Auf schwankendem Boden
Richtfest beim Holocaust-Mahnmal
von Christian Böhme

Ein paar Meter reichen schon. Die Schritte auf dem grauen Betonpflaster werden unsicher, schwankend. Es wird einem leicht schwindelig. Für einen kurzen Augenblick verliert man in diesem Irrgarten die Orientierung, fühlt sich klein und verloren inmitten von Peter Eisenmans dunklem Stelenwald. Für einen Moment überfällt einen Furcht. Und man ahnt, was der amerikanische Stararchitekt wohl damit bezwecken will: der Versuch, zumindest einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, welche Ängste die Opfer empfunden haben müssen. Aber gelingt das auch, wenn rund um die Uhr Tausende Besucher gleichzeitig das Holocaust-Mahnmal zu Fuß erkunden? Noch ist das Gelände neben dem Brandenburger Tor für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Nur vom leicht erhöhten Informationspunkt aus kann die riesige Baustelle in Berlins historischer Mitte eingesehen werden. Ein neunzehntausend Quadratmeter großes Kunstwerk des amerikanischen Architekten, für das am 12. Juli Richtfest gefeiert wird. Anfang Mai 2005 soll dann das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" eröffnet werden. Ein besonderer Tag für die Republik.

Bis dahin ist noch einiges zu tun. Die Hälfte der mehr als zweitausendsiebenhundert Stelen steht. Jeden Tag kommen ein paar neue Betonpfeiler hinzu, hergestellt von Geithner Bau in Joachimsthal bei Berlin. Schon mit dem heftig umstrittenen Graffitischutz der Firma Degussa überzogen, werden sie gleich nach Lieferung in das Fundament eingelassen. Eine bautechnische Herausforderung. Denn die scharfkantigen Stelen sind nicht nur unterschiedlich hoch - zwischen fünfzig Zentimeter und fünf Meter -, sondern jede einzelne ist auch geneigt, mal mehr, mal weniger. Zudem müssen die einzelnen Reihen exakt fünfundneunzig Zentimeter voneinander entfernt stehen. Diese Zwischenräume werden gepflastert, um das Denkmal begehbar zu machen. Ein bequemer Spaziergang ist das nicht. Wie das Stelenfeld selbst verlaufen die Wege in Wellen.

Noch ist das alles auf der Baustelle eine bei Sonne staubig-sandige, bei Regen schlammige Angelegenheit. Es wird geschaufelt, gemessen und gebaggert. Alles im Plan, versichert Uwe Neumärker, Sprecher der Denkmalsstiftung, zeitlich und finanziell. Siebenundzwanzig Millionen Euro wird die Realisierung von Eisenmans anspruchsvollem Entwurf am Ende kosten. Inklusive des "Orts der Information". In der unterirdisch angelegten, im Rohbau fertigen Ausstellungshalle im Südosten des Areals sollen die künftigen Besucher Grundlegendes über Zahl, Herkunft und Schicksal der Holocaustopfer erfahren. Und das in einem besonderen architektonischen Umfeld. Denn der "Ort der Information" bekommt eine mehrfach geschwungene Decke mit Kassetten, die die gleichen Abmessungen haben werden, wie die darüber stehenden Stelen. Der Bau wird das Feld mit den Betonpfeilern gewissermaßen zitieren. Achthundert Quadratmeter groß ist der "Ort der Information", verteilt auf vier Räume. Platz für zweihundertdreißig bis zweihundertsiebzig Menschen, schätzt Uwe Neumärker.

Der Rundgang soll mit einer Zeittafel und erklärenden Texten über die immer radikalere Verfolgung und Vernichtung der Juden beginnen. Am Ende des Eingangsfoyers wird der Besucher auf sechs große Porträtfotos stoßen - sechs jüdische Einzelschicksale, stellvertretend für sechs Millionen Tote. Daran schließen sich die vier Ausstellungsräume an. Der erste mit schriftlichen Zeugnissen und Aufzeichnungen aus der Zeit des Grauens, in den Boden eingelassen und beleuchtet; im zweiten werden fünfzehn unterschiedliche jüdische Familien exemplarisch vorgestellt; im dritten bekommt man die Namen der Ermordeten vorgelesen; der vierte Raum erinnert an zweihundert Orte des Mordens. Zum Schluß steht man vor einer transparenten Europakarte, auf der die Namen einer Vielzahl von Gedenkstätten eingetragen sind. Von dort aus sind es nur noch ein paar Schritte treppauf, und der Besucher steht wieder im Tageslicht und am Rande des Stelenfeldes.

Dort stehen Schaulustige schon heute. Überwiegend sind es Touristen, die vom Informationspunkt einen flüchtigen Blick über das Gelände werfen, vielleicht ein Foto machen und dann weiter entlang Berlins bauhistorischer Erlebnismeile zwischen Reichstag und Potsdamer Platz schlendern. Zu protzig finden viele das Gelände mit den Betonpfeilern. "Ein Mahnmal ist ja richtig", sagt Gisela Köhler aus Koblenz. "Aber muß es so groß sein? Auch kleinere Denkmäler können beeindrucken." Das sieht auch Mario Samek so. "Ich halte den Bau in seiner Größe für übertrieben und zu wenig aussagekräftig", sagt der vierundzwanzigjährige Sachse. Manfred Ernst aus dem Münsterland kann ebenfalls mit Eisenmans "Steinklötzen" kaum etwas anfangen. Überhaupt gebe es schon viele Erinnerungsorte in Berlin, meint der Fünfundfünfzigjährige. Zu groß das Ganze? Herr Schmid aus Schwäbisch-Gmünd schüttelt den Kopf. Eindrucksvoll sei das, was er sehe, betont der Fünfundsiebzigjährige. Dann zögert er einen Augenblick lang und sagt: "Wenn man an die unvorstellbare Dimension der Verbrechen denkt, dann ist dieses Stelenfeld eigentlich noch viel zu klein."

Jüdische Allgemeine, 8.7.2004

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