Die Kraft des Gebetes
Die Zwiesprache des Menschen mit Gott kennzeichnet die Partnerschaft in
der Schöpfung
von Rabbiner Noson Weisz
Das Gebot zu beten gibt dem Menschen ein Gespür für
seine eigene Bedeutung. Im Talmud heißt es, eine der drei Säulen
der Welt sei die Säule des Gebets (Sprüche der Väter 1,2).
Auch heißt es bei unseren Weisen, daß das Fortbestehen der
Welt davon abhängt, daß die jüdischen Gebete niemals abreißen.
Trotz der großen Bedeutung des Gebets im Wertekanon der Tora ist
eine philosophische Annäherung an das Gebet schwierig.
Wird Gott mir etwas geben, nur weil ich darum bete? Wenn
es sich um etwas handelt, was ich in meinem Dienst für ihn brauche,
wird er es mir dann nicht ohnehin zukommen lassen? Wenn der begehrte Gegenstand
mir andererseits nur schadet, wird Gott ihn mir dennoch gewähren?
Warum vertraue ich nicht ganz einfach darauf, daß Gott mir ganz
von allein gibt, was ich nötig habe, statt ihn um Dinge zu beten,
die mir vielleicht gar nicht gut tun? Schließlich weiß er
besser als ich, was ich brauche, um meine Lebensaufgabe mit Erfolg zu
erfüllen.
Diese philosophischen Schwierigkeiten ergeben sich, wenn
wir daran denken, daß das Gebet ein Gebot ist. Weshalb sollte Gott
mich anhören wollen, wenn ich dreimal am Tag dasselbe Gebet spreche?
Scheint es nicht ein ganz klein wenig geschmacklos, daß er mir gebietet,
ihn um dies und jenes zu bitten und ihn zu preisen? Jeder, der das Gefühl
hat, Gottes Hilfe zu brauchen, wird sich wohl ganz von selbst an ihn wenden;
er braucht dazu kein Gebot. Und wer das Gefühl hat, keines göttlichen
Beistandes zu bedürfen, wird sich sehr wahrscheinlich auch gegen
das Gebot wehren, darum zu bitten.
Selbst wenn wir das tägliche Gebet als notwendigen
Teil unseres Lebens akzeptieren, stellt sich neben diesen schwierigen
philosophischen Fragen noch die Frage: Was können wir gegen unsere
natürliche menschliche Neigung tun, uns bei allem zu langweilen,
was sich immer wieder wiederholt? Weshalb alle zwingen, ein und den selben
Text über und über zu wiederholen? Wäre es nicht viel wirkungsvoller,
wenn jeder seine Gebete in eigene Worte fassen dürfte?
Die weit überwiegende Mehrheit der Menschheit kennt
die eine oder andere Form des Gebets. Für die meisten Menschen ist
das Gebet ein freiwilliger Akt, den man in Zeiten der Not unternimmt,
um vom Allmächtigen die eine oder andere dringend gebrauchte Wohltat
zu erhalten. Andere hingegen beten schlicht, um mit Gott zu sprechen oder
ihm für seine Segnungen zu danken. Für manche ist das Gebet
eine tägliche Pflicht. Das jüdische Gebet indes hat etwas ganz
und gar Einzigartiges.
Maimonides sagt über die Mitzwa des Gebets: "Ein
Mensch sollte Tag für Tag im Gebet flehen und die Preisungen des
Ewigen sprechen, der Quelle aller Segnungen, und dann sollte er um die
Erfüllung seiner Bedürfnisse bitten; er sollte begründen,
was er gerade braucht, und schließlich sollte er Gott preisen und
Ihm für all das Gute danken, das Er ihm schon geschenkt hat, jeder
so, wie er es kann."
