Der Anfang einer Reise auf der Suche nach Versöhnung
oder: Auf der Suche nach Menschen der Versöhnung
Momente der Begegnung mit Albert H. Friedlander
von Bertold Klappert
Der plötzliche Abschied von A.H. Friedlander hat
uns alle unendlich betroffen gemacht. Allen Freunden und Freundinnen von
Albert ist es so ergangen. Die Nachricht, die ich sofort von Jonathan
Magonet, der zur Gastdozentur 2004 in Wuppertal weilte, erhielt, traf
uns alle ohne Vorankündigung. Sein Bild steht nun auf meinem Schreibtisch.
Und dieses Bild vor Augen schreibe ich über Momente meiner Begegnung
mit dem Rabbiner, dem Lehrer, dem Menschen und am Ende dem Freund. Andere
müssen Anderes berichten und Weiteres erzählen. Ich würdige
hier nicht das wissenschaftliche Werk von Albert. Das soll an anderer
Stelle geschehen. Ich schreibe als betroffener Mensch, dem Albert auf
seiner langen Reise und Suche nach Versöhnung begegnet ist und den
er unendlich reich beschenkt hat.
I Die Anfänge der Begegnung
Das Jahr 1977 werde ich nicht so leicht vergessen. Ich
referierte zusammen mit Albert und anderen in der Akademie in Aachen über
"Exodus und Kreuz im jüdisch-christlichen Dialog": Albert
über die jüdische Grunderfahrung des Exodus, die sich besonders
in der Pessach-Haggada niedergeschlagen hat und die ständig - erst
recht nach der Shoah - neu aktualisiert werden muss. Das Gedenken, das
Erinnern wurde zum zentralen Thema seines Vortrages. Ich selber referierte
über die älteste Tradition der Passion, des Passahmahles und
des Kreuzes Jesu im Neuen Testament und deutete Passah und Passion "nicht
gegen Israel, sondern für Israel und die Welt der Völker".
Ich konnte nicht ahnen, dass ich diesem Thema später durch Albert
in Leo Baecks Schrift von 1938 "Das Evangelium als Urkunde der jüdischen
Glaubensgeschichte" in veränderter und vertiefter Gestalt wieder
begegnen würde.
Albert und ich trafen uns im theologischen Denken, aber
eine Begegnung von Mensch zu Mensch stand noch vor uns. Es folgte 1983
die große Luther-Tagung in der Akademie in Mülheim zu "Martin
Luther und die Juden", die unter der Schirmherrschaft von Johannes
Rau, dem damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, stand.
Es war damals die einzige Tagung im Lutherjahr, die - durch den unvergessenen
Heinz Kremers initiiert - sich dem schwierigen Thema wirklich stellte.
Albert referierte damals in ergreifender Weise über "Martin
Luther und wir Juden". Er stellte sich dem schrecklichen Antijudaismus
Luthers und dessen verbrecherischen Folgen im Dritten Reich und stieg
zu Luther hinab in den tiefen Keller des Judenhasses: " So sitzen
wir uns gegenüber, da im dunklen Keller, und Bruder Martin kann mich
gar nicht sehen. Was er sieht, ist eine Zerrfigur, eine höllische
Maske. Und das tut mir weh". Doch dabei blieb Albert nicht stehen:
"Ach, Martin! ... Hier im Dunklen will ich nicht Abschied nehmen.
Wir müssen nach oben gehen, wo du mich wieder als Einen des Volkes
Gottes erkennen kannst" (296f).
Auf diesem Kongress zum 500. Geburtstag Luthers im Jahre
1983 referierten erstmals jüdische Wissenschaftler und Historiker
wie Ben-Zion Degani, E.L. Ehrlich, G.B. Ginzel und P. Lapide in aufregender
und sachkundiger Weise über Luther. Albert aber sprach über
500 Jahre hinweg mit Luther selber: "Wir sind beide Kinder Abrahams.
Wir haben gemeinsame Hoffnungen für die Endzeit. Aber um eins muß
ich dich im Moment des Abschieds bitten: Verschließ die Folterkammer!
