Der nahöstliche Patient
von Amos Oz

Seien Sie nicht pro Israel, nicht pro Palästina, seien Sie pro Frieden: Amos Oz bedankt sich für den "Welt-Literaturpreis" und blickt optimistisch in die Zukunft. Der Frieden wird kommen, schneller und unblutiger, als viele denken.

Bitte malen Sie sich in Ihrer Phantasie ein kleines Dorf aus, am Fuß eines Vulkans, der kurz vor dem Ausbruch steht. Der Vulkan bebt und wird die ganze Nacht erschüttert, entläßt Rauch und Funken, brummt und knurrt, und von Zeit zu Zeit rollt er auch glühende Felsen ins Dorf ... Und da, im Dorf, ist eine Frau, die die ganze Nacht nicht einschlafen kann, nicht, weil sie sich vor dem Vulkan fürchtet, sondern weil sie spürt, daß sich ihr Sohn, der Sechzehnjährige, im Nebenzimmer in seinem Bett herumwälzt und es ihm nicht gelingt, einzuschlafen.

Und der 16jährig Junge liegt schlaflos, nicht wegen der Schrecken des Vulkans, sondern weil er in seinen fiebrigen Phantasien die Witwe begehrt, die weiter unten in der Gasse wohnt.

Und diese Witwe, auch sie ist die ganze Nacht wach, nicht aus Angst vor dem Vulkan, sondern weil ihre junge Tochter sich mit einem Mann trifft, der an Jahren doppelt so alt wie die Tochter ist. Und dieser ältere Mann liegt ebenfalls wach, die ganze Nacht, nicht wegen des ausbrechenden Vulkans, sondern weil er Ehrgeiz hat, und dafür kämpft, in den Ortsbeirat gewählt zu werden, doch seine Chancen sind nicht sehr gut.

Das, meine Damen und Herren, ist eine Schilderung Israels in Tagen des Krieges, Tagen der Besetzung der palästinensischen Gebiete, der Drohungen, Israel zu vernichten, des Terrors, der Besiedlung und der Existenzangst: Das Alltagsleben geht weiter, Jahr um Jahr mit seiner ganzen prosaischen Kleinheit und mit seiner ganzen Großartigkeit an Selbstüberwindung. Männer und Frauen gießen die Blumentöpfe, ziehen die Kinder groß. Träumen davon, sich einen anderen Wagen zuzulegen oder eine andere Wohnung, debattieren mit der Bank, klatschen über die Nachbarn und bestellen einen Termin für die Zahnfüllung.

Diese Schilderung jedoch ist nicht nur eine Schilderung Israels seit dem Tag seiner Gründung 1948 und bis zum heutigen Tag: Es ist auch das Bild der Situation der Menschheit, wo auch immer. Wir leben doch alle, wo immer wir leben, am Hang eines aktiven Vulkans. Vielleicht brodelt der Vulkan des Nahen Ostens mehr als der Europas. Jeder Mensch aber, an jedem Ort und zu jeder Zeit, lebt in Nachbarschaft mit der Verzweiflung, der Angst und dem Unglück: Die Einsamkeit, die Enttäuschungen, das Scheitern, die Fremdheit, die Unfälle, die Krankheiten, das Alter, das Erlöschen und der Tod lauern immer hinter der Hauswand eines jeden von uns.

Und dennoch, der Vulkan beherrscht nicht unser ganzes Leben, und es darf ihm nicht gestattet sein, es zu beherrschen. Unsere Nächte sind gefüllt - und es ist gut, daß sie gefüllt sind - mit Sehnsüchten, Ambitionen, mit allerlei Plänen und Berechnungen, mit kleinen Hoffnungen und kleinen Enttäuschungen, mit Vorbereitungen für den nächsten Tag, mit heimlichen Leidenschaften und mit endloser Sorge um die von uns geliebten Lebewesen. Nacht um Nacht träumen wir unsere lächerlichen Träume, die wirren und herzergreifenden - das sind die Dinge, mit denen sich die Literatur der menschlichen Komödie beschäftigt hat, beschäftigt und beschäftigen wird (ich spreche jetzt nicht über Genres des literarischen Schreibens, die das Interesse an unserer tragischen Farce verloren haben und das Dorf am Vulkanhang verlassen und sich davongemacht haben in irgendein Disney-Land, in dem sie sich mit allerlei spitzfindigen Spielen verlustieren).