Das jüdische Gebet beinhaltet drei Teile: Das Sprechen
der Preisungen Gottes, die Bitte um die Erfüllung unserer Bedürfnisse
und den Dank für Gottes Segnungen. Der Schwerpunkt ist jedoch eindeutig:
Der Kern der Mizwa des Gebets ist das Flehen. Dem Flehen geht das Preisen
Gottes vorher, und der Dank folgt ihm nach, aber das Herzstück des
Gebotes ist der Mittelteil, nämlich Gott in Form einer flehentlichen
Bitte unsere Bedürfnisse vorzutragen.
Gott gebietet uns nicht einfach, täglichen Kontakt
mit ihm zu halten oder unseren Glauben immer wieder zu bekräftigen.
Er gebietet uns, um seine Hilfe zu flehen, ganz gleich, ob wir gerade
das Gefühl haben, seiner Hilfe zu bedürfen oder nicht. Uns ist
geboten, Gott Tag für Tag um die Dinge, die wir brauchen, zu ersuchen,
selbst wenn wir überzeugt sind, uns alles, was wir brauchen, durch
eigene Kraft und Findigkeit selbst beschaffen zu können. Warum dieses
Gebot?
Wenn der Mensch das Universum betrachtet, fühlt er
sich leicht überwältigt, so riesig, so undurchschaubar komplex
und zu wunderbar vollkommen ist es. Milliarden Sterne, Trillionen Atome,
unvorstellbare Entfernungen, unberechenbare Kräfte und doch ein so
harmonisches Ganzes! Vor dem Hintergrund des Kosmos - ein wie unbedeutender
Hauch von Staub ist das menschliche Bewußtsein! Dennoch kommt es
laut der Tora auf den Menschen an, ja es kommt sogar vor allem auf ihn
an. Er hat Pflichten und Verantwortlichkeiten, die ihm der Schöpfer
all dieser Unabsehbarkeiten auferlegt hat.
Die jüdische Überlieferung sagt uns, daß
es für uns Gebote gibt, die unser Denken, unser Sprechen und unser
Tun regeln. Für ein gelingendes Leben im Dienste Gottes müssen
wir erkennen können, wie wichtig noch unsere privatesten Gedanken
sind, selbst vor dem Hintergrund des unabsehbaren Universums. Kurz gesagt:
Wir brauchen ein psychologisches Werkzeug, mit dessen Hilfe wir das Universum
auf eine handhabbare Größe verkleinern können.
Der Akt des Betens nach einem Gebot ist ein solches Werkzeug.
Wenn wir beten, erklären wir, daß es Gott ist, der das Universum
geschaffen hat, der es in Bewegung hält und der es nach seinem Wunsch
gestaltet. Es ist ganz und gar das seine. Das Universum in all seiner
Unabsehbarkeit und in all seiner Großartigkeit ist dennoch nichts
anderes als eine Schöpfung.
Auch der Mensch ist eine Schöpfung, aber eine einzigartige.
Der Schöpfer des Alls hat jeden einzelnen Menschen persönlich
hervorgehoben und ihm seine Gebote erteilt. Und insbesondere hat er ihm
das Gebot des Gebets erteilt. Gott sprach zum Menschen: "Du bist
mir so wertvoll, daß ich deine Stimme hören muß. Ich
will von dir ganz persönlich hören, was du erstrebst und was
du begehrst. Die ganze Welt ist mein, aber mein Interesse an dir und an
allem, was du brauchst, ist so groß, daß ich jederzeit alles
stehen und liegen lassen will, um der Litanei deiner Wünsche zu lauschen."
Das Universum mag wahrhaft riesig sein, und es mag überwältigend
vollkommen sein, aber in den Augen Gottes hat der Mensch genug Bedeutung,
um unter allen anderen Kreaturen hervorgehoben zu werden. In Gottes Augen
kommt der Wert des menschlichen Bewußtseins dem Wert sämtlicher
anderer Naturerscheinungen gleich, ja übersteigt ihn. Ein winziger
Funken Seele ist offenbar für den Allmächtigen von größerer
Bedeutung als endlose Mengen geistloser Materie.
Die Engel mögen erklären: "Was ist der
Mensch, daß seiner du gedenkst, des Menschen Kind, daß du
sein achtest ... Hast ihn mit Ehre und mit Glanz gekrönt." (8.