Laß sie nie wieder öffnen! Und lehre deine Nachkommen, dass
es Zeiten gibt, wo die Mitmenschlichkeit die Dogmen besiegen muß"
(297).
Nur ein Jahr später, 1984, stand Albert vor einer
weiteren, ähnlich schwierigen Aufgabe. Das Bombenattentat auf Hitler
am 20. Juli 1944 sollte seitens der politischen Klasse der Bundesrepublik
Deutschland erstmals in einem Staatsakt erinnert werden. Durch Vermittlung
von Eberhard Bethge war Albert eingeladen worden, die Gedenkrede zu halten.
Albert zögerte und stellte zunächst Bedingungen des wahren Erinnerns
und des echten Gedenkens: Ich werde dann erwähnen müssen, "dass
diese Gruppe von Offizieren nur der kleinste Teil des Widerstandes gegen
Hitler war ..., dass der wirkliche Widerstand nach 1933 zumeist von Kommunisten
kam und dass der Widerstand im Getto und in den (KZ-)Lagern bis heute
unterschätzt wird". Albert hielt die später veröffentlichte
Rede in Gegenwart des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker
und im Beisein des Bundeskanzlers Helmut Kohl, dessen distanzierende Rede
von der "Gnade der späten Geburt" von Albert in vielen
seiner Bücher nachträglich kritisiert wurde. Denn "Helmut
Kohls Berater ist (der Historiker) Herr Stürmer, der genau diese
Verantwortung (der Deutschen gegenüber der Verbrechensgeschichte
des Dritten Reiches) relativieren will und der es Bundeskanzler Kohl erlaubte,
ausgerechnet in Israel sich von der Schuld zu distanzieren" (Ein
Streifen Gold 25).
Die Frage, die Albert 50 Jahre nach dem 20. Juli 1944
aus Berlin 1984 mitbrachte, lautete: Würde seine Reise und seine
Suche nach Menschen der Versöhnung in Deutschland scheitern? Oder
gab es in der Begegnung mit Menschen Anfänge und Momente der Versöhnung
im Gedenken an die Nacht der Shoah und im Erinnern des Holocaust?
II "Ich suche die Brüder"
Im Jahre 1988 folgte Albert dem Ruf, die Gastprofessur
für "Theologie, Geschichte und Philosophie des Judentums"
an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal für das Sommersemester 1988
wahrzunehmen. Diese Professur war als Zeichen der Versöhnung seit
dem Rheinischen Synodalbeschluß von 1980 eingerichtet worden, in
welchem sich die Rheinische Kirche als erste Kirche in Deutschland zur
"Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust"
bekannt hatte. Es sollte Alberts erster längerer Aufenthalt in Deutschland
sein, nachdem er 50 Jahre vorher in Berlin 1938 als junger Mensch die
Synagogenbrände erlebt hatte, der Glaube an die Rechtsinstitutionen
und Menschen in ihm zerstört wurde und er 1939 Berlin für immer
verlassen hatte. "Aber jetzt muss eine eiserne Wand gesprengt werden.
Nach 50 Jahren war ich wieder ein Jude in Deutschland" (Streifen
12). Albert hat unsere Begegnung in Wuppertal in seinem Buch "Ein
Streifen Gold. Auf Wegen zur Versöhnung" (1989) ausführlich
beschrieben.
Albert eröffnete seine Wuppertaler Vorlesung über
"Leo Baeck und die Struktur jüdischer Theologie in den Jahren
1920 bis 1930" mit einem bis heute unveröffentlichten Vortrag
über "Jüdisches Selbstverständnis nach Auschwitz",
in welchem er wieder mit dem "Sachor!", dem Gedenken der Nacht
begann und die Studierenden unmittelbar anredete: "So sehe ich jüdische
Identität nach Ausschwitz ... So weit reicht das Denken. Aber die
Begegnung steht noch vor uns. Was wird sich ändern? Und wie weit
werden wir zusammengehen? Ich grüße Euch in großer Hoffnung:
aus meiner jüdischen Identität".
