer, Wegbegleiter, ja Freund. Neben M. Wyschogrod (New York) und D. Flusser (Jerusalem) hat mich kein jüdischer Lehrer so beeinflusst wie Albert.

SEIN ANDENKEN SEI UNS ERBE UND AUFTRAG!

(Die von mir zitierte Literatur hat Evelyn Friedlander in der Festschrift für Albert zum 70. Geburtstag "Das Leben leise wieder lernen", 1977, zusammengestellt).
Der Autor ist Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal

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