Lassen Sie uns jetzt ausmalen, daß in dem Dorf am Hang des Vulkans außer der Witwe und ihrer Tochter und außer dem Jungen und dem Politiker auch ein Schriftsteller lebt. Was tut der Dorf-Schriftsteller in den von vulkanischen Flammen nur wenig beleuchteten Nächten?

So lange noch die Witwe wach ist und der Junge sich vor lauter Phantasien im Bett herumwälzt und der Kandidat hin und her zwischen Fenster und Tür schreitet, wird es unserem Schriftsteller nicht an Beschreibbarem fehlen: In meiner Kindheit, in Jerusalem, im Parlament des Viertels, das sich jeden Abend im Kaufladen des Herrn Auster zusammenfand, hatten wir, unter allen anderen Ideologen und Ideophilen, auch einen Buchbinder, der eine detaillierte utopische Theorie eines globalen erotischen Kommunismus' entwickelt hatte: Alle Männer und Frauen gäben sich jedem hin, der sie begehrte, und somit würden aus der gesamten Welt und ein für allemal der Hass, die Eifersucht, das Konkurrenzdenken, die Kriege und die gesellschaftliche Diskriminierung verschwinden. Diese Idee entrollte unser Ideologe in langen Briefen, die er an Stalin schickte, mit Kopien an den Papst in Rom und an Mahatma Gandhi in Indien. Aber jedes Mal, wenn es sich für ihn ergab, das Wort "Frau" oder "Beine" zu sagen, lief er über und über rot an und begann zu stottern. Und es gab dort auch einen sehr "nationalen" jungen Mann, der geschworen hatte, den britischen Hochkommissar eigenhändig zu töten: Er wurde ohnmächtig im Kaufladen des Herrn Auster, als er einmal ein wenig Blut aus Frau Austers Nase rinnen sah.

Niemals werden wir neue Themen für das literarische Schreiben suchen müssen.

Die Frage jedoch ist, ob der Schriftsteller aus dem Dorf am Fuße des Vulkans auch irgendeine Verpflichtung hat? Eine moralische? Eine gesellschaftliche? Eine politische? Soll er seine Stimme protestierend erheben? Jeden Tag? Den ganzen Tag? Oder vielleicht nur einmal in der Woche?

Also, vielleicht so: Ein Schriftsteller befaßt sich mit Worten. Vom Morgen bis zum Abend ist er von den Spänen und dem Sägemehl der Sprache umgeben. Genau so wie der Schreiner mit Gerüchen von Holz und Leim umgeben ist. Diese Sache legt dem Schriftsteller ein gewisses Maß an Verantwortung für die Sprache auf: An jeden Ort, an dem Worte voller Haß wie eine Axt gegen bestimmte Gruppen von Menschen benutzt werden, wird bald auch die Axt selbst erscheinen. Der Schriftsteller kann also als Feuerlöscher der Sprache fungieren, oder wenigstens als Rauchmelder der Sprache. Er kann es - und deshalb ist er eigentlich dazu auch verpflichtet.

Hier, als Demonstration, ein Beispiel, das mich persönlich betrifft: die Wörter "Kosmopolit", "Parasit", "weltfremder Intellektueller". Sie spielten eine zentrale Rolle im Schimpfwörterschatz der Nazis und der Kommunisten zugleich. Mein Vater und meine Mutter, meine Großväter und meine Großmütter waren meistens wirklich solche europäische, kosmopolitische Intellektuelle. In den Augen der Nazis und in den Augen der Kommunisten waren sie auch Parasiten. Deshalb warf man sie in den dreißiger Jahren aus Europa hinaus. Man warf sie voller Abscheu hinaus, denn in jenen Jahren waren sie, meine Familie und andere Juden wie sie, die einzigen Europäer in ganz Europa. Alle anderen waren lettische Patrioten oder serbische Patrioten. Ganz Europa war in jenen Jahren mit haßerfüllten Wand-Parolen überzogen: "Juden, geht zurück nach Palästina" - genauso wie heutzutage dieselben Wände mit Hass-Parolen überzogen sind - "Juden, haut ab aus Palästina". Und eigentlich bestand das große Glück meiner Familie darin, daß man sie hinauswarf: Wenn Europa sie in den dreißiger Jahren nicht hinausgeworfen hätte, hätte Deutschland sie in den vierziger Jahren ermordet.