Albert beendete seine erste Vorlesungsstunde mit einem
Beispiel für den Midrash und hielt eine Predigt über 1. Mose
37,17ff, die ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde: Josef sagt:
"Ich suche meine Brüder", et achai ani m'vakesch. Mit Albert
kam der Josef des Alten Testaments erneut und aktuell auf die Studierenden
zu. Die Brüder wollen Josef töten und in irgendeine Zisterne,
achad ha-borot, werfen. Und Albert fragte: "Warum nicht in irgendein
dunkles Tal, das Babi Jar heißt? Warum nicht in einen Gasofen?"
Die Brüder des Josef sagen: "Siehe, da kommt der Meister der
Träume, der baal ha chalamot!" Und Albert fragte weiter: "Wer
waren die Meister der Träume in unserer Zeit?" Und er antwortete:
"Freud, Einstein und Kafka, Leo Baeck und Viktor Frankl, P. Celan
und E. Wiesel. In dem Versuch, uns Leo Baeck zu nähern, müssen
wir die dunkelsten Täler unserer Landschaft besuchen" (Streifen
48f).
Die Begegnung mit den Menschen fand dann anfangsweise
während des Semesters statt: z.B. mit den Studierenden in der Mensa.
Im Speisesaal hing eine vergrößerte Fotografie vom Protestmarsch
Martin Luther Kings mit A.Y. Heschel u.a. von Selma nach Montgomery, auf
welcher Albert sich in der dritten Reihe wiedererkannte. Studierende wurden
darüber hinaus zur Shabbat-Feier der Familie Friedlander mit Evelyn
und Ariel eingeladen: "Der Tisch wurde wieder ein Altar und die Tischgesellschaft
eine Gemeinde. Nur mussten wir vorsichtig sein, dass dieses Erlebnis nicht
missbraucht wurde: die jüdischen Gebräuche werden manchmal missbraucht,
indem das Judentum einfach als Vorstufe für das Christentum missverstanden
wird ... Die Studenten nahmen teil an der Shabbat-Feier der Familie Friedlander
und erkannten, dass ganz unabhängig und außerhalb des Christentums
ein authentisches (jüdisches) Leben besteht" (Streifen 34).
Ich brachte Albert zur Wuppertaler Wohnung des damaligen
Ministerpräsidenten Johannes Rau, der Albert als jüdischen Gastdozenten
in Wuppertal sehen und sprechen wollte. "Auch über die Hoffnung,
in den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen Lehrstühle für
die Erforschung des Judentums einzurichten, wurde gesprochen". Rau
plante, an der Bergischen Universität Wuppertal und an der Universität
Bonn Lehrstühle für Judaistik als Zeichen auch von staatlich-institutioneller
Umkehr und Erneuerung einzurichten. Jakob Petuchowski, ebenfalls ein Leo-Baeck-Schüler,
nahm dafür Gespräche mit der Bonner Fakultät auf. Die Pläne
Raus scheiterten aber an dem Unwillen der dortigen Dekane, dieses Angebot
der Landesregierung in die institutionelle Tat umzusetzen. Albert war
von Rau, der als erster Bundespräsident aus Israel die Einladung
bekam, in der Kenesset auf Deutsch zu sprechen, menschlich tief beeindruckt.
Wir brachen verspätet vom Besuch bei Rau auf und
Albert wusste, dass es unmöglich war, noch rechtzeitig das Flugzeug
nach London in Düsseldorf zu erreichen. Da sich die Zeit des Abfluges
aber um zwei Stunden verzögerte, kam Albert noch rechtzeitig zum
Start an: "Ich fand eine verärgerte Gruppe von Fluggästen:
zwei Stunden Verspätung! Als ich diese Nachricht mit Freude aufnahm,
wurde ich ziemlich unbeliebt bei den Mitpassagieren" (53).
