"Denkzeichen Güterbahnhof" in Darmstadt
600 zersplitterte Namen von Juden, Sinti und Roma
von Astrid Ludwig
Die letzten Zentimeter sind reinste Maßarbeit. Millimeter
für Millimeter muss der 800 Kilogramm schwere Kubus aus Panzerglas
auf die Eisenbahnschienen abgesenkt werden. Die fragile Fracht hängt
in einem Eisengestänge an langen Metallketten. Fast eine Stunde dauert
es, bis das gläserne Zeichen der Erinnerung an seinem Bestimmungsort
steht. Der Platz an der Ecke Bismarckstraße /Kirschenallee ist schon
seit Wochen dafür vorbereitet. Auf einem Schotterbett liegen alte
Eisenbahnschienen, Schwellen und ein Prellbock. Der Glaskubus mit den
zersplitterten Namen von Deportierten in seinem Innern setzt den künstlerischen
Schlusspunkt. Jetzt ist das Denkzeichen komplett, ein Gedenkort geschaffen
für die mehr als 3000 Menschen, die aus und über Darmstadt vor
60 Jahren von den Nationalsozialisten in den Tod geschickt wurden.
Renate Dreesen und Christoph Jetter von der Initiative
"Gedenkort Güterbahnhof" beobachten diesen Schlussakt ihrer
jahrelangen Bemühungen mit Erleichterung und Freude. Auf dem Gehsteig
verfolgen Passanten das Geschehen, immer wieder bleiben Fußgänger
stehen. Die beiden Künstler Nicholas Morris und Ritula Fränkel,
die den Kubus entworfen haben, legen letzte Hand mit an. Über zwei
Wochen haben die Künstler zusammen mit der Spezialfirma Derix aus
Taunusstein an dem Kubus aus dickem Panzerglas gearbeitet. Damit dieser
beispielsweise von Innen nicht beschlägt, haben sie gemeinsam eine
Konstruktion ausgetüftelt, die das Denkzeichen von unten belüftet
und entfeuchtet.
Im Innern des Würfels stechen die zerbrochenen Namen
der Deportierten wie spitze Splitter in alle Richtungen. Die 600 Namen
ermordeter Juden, Sinti und Roma aus Darmstadt sind auf den Glasscherben
zu lesen - ihr Leben, ihre Träume und Familien zersplittert wie Glas.
"Wir haben die Namen exemplarisch ausgewählt",
sagt Ritula Fränkel. Die Darmstädter Holocaust-Opfer sollen
für alle 3000 stehen, die vom Güterbahnhof aus in die Todeslager
transportiert wurden. Das Denkzeichen wirkt, erzeugt eigene Bilder bei
den Betrachtern. "Man sieht die Gewalt und hat das Gefühl, sich
zu schneiden", erklärt Ritula Fränkel die beabsichtigte
Wirkung.
Nach so langen Bemühungen und 80 000 Euro Spenden,
die gesammelt werden mussten, sind alle erleichtert, "dass das Denkzeichen
jetzt hier steht". Die Geschichtslehrerin Renate Hess ist mit ihrer
11. Klasse der Bertolt-Brecht-Schule gekommen. Sie und ihre damaligen
Schüler hatten mit einem Schulprojekt Ende der 80er, Anfang der 90er
Jahre die Gedenkfeiern für die Deportierten am Güterbahnhof
überhaupt erst ausgelöst. "Ich bin ganz gerührt und
sprachlos. Es waren so viele Menschen beteiligt. Da ist wirklich etwas
gewachsen", sagt sie.
Frankfurter Rundschau, 3.11.2004
www.denkzeichen-gueterbahnhof.de
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