Meine Eltern und die Eltern meiner Eltern sind nicht mit der Titanic namens Europa in den vierziger Jahren untergegangen. Nein. Sie sind in den dreißiger Jahren grob von Bord geworfen worden, als alle Lichter an allen Decks noch brannten und in allen Sälen die anderen Passagiere, die, die keine Juden waren, noch aßen und tranken und tanzten: Aßen nach einem kultivierten Menü, an dessen Vorbereitung die Juden teilgenommen hatten. Tanzten zu den Klängen von Musik, unter dessen Komponisten die Juden gewesen waren.

Kosmopoliten, Parasiten, weltfremde Intellektuelle: Eine der Aufgaben eines Schriftstellers ist es, sich zu erheben und zu warnen bei jedem Fall von Verschmutzung der Sprache, die sein Werkzeug ist. An jeden Ort, an dem von einer ethnischen oder religiösen oder anderen Gruppe als von "Schmutz" oder "Krebsgeschwür" oder "schleichender Gefahr" gesprochen wird - stehe der Schriftsteller auf und ziehe an der Alarmglocke. Läute wenigstens. Die Alarmglocke seines Dorfes.

Dies - und noch eines: Ein Schriftsteller ist ein Mensch, der morgens aufsteht, eine Tasse Kaffee trinkt, sich an seinen Schreibtisch setzt und sich fragt: Wenn ich er wäre? Wenn ich sie wäre? Oder ihre Schwester oder der Ehemann ihrer Schwester? Man kann ja nicht, ohne in des anderen Schuhe zu schlüpfen oder unter des anderen Haut, den einfachsten Dialog eines Ehestreits schreiben, bei dem es um die Frage geht, wer wird heute den Müll heruntertragen und weshalb schon wieder ich, warum nicht du.

Also, ein Schriftsteller bestreitet seinen Lebensunterhalt mit der Sprache, er hat die Pflicht zu schreien, wenn sie vergewaltigt wird, er bestreitet seinen Lebensunterhalt damit, sich den anderen vorzustellen - deshalb hat er die Pflicht, anderen zu helfen, sich den anderen vorzustellen, sogar außerhalb der Literatur, auf der Straße, auf dem öffentlichen politischen Platz.

Sich den anderen vorstellen: Nicht gerade den anderen lieben. Nicht gerade mit dem anderen übereinstimmen. Nicht gerade die Standpunkte des anderen unterstützen. Nur dir manchmal vorstellen, selber an seiner Stelle zu stehen. Ich habe nie die Liebe zum Feind auf meine Fahne geschrieben: "make love, not war". Aber ich strebte immer einen Kompromiß mit dem Feind an: "make peace, not love".

Und: Wer aus eigenen Kräften lernt, sich den anderen vorzustellen - wird auch ein besserer Familienmensch sein, ein besserer Schneider, ein besserer Liebhaber. Und so weiter. Aber das an einem anderen Abend.

Wer aus Jerusalem kommt, sollte sich tunlichst vorsehen und versuchen, nicht ins Prophezeien zu verfallen: Im Geschäft der Prophetie gibt es sehr starke Konkurrenz in Jerusalem. Trotzdem werde ich heute Abend eine - einzige - Prophezeiung riskieren: Wenn der Tag kommt - und er ist weniger fern, als Ihnen vielleicht scheint -, an dem es Frieden gibt zwischen Israel, dem Staat des jüdischen Volkes und Staat all seiner Bürger, und Palästina - wenn dieser Tag kommt, wird man unter den Brückenbauern des Friedens eine Gruppe israelischer und palästinensischer Schriftsteller zählen, die nicht einen Moment aufgehört haben, auch nicht mitten im Feuer, im Blut und im Zorn, sich den anderen vorzustellen und sich zu fragen: Was würde ich fühlen, stünde ich auf der anderen Seite?

Dieser Tag ist nicht mehr fern. Ich sage es Ihnen. Die schlechten Nachrichten hören sie alle hier, Tag und Nacht. Also, heute Abend bringe ich Ihnen auch ein paar gute Nachrichten: Die große Mehrheit der israelischen Juden und auch die große Mehrheit der palästinensischen Araber sind schon zu einem pragmatischen Kompromiß und einer Lösung mit zwei Staaten bereit.

Bereit - nicht glücklich: Die Meinungsumfragen, sowohl in Israel als auch in Palästina, Woche um Woche, bezeugen, daß der Patient - der israelische und der palästinensische - bereit ist, wenn auch ohne Lust, sich der Operation - der Gründung zweier selbstständiger, benachbarter Staaten - zu unterziehen. Der Patient hat sich, mehr oder weniger, mit der Notwendigkeit der Operation abgefunden - doch die Ärzte sind Angsthasen. Mit dem Wort "Ärzte" meine ich die Führer beider Seiten.