Im Seminar behandelten wir mit den Studierenden die beiden
Bücher Baecks: "Das Wesen des Judentums" und "Dieses
Volk. Jüdische Existenz". Über dem Lehrer und Rabbiner
Baeck fanden Albert und ich uns nicht nur im Denken, sondern als Menschen,
als Jude und als Christ. Es entstand - angestoßen und mit herausgegeben
durch Prof. Werner Licharz - erstmals der Plan einer Gesamtausgabe des
Werkes von Leo Baeck, weil dieses den Studierenden literarisch nur völlig
unzureichend zur Verfügung gestellt werden konnte. Albert lud mich
auch ein, zur Taschenbuch-Neuausgabe seines großen Buches über
Leo-Baeck im Christian Kaiser Verlag (1990) ein ausführliches Nachwort
"Brücken zwischen Judentum und Christentum" (285-328) zu
schreiben, dem er seinerseits ein kurzes Vorwort voranstellte (283f).
Unsere Gespräche über Baeck dauerten bis tief in die Nächte
und wir fanden darüber zur Freundschaft. Zum Abschluss des Sommersemesters
1988 schenkte mir Albert seine inzwischen veröffentlichte Rede zum
20. Juli 1944 "Dimensionen des Widerstandes" mit der Widmung:
"Für Bertold, in Liebe und Anerkennung. Dein Freund Albert".
III Schritte aus der Nacht in die Morgendämmerung
Nachdem eine Brücke zwischen Judentum und Christentum
in der Begegnung zweier Menschen gefunden war, versuchten wir Schritte
auf dieser Brücke zu gehen: Wir bekamen von der "Arbeitsgemeinschaft
Christen und Juden beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" die Aufgabe,
auf den Kirchentagen die Dialogbibelarbeit zu halten, wobei die Hallen
wegen Albert immer voll besetzt waren. Dabei ließ sich Albert -
den Wegen seines Lehrers Baeck und dessen Schrift "Das Evangelium
als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte" (1938) folgend
- ohne Vorbehalt auch auf die rabbinische Auslegung neutestamentlicher
Texte ein. Ich nenne nur zwei Beispiele: Auf dem Kirchentag in Berlin
1989 dialogisierten wir über das Gleichnis vom sprossenden Feigenbaum
(Mk 13,28-33), mit dem Baeck seine Schrift von 1938 beendet hatte. Der
Dialog erfolgte unter dem Stichwort "Zeichen des Sprossens der Erlösung".
Auf dem Kirchentag in Dortmund 1991 legten wir gemeinsam die Geschichte
von der Heilung des epileptischen Jungen (Mk 9,14-29) unter dem Motto
aus: "Damit die Herrlichkeit und Schechina ADONAIs offenbar werde".
Wir referierten 1996 auf dem Leo-Baeck-Symposion in München gemeinsam
mit anderen über Leo Baeck, was dann in dem Band "Zwischen Geheimnis
und Gebot" (1997) dokumentiert wurde. In dieser Zeit erschienen die
von Albert und mir betreuten und kommentierten Leo-Baeck-Werkbände
I "Das Wesen des Judentums" (1998), II "Dieses Volk"
(1996) und IV "Aus drei Jahrtausenden" (2000), darin die wichtige
Schrift Baecks aus dem Jahre 1938: "Das Evangelium als Urkunde der
jüdischen Glaubensgeschichte".