Psalm) Aber es ist die Stimme des Menschen, die Gott hören will.
Seiner kleinen Preisung und seiner Einkaufsliste voller Wünsche schenkt
Gott täglich sein Gehör. Deshalb steht das Gebet, der "Dienst
des Herzens" im Mittelpunkt aller Gebote. Denn mehr als alle anderen
verleiht gerade dieses Gebot dem Menschen einen Sinn für seine eigene
Bedeutsamkeit, die ihm ermöglicht, die anderen Gebote mit Hingabe
zu erfüllen.
Rabbi Chaim von Volozhin, Schüler des berühmten
Gaon von Wilna, beginnt sein großes Werk Nefesh Hachaim mit einer
Untersuchung des Gedankens, daß der Mensch "B'tzelem Elohim",
nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Da Gott unkörperlich ist
und keine physische Erscheinung besitzt, deutet Rabbi Chaim den Begriff
von Gottes Ebenbild dahingehend, daß er auf einige Attribute hinweist,
die Gott und dem Menschen gemeinsam sind, insbesondere die Attribute,
die im göttlichen Namen Elohim impliziert sind.
Der Name Elohim ist der Name, unter dem Gott die Welt
erschaffen hat. Es ist der einzige göttliche Name im 1. Buch Moses,
und er wird nicht weniger als zweiunddreißig Mal verwendet; Zweiunddreißig
ist der numerische Wert des hebräischen Wortes "Lew", das
"Herz" bedeutet. Das Herz des Universums schlägt mit dem
Herzschlag des Wortes Elohim. Wenn der Mensch ein "tzelem Elohim"
genannt wird, muß das heißen, daß er einige Attribute
Gottes, des Schöpfers, teilt. In gewissem Sinne ist er Gottes Kollege
in der Schöpfung.
Aus dieser Sicht läßt sich das Gebet durchaus
sinnvoll als Zusammenarbeit von Partnern betrachten, die am gemeinsamen
Unternehmen der fortlaufenden Schöpfung arbeiten. Die Macht der Schöpfung
ist Gottes Macht, aber das Gebot zu beten, sagt uns, daß Gott mit
seinem Partner in der Schöpfung Zwiesprache halten will über
die Art und Weise, in welcher die Schöpfungskraft verwirklicht werden
sollte.
Uns ist geboten zu beten, weil unser Beitrag zur Schöpfung
wichtig ist. Wenn wir akzeptieren, daß der Mensch das "lebendige
Bild Gottes" ist, dann folgt daraus, daß das Gebet für
unser Menschsein in der Tat grundlegend ist. Wenn wir unseren Beitrag
zu der Frage, wie die Welt weiter zu gestalten ist, nicht Tag für
Tag leisten, dann nutzen wir unser Potential als "Tzelem Elohim"
nicht.
Die These von Rabbi Chaim wirft ein erstes Licht auf die
Lösung unserer philosophischen Probleme mit dem Gebet. Gott "braucht"
unsere Gebete, weil wir "Tzelem Elohim" sind. Seine Entscheidung,
uns zu Partnern in der Schöpfung zu machen, bindet ihm gleichsam
die Hände. Als Partner haben wir Anspruch darauf, vor Entscheidungen
zur Neugestaltung der Welt angehört zu werden. Indem er uns gebietet
zu beten und unsere Anliegen vorzubringen, selbst in Form eines "Flehens",
wird Gott seiner Pflicht gegenüber seinem Partner in der Schöpfung
gerecht.
Das individuelle menschliche Bewußtsein ist in der
Tat ein unbedeutender Funke in der Unabsehbarkeit des Kosmos. Bedeutsam
ist ein Mensch nur als ein Geschöpf nach dem Bilde Gottes. Ein Mensch,
der diesen Aspekt seines Seins nicht verwirklicht, gibt aus freien Stücken
seinen Wesenskern auf. Sein heißt Beten.
Jüdische Allgemeine, 8.1.2004
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