Von Mitläufern und Rattenfängern
von Paul Spiegel
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die
deutsche Bevölkerung auf die Probe gestellt. Die übergroße
Mehrheit versagte kläglich. Ganz im Sinne Hitlers konnte sich die
NS-Führungsriege durch das passive, feige Verhalten der nichtjüdischen
Bürgerinnen und Bürger in ihrem menschenverachtenden Vorgehen
gegen die Juden bestärkt fühlen. Einer der wenigen, die damals
nicht wegschauten und sich nicht einschüchtern ließen, war
Dr. Gronover, ein Hals-Nasen-Ohrenarzt, der sich ohne Umschweife bereit
erklärte, meinen schwer verletzten Vater zu behandeln. SA-Männer
hatten ihn nachts im Schlafanzug auf die Straße getrieben, an das
Ufer der Ems gezerrt und dort stundenlang auf ihn und andere Juden eingeprügelt.
Mehrere niedergelassene Ärzte wie auch das Krankenhauspersonal verweigerten
dem alteingesessenen Warendorfer Bürger Hugo Spiegel jede medizinische
Hilfe. Dr. Gronover reagierte auf das Geständnis meiner verzweifelten
Mutter, wir seien eine jüdische Familie, geradezu unwirsch. Religiöse
Bekenntnisse interessierten ihn nicht. Er versorgte meinen Vater auf vorbildliche
Weise und gab meinen Eltern durch sein Verhalten ein Stück Vertrauen
zurück.
Ich war noch kein Jahr alt, als in Warendorf und ungezählten
anderen Orten Deutschlands Hunderttausende Menschen mit brutaler Gewalt
konfrontiert, ihrer Existenz beraubt und gedemütigt wurden. Mir blieb
zu diesem Zeitpunkt noch die Angst erspart, die ein Mensch beim Anblick
brennender Gottes- und Gemeindehäuser, zerstörter Geschäfte
und geplünderter Wohnungen erfasst. Die Geräusche von klirrendem
Glas, von Gewaltanwendung und panisch schreienden Frauen, Männern
und Kindern wurde von mir fern gehalten. Was in dieser Nacht alles geschah,
erfuhr ich erst viel später. Gemeinsam mit meiner Familie erlebte
ich jedoch sehr bewusst die Folgen oder besser die noch weitaus schlimmere
Fortsetzung der damaligen Geschehnisse.
Mein persönliches Gedenken an den 9. November 1938
ist verständlicherweise stark durch die Erlebnisse meiner Eltern
geprägt. Zugleich empfinde ich tiefe Trauer für all die anderen
Opfer dieses bis dahin größten und schlimmsten Pogroms auf
deutschem Boden seit den Massakern an Juden im Mittelalter: Für die
91 Toten, für die über 30.000 Menschen, die am darauf folgenden
Tag in Konzentrationslager verschleppt und für die ungezählten
Menschen, die misshandelt und zutiefst gedemütigt wurden. Das bis
heute nachwirkende Entsetzen über das Schicksal der Opfer lenkt meinen
Blick an diesem Gedenktag auf die damaligen Täter. Auf die Horden
brauner Schläger und gewissenloser Handlanger eines verbrecherischen
Systems. Vor allem aber auf die vielen Menschen ohne braune Uniform: Die
schweigenden Nachbarn, die sich abwendenden Freunde und Bekannten, die
gaffenden Zuschauer, die plündernden Passanten und klammheimlich
applaudierenden Mitläufer.
Sie alle hätten an diesem 9. November 1938 die Chance
gehabt, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten und eine Rückkehr zu einem
zivilisierten Miteinander von Juden und Nichtjuden in Deutschland zu ermöglichen.
Wie wir wissen, geschah genau das Gegenteil. Die Reichspogromnacht markiert
rückblickend den Beginn einer sich ins Unfassbare steigernden Enthemmung
im Umgang mit der jüdischen Bevölkerung. Die Entrechtung der
Juden, die Aufhebung ihres Status als Bürger war ohnehin fast vollständig
vollzogen. Die Antisemiten im Land konnten von nun an sicher sein, keine
Repression bei der Misshandlung jüdischer Bürger fürchten
zu müssen. Vielmehr durfte jeder, der seinen Vorurteilen und seinem
Hass freien Lauf ließ, mit staatlicher Anerkennung und Auszeichnungen
aller Art rechnen.
Das Gedenken an den 9. November ist nicht nur unverzichtbar,
weil dieses Datum eine Zäsur im Umgang mit den Juden, sprich das
Abgleiten in ungezügelte, willkürliche Gewaltanwendung markiert.
Fast noch wichtiger ist es, sich an diesem Tag mit der Lebenslüge
von Millionen von Mitläufern auseinander zu setzen. Gemeint ist das
entlastende, den nachgeborenen Kindern und Kindeskindern mit auf den Weg
gegebene Märchen, man habe damals ja gar keine Vorstellung davon
gehabt, was die Nazis im Schilde führten. Tatsache hingegen ist,
dass die von Goebbels beherrschte Propaganda zum damaligen Zeitpunkt schon
fünf lange Jahre hindurch immer stärker, immer hasserfüllter,
immer reißerischer und polemischer den Weg in den Abgrund skizziert
hatte. Nichts davon war zweideutig, hintersinnig oder etwa nur für
Eingeweihte verständlich. Die schlichten Worte, raffinierten Verleumdungen
und vermeintlich schlüssigen Argumentationsketten erreichten auf
Anhieb die Massen. Ob Plakate, Flugblätter, Zeitungsartikel oder
Radioansprachen - niemand konnte der teuflisch-genialen Polemik entgehen.