Auf dem Kirchentag in Frankfurt 2001 übernahm ich
die Moderation eines Dialoges, ja einer Kontroverse zwischen Albert und
E.L. Ehrlich, den beiden großen Baeck-Schüler in England und
in der Schweiz. Das Gespräch fand mit zahlreichen Zuhörern im
Jüdischen Museum in Frankfurt statt und behandelte u.a. auch das
Thema "Leo Baeck in den Jahren des NS-Regimes" und "Bislang
unbekannte Quellen zur Entstehungsgeschichte des Werkes 'Die Entwicklung
der Rechtsstellung der Juden in Europa, vornehmlich in Deutschland' "
(Leo-Baeck-Katalog, Frankfurt 2001, 77ff, 103ff). So wie sich Albert zuvor
gegen Hannah Arendts Verdächtigung, Baeck habe in Theresienstadt
die Menschen über den Vernichtungsweg nach Auschwitz belogen und
getäuscht, gewandt hatte, so setzte er sich jetzt gegen Ehrlich emotional
und engagiert für die persönliche Integrität Baecks auch
in der fraglichen Zeit vor 1943 ein. Hier war er nicht bereit, auch nur
den leisesten Verdacht eines Schattens, der auf Baeck fallen könnte,
zu dulden. Der so sanfte und menschlich so freundliche Albert wurde hier
zum kämpferischen, ja zornigen Albert!
IV Letzte Begegnungen und Abschied
Im Sommersemester 2000 folgte Albert ein zweites Mal der
Einladung, ein Gastsemester mit den Studierenden an der Kirchlichen Hochschule
Wuppertal zu verbringen. Albert las über das Thema "Geschichte,
Theologie und Philosophie des Judentums von Mendelssohn bis Rosenzweig".
Dabei kamen in Anschluss an Baecks Vorlesungen in Münster "Von
Mendelssohn bis Rosenzweig" (1956) und dessen Buch "Epochen
jüdischer Geschichte" (1956) auch Heine, Buber, Heschel und
E. Bloch zur Sprache. Albert hatte im Jahr zuvor die Franz-Rosenzweig-Dozentur
in Kassel und 1995 die Martin-Buber-Professur der Universität Frankfurt
wahrgenommen. Im Seminar behandelten wir die Aufsätze Baecks, die
wir dann in der Baeck-Werkausgabe Bd. V "Nach der Schoah - Warum
sind die Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit" (2002)
herausgebracht haben. Die Einleitungen, die ich zu einigen Texten Baecks
schrieb, wurden von Albert gekürzt und überarbeitet und damit
von ihm entscheidend verantwortet. Besonders wichtig war uns einer der
letzten Aufsätze Baecks aus dessen Todesjahr 1956, den uns E.L. Ehrlich
aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt hatte: "Judentum, Christentum
und Islam", in welchem Baeck seine Vision des Friedens und der Versöhnung
der drei abrahamitischen Religionen weltweit und für Israel-Palästina
entfaltet hatte. In seinen politischen Stellungnahmen zum notwendigen
Nebeneinander der beiden Staaten Israel und Palästina ist Albert
dieser Vision Baecks literarisch und politisch-praktisch immer gefolgt:
und zwar gegen die Politik der Schamirs und Kahanes und Scharons in Israel.
Ich verstehe im Nachhinein, warum Albert so gedrängt
hat, die Baeck-Werkbände bis zu Michael A. Meyers großem Band
VI "Briefe, Reden, Aufsätze" (2003) Jahr für Jahr
herauszubringen und damit sein Lebenswerk zu vollenden. Er ahnte wohl,
dass er dazu nicht mehr viel Zeit hatte, während ich für eine
langsamere und "wissenschaftlichere" Herausgabe plädierte.
Albert hatte auch diesmal recht!
Während dieses letzten Gastsemesters in Wuppertal
referierte Albert auch in der dortigen Christlich-Jüdischen Gesellschaft
über Heinrich-Heine, über den er zu einer menschlichen und wissenschaftlichen
Begegnung mit Wolf Biermann während seines Aufenthaltes im Wissenschaftskolleg
in Berlin fand. Als Albert von Wuppertal aus zum Katholikentag 2000 nach
Hamburg aufbrechen musste, um dort zusammen mit Kardinal Lehmann zu referieren,
entdeckte er, dass er kein passendes schwarzes Jackett bei sich hatte.