Nichtsdestoweniger: Der Tag ist nicht fern, an dem es eine palästinensische Botschaft in Israel und eine israelische Botschaft in Palästina geben wird. Beide Botschaften werden nur einen Fußmarsch von einander entfernt liegen, denn die eine wird in Ost-Jerusalem, die andere in West-Jerusalem sein. Die meisten israelischen Siedlungen werden geräumt sein und ihre Häuser werden vielleicht zur Unterbringung palästinensischer Flüchtlinge dienen, deren Probleme im Staat Palästina gelöst werden müssen und nicht im Staat Israel.

Die endgültige Grenze wird auf jener des Jahres 1967 beruhen. Bilaterale Korrekturen werden eingefügt sein, in den umstrittenen heiligen Stätten werden Sonderregelungen gelten. Das alles wird in nicht allzu weiter Zukunft kommen, denn beide Völker sind schon bereit - nicht glücklich, aber bereit - zur Lösung durch einen praktischen Kompromiß.

Nicht sofort werden im Nahen Osten die Flitterwochen herrschen, aber es besteht eine gute Chance, daß sich stufenweise faire nachbarschaftliche Beziehungen entwickeln. Und jetzt riskiere ich doch noch eine Prophezeiung, die letzte für heute: Im Verlauf von mehr als 1000 Jahren vergoß Europa das eigene Blut und das Blut anderer, bevor es, endlich, die Gründung der Europäischen Union erreichte. In der Tat, dieses Europa hat mehr vom Blut Unschuldiger vergossen - eigenes und das anderer - als alle vier anderen Kontinente zusammen. Wir, die Völker des Nahen Osten, Juden und Araber, werden viel weniger als 1000 Jahre dafür brauchen, und auf dem Weg dahin werden wir wesentlich weniger Blut vergießen, als es Europa getan hat. Vielleicht wäre es also besser für Europa, weniger den moralpredigenden Finger zu schwingen und beiden Seiten mehr Empathie und Hilfe entgegenzubringen. Beiden Seiten. Sie müssen nicht wählen, ob Sie pro-palästinensisch oder pro-israelisch sein wollen, seien Sie lieber: pro Frieden.

Lassen Sie uns zu unserem Schriftsteller zurückkehren, jenem Schriftsteller, der unter seinen Nachbarn im Dorf am Fuße des Vulkans lebt: In der Tat, er muß einen gewissen Kompromiß mit sich und seinem Gewissen schließen. Wenn unser Schriftsteller die Grausamkeit, den Terror, das Unrecht und die Unterdrückung um sich herum ignoriert und sich der Beschreibung von Sonnenuntergängen hingibt, während um ihn herum Menschen ermordet werden, so verrät er sein bürgerliches Gewissen. Wenn er aber sein ganzes Schreiben in ein zorniges Manifest wider die Grausamkeit und die Gewalt und das Unrecht verwandelt - findet er sich als Verräter seiner Kunst und seines Schöpfertums wieder und verwandelt sich in einen Propagandisten und Verfasser von Parolen, ein wandelndes Ausrufezeichen.

Wenn ich meiner Regierung sagen will "Teure Regierung, scher dich bitte zum Teufel", schreibe ich einen Artikel und keine Erzählung. (Die Regierung liest meine Artikel wahrscheinlich, aber aus irgendeinem Grunde beeilt sie sich nicht, sich zum Teufel zu scheren). Aber wenn ich das Bedürfnis habe, eine Geschichte zu erzählen, dann erzähle ich sie, meistens jedenfalls, erbarmungsvoll und neugierig und listig und humoristisch und verwundert und grinsend, kurzum: mit allem, was ich habe. Und ich erzähle eine Geschichte, weil das Bedürfnis zu erzählen und das Bedürfnis zu hören ein elementares, uraltes Bedürfnis ist, und es darf nicht auf das Königreich der Politik reduziert werden und nicht auf die Gefilde der Soziologie und der Ideologie. Das Bedürfnis zu erzählen und Erzählungen zu hören, ähnelt sehr dem biologischen Bedürfnis zu träumen. Ähnelt unserem Bedürfnis zu lachen oder erschüttert zu sein. Ähnelt dem Bedürfnis nach Sexualität. Zumindest bei den Menschen sind Sexualität und Literatur zu ein und derselben Zeit entstanden - der erste menschliche sexuelle Akt ging lückenlos mit der ersten Phantasie einher, und die erste Phantasie verdient es, als der Anfang der Literatur zu gelten.