Die Reichspogromnacht lieferte den für alle Welt sichtbaren Beweis,
dass es sich bei den Hetztiraden nicht nur um leere Worte handelte. Sie
war Ausdruck der Entschlossenheit Hitlers, Ernst machen zu wollen. Das
von Goebbels beschworene Ziel eines "judenreinen Reichs" mag
für den Einzelnen nicht erkennbar gleichbedeutend gewesen sein mit
dem, was wenig später in den Todesfabriken von Auschwitz, Majdanek
und Treblinka stattfand. Doch war nicht alles, was bis Mitte November
1938 geschehen war, schon schrecklich und menschenverachtend genug?
66 Jahre später wissen wir, dass die Wegstrecke vom
Novemberpogrom zur systematischen, staatlich angeordneten Vernichtung
von unschuldigen Menschen unvorstellbar kurz war. Inzwischen wissen wir
auch, dass trotz des erlittenen Leids und Millionen Toter ein Neuanfang
nach dem Krieg möglich war. Auch mein Vater entschied sich, nachdem
er mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, für die Rückkehr
nach Deutschland. Eine Entscheidung übrigens, die ich nie bedauert,
sondern mit meiner Familie gleichsam nochmals bekräftigt habe. (...)
Die Entscheidung für Deutschland schien für
die vergleichsweise wenigen noch lebenden oder nicht ausgewanderten Juden
vor allem deshalb vertretbar, weil mit der Gründung der Bundesrepublik
Deutschland ein glaubhafter Neubeginn vollzogen worden war. Diese Einschätzung
erwies sich in den vergangenen Jahrzehnten als richtig. Bei allem Vertrauen
in die demokratische und rechstaatliche Ordnung Deutschlands gab und gibt
es jedoch immer wieder Anlass zur Sorge. Hier wie im übrigen Europa
ist der Antisemitismus nach wie vor virulent. Maßnahmen zur Bekämpfung
werden ergriffen, doch viel weniger als nötig wären. Dies ist
umso mehr zu kritisieren, als sich die Gefahrenlage verändert und
leider auch verschärft hat. Mitverantwortlich sind einerseits die
weltpolitische Situation und der nicht zur Ruhe kommende Nahostkonflikt.
Andererseits ist es die soziale und gesellschaftliche Umbruchsituation,
die in jüngster Zeit besonders in Ostdeutschland wieder verstärkt
neue und immer jüngere Anhänger in das Lager der Rechtsradikalen
spült. Eine verhängnisvolle Entwicklung, die in ihrem ganzen
Ausmaß nur ungenügend registriert wird. Der entsetzte Aufschrei
am Wahlabend über den Einzug von Vertretern rechtsradikaler Parteien
in die Landesparlamente von Sachsen und Brandenburg ist längst verhallt.
Inzwischen haben sich die Landtage konstituiert und die übrigen Fraktionen
haben sich über Strategien im parlamentarischen Umgang mit den Rechten
verständigt - nun wird wieder der Alltag einziehen.
Zweifellos haben die führenden Köpfe von DVU
und NPD nicht das Format eines Goebbels und natürlich unterscheidet
sich die Bundesrepublik grundlegend von der Weimarer Republik. Das sind
Binsenwahrheiten, die gern angeführt werden, um das Problem des Rechtsradikalismus
klein zu reden. Die wirkliche Gefahr sind nicht einzelne dumpfe Abgeordnete,
sondern die erschreckend gut organisierte Basis. In vielen Regionen Ostdeutschlands
sind es längst rechte Rattenfänger, die die Jugendszene fest
im Griff haben. Dieser sich stetig ausbreitende Einfluss von gewaltbereiten
Rassisten und Antisemiten auf Schüler und junge Erwachsene muss nicht
nur die betroffenen Länder, sondern alle Landesregierungen wie auch
die Bundesregierung alarmieren. Es besteht dringender Handlungsbedarf.
Auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Eine rechtsradikale
Fraktion im Deutschen Bundestag wäre für die hier lebenden Minderheiten
ein ebenso verheerendes Signal wie für das Ausland.
Die Vollstrecker des Novemberpogroms wie auch die Mitläufer
mussten ihr Handeln zu keinem Zeitpunkt vor dem Gesetz rechtfertigen oder
begründen. Für alle Zeit wird bei der Beschäftigung mit
dem Schicksal der Juden während des Holocaust die Frage nach der
Seele, dem Geist und dem Gewissen der Täter und ihrer Helfer unbeantwortet
bleiben. (...) Ich danke Ihnen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Paul Spiegel, anlässlich der zentralen Gedenkveranstaltung in Erinnerung
an die Pogromnacht vom 9./10. November 1938 in Düsseldorf am 09.
November 2004 (Quelle: Zentralrat der Juden)
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