Ich ermunterte ihn, bei seinem hellen Jackett zu bleiben. Das aber lehnte
er ab. Ich habe ihm dann mein schwarzes Jackett ausgeliehen mit der Auflage,
Kardinal Lehmann von mir in Erinnerung an die gemeinsamen Zeiten unserer
Promotion sehr herzlich zu grüßen. So saß am Ende der
jüdische Rabbiner neben dem katholischen Kardinal auf dem Podium,
bekleidet mit dem Jackett des evangelischen Professors aus Wuppertal:
Kleider machen Leute und bringen Menschen zusammen. Auch das möchte
ich nicht unerwähnt lassen: Während ich Albert während
seines Wuppertaler Aufenthaltes vor seinem jeweiligen Abflug nach London
mit dem von ihm und seiner Familie sehr geschätzten Spargel vom Wochenmarkt
versorgte, brachte er mir jedes Mal von der Firma "Wilkin and Sons"
die von mir so geliebte Orangenmarmelade mit: Liebe geht eben auch durch
den Magen!
Albert hat sich schon in Amerika, aber dann auch in Deutschland
in erstaunlich offener Weise auf solche christlichen Theologen eingelassen,
die sich dem NS-Regime entgegengestellt und sich theologisch auf den Weg
der Versöhnung mit dem Judentum gemacht haben. So schrieb er über
"Ein letzte Gespräch mit Paul Tillich" (1965), über
seine Freundschaft mit Dorothee Sölle und seine Nähe zur ihrer
Theologie nach der Schoah, über D. Bonhoeffer, dessen Weg er durch
Eberhard Bethge näher kennenlernte, zuletzt auch über Karl Barth,
den exilierten Staatsfeind Hitlers, dessen unentwegter politischer Widerstand
gegen Hitler Albert beeindruckte und über dessen Lehre vom Nichtigen
er 1991 einen Aufsatz verfasste: "Karl Barth und das Nichtige".
Ich hatte Albert auf den § 50 der Kirchlichen Dogmatik, den Barth
1948 nach der Schoah publiziert hat, aufmerksam gemacht und ihm die entsprechenden
Abschnitte fotokopiert nach London mitgegeben. Albert schenkte mir zum
Abschied von seiner Wuppertaler Gastprofessur 2000 sein Buch "Das
Ende der Nacht" (1995) mit der Widmung: "Für Bertold. In
Liebe und Freundschaft. Immer, Dein Albert".
Ich bin Albert zuletzt 2003 auf dem Evangelischen Forum
in Bonn über das Dokument "Dabru Emet", "Redet Wahrheit",
das mein Freund M. Signer entscheidend entworfen hat, begegnet. Dort saß
ich zwischen Albert und Edna Brocke und wir diskutierten kontrovers. Ich
warnte Albert, der Dabru Emet mit unterschrieben hatte, davor, dass dieses
Dokument, das auch ich begrüße, zu schnell von falscher Seite
vereinnahmt und von traditionell-christlichen Positionen im Sinne einer
Bestätigung missverstanden werden könnte. Albert ließ
sich das gerne sagen. Dennoch teilten wir gemeinsam die Meinung, dass
hier ein Anfang der Reise in die Versöhnung auch seitens des Judentums
übernommen worden ist, der auf den Anfang der Erneuerung im katholischen
und evangelischen Christentum seit 1965 hilfreich und wegweisend antwortete.
Anschließend verbrachten wir gemeinsam die Nacht
im Hotel am Hofgarten in Bonn und hatten am folgenden Morgen noch ausgiebig
Zeit, uns menschlich und theologisch auszutauschen.
Wir sprachen über "Leo Baeck in Deutschland",
also darüber, wie das Werk Baecks in Deutschland wieder zur Wirkung
gebracht werden könne und nicht in problematischer Weise orthodox
vereinnahmt werden dürfe. Ich drückte dabei meine Enttäuschung
darüber aus, dass Albert für sein Lebenswerk im Dienste von
Martin Buber und Franz Rosenzweig und seines Lehrers Baeck nicht die Buber-Rosenzweig-Medaille
oder den Leo-Baeck-Preis erhalten habe: ein - wie ich meine - beschämendes
Zeichen für die sogenannten Verwalter des Leo-Baeck-Erbes in Deutschland.
So saßen wir vertraut zusammen, wie wir zusammen mit Evelyn und
meiner Frau im Wuppertaler Haus zusammengesessen und zusammen gegessen
hatten. Ich befragte ihn zuletzt über das Verhältnis von Thora
und Prophetie und über die problematische Vorliebe der Orthodoxie
für die Thora im Unterschied zur Prophetie. Albert antwortete: "In
der Thora ist viel Prophetisches und in der Prophetie ist viel Thora.
Die Prophetie legt die Thora aus. Eine Alternative kann und darf es hier
nicht geben!"
Bei seinem letzten Gastsemester in Wuppertal 2000 - so
sagte ich bereits - schenkte mir Albert sein Buch "Das Ende der Nacht.
Jüdische und christliche Denker nach dem Holocaust" (1995).
Dort stellte er alle jüdischen und auch einige christliche "Reisende
in die Morgendämmerung und in das Licht" vor, die aus der Nacht
der Schoah kamen und anfangende Schritte in die Morgendämmerung unternahmen.
Auch Albert ist in seinem ganzen Wollen und Wirken, in seinem ganzen Denken
und noch mehr in seiner ganzen jüdischen und darin menschlichen Existenz
ein solcher "Reisender aus der Nacht in die Morgendämmerung
des anbrechenden Tages" gewesen.
Als ich am 15.7.2004 hier an der Kirchlichen Hochschule
Wuppertal zum meinem 65. Geburtstag emeritiert wurde, habe ich auch des
kurz zuvor erfolgten Sterbens von Albert gedacht und in meiner Predigt
über Hebräer Kap. 11 gesagt: Albert gehört nun auch zu
der "Wolke der Zeuginnen und Zeugen", von denen der Hebräerbrief
von Abraham und Sara über Mose bis in die Makkabäerzeit hinein
spricht. Ich konnte dabei nicht wissen, dass in der anschließend
mir überreichten Festschrift "Momente der Begegnung" (2004)
auch Albert einen Beitrag für mich geschrieben hatte. Albert fasste
dort unsere letzte Begegnung auf dem Podium in Bonn über Dabru Emet
unter dem Titel zusammen: Bejn Ha-sch'maschot: 'dabru emet' im Zwielicht
des Dialogs". Er wollte damit sagen: Der erst anfangende jüdisch-christliche
Dialog findet erst im Zwielicht der Morgendämmerung statt. Die Erlösung
kommt immer mit dem Dunkel der Nacht, immer durch das messianische Leiden
hindurch. Denn das "Ende der Nacht" ist noch lange nicht in
Sicht. Und die Schatten der Nacht sind noch immer sehr lang, wie der wachsende
deutsche, der osteuropäische und der islamisch-fundamentalistische
Antisemitismus und der christliche Antijudaismus in Mel Gibsons Film "Die
Passion Jesu Christi" überdeutlich zeigen. So ist dieser Beitrag
Alberts letzter und persönlicher, ja testamentarischer Gruß
an mich. Das hat mich tief bewegt und menschlich erschüttert.
Wir verlieren als Christinnen und Christen, aber auch
als Kirchen mit Albert einen langjährigen jüdischen Lehrer,
Wegbegleiter, ja Freund. Neben M. Wyschogrod (New York) und D. Flusser
(Jerusalem) hat mich kein jüdischer Lehrer so beeinflusst wie Albert.
SEIN ANDENKEN SEI UNS ERBE UND AUFTRAG!
(Die von mir zitierte Literatur hat Evelyn Friedlander
in der Festschrift für Albert zum 70. Geburtstag "Das Leben
leise wieder lernen", 1977, zusammengestellt).
Der Autor ist Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen
Hochschule Wuppertal
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