Was aber sollte der Schriftsteller im Dorf am Fuße des Vulkans wohl besser nicht tun?

Er sollte besser nicht auf seine Gabe des differenzierten Sehens verzichten und sie nicht mit dem simplifizierenden Sehen vertauschen, wenn er politische Standpunkte einnimmt. Europäische Intellektuelle pflegen Amerika im allgemeinen und Hollywood im besonderen zu verspotten, wegen des seichten und infantilen Weltbilds der Westernfilme, in denen immer klar ist, wer der Böse und wer der Gute ist. Und siehe da, dieselben europäischen Intellektuellen, wenn sie sich anschicken, ihre Ansicht zum Konflikt im Nahen Osten zu äußern, machen sie sofort einen Wildwestfilm daraus und werden von einem unbezwingbaren Drang befallen, die Guten zu unterstützen, die Bösen anzuprangern, eine Petition zu unterzeichnen, auf eine Demonstration für die Guten und gegen die Bösen zu ziehen und sich schlafen zu legen.

In der Tat, als es um Kolonialismus und Entkolonialisierung ging, war es leicht zu wissen, wer die Guten und wer die Bösen waren. Im Vietnamkrieg war es leicht und bequem, in einer Schwarz-Weiß-Dimension zu leben. Beim Problem der Apartheid war es klar, wer das Opfer und wer der Schurke war. Aber der israelisch-arabische Konflikt ist kein Western, sondern eine Tragödie. Eine Tragödie im antiken Sinn des Wortes. Der Zusammenprall von Gerechtigkeit mit Gerechtigkeit. Die palästinensischen Araber befinden sich in Palästina, weil Palästina ihre Heimat ist. Sie haben keine andere Heimat auf der Welt. Die israelischen Juden befinden sich in Israel, weil sich über Tausende von Jahren kein einziges Land auf der Welt gefunden hat, in dem sich die Juden, als Nation, zuhause fühlen konnten. Als einzelne - entschieden ja. Als Nation - niemals hatten die Juden eine andere Heimat als Israel.

Die Hälfte der israelischen Juden ist, so wie meine Familie, mit Tritten aus Europa hinausbefördert worden. Die andere Hälfte ist aus den arabischen und muslimischen Ländern mit Tritten hinausbefördert worden oder in letzter Not geflohen. Weder die Palästinenser noch die Israelis haben also einen anderen Ort, wohin sie gehen können. Und weil man sie nicht zwingen kann, eine einzige, glückliche Familie zu werden (die Israelis und die Palästinenser sind keine Familie, sondern zwei Familien, beide nicht glücklich) - besteht die zwingende Notwendigkeit, das kleine Haus in zwei noch kleinere Wohnungen aufzuteilen und zu beginnen, wie Nachbarn zu leben. Ungefähr wie die faire Scheidung der Tschechen und Slowaken. All das ist so einfach, daß es schmerzt - und all das wird wahr werden und Wirklichkeit werden. Weil es keinen einzigen anderen Weg gibt.

In Europa gibt es eine intellektuelle Tradition, die mir fremd ist und weit von mir entfernt, obwohl ihr viele Menschen nahe stehen, deren Ansichten meinen sonst ähnlich sind: In dieser Tradition beeilt sich der, der menschliches Unglück sieht, Leid, Greueltaten, Blutvergießen - eine Petition zu unterschreiben. Erschütterung zum Ausdruck zu bringen. Abscheu zum Ausdruck zu bringen. Entsetzt zu sein. Zu demonstrieren. Anzuprangern und einen beschuldigenden Finger zu heben. Und damit, meint er, hat er seine moralische Pflicht erfüllt.

Ich komme aus einer anderen Tradition. Wenn Sie so wollen, komme ich aus dem Vermächtnis der jüdischen Tradition. Wenn Sie wollen - können Sie es das moralische Vermächtnis des Dr. Tschechow nennen: Wenn es dich an einen Ort verschlägt, in dem sich ein schwerer Unfall ereignet hat oder wo es gewalttätig zugeht, ist es nicht deine erste Pflicht, den Fahrer anzuprangern, der den Unfall verursacht hat, sondern den Verwundeten zu helfen. Zu verbinden. Oder Wasser zu reichen. Oder Hilfe zu rufen. Oder wenigstens die Hand des Verletzten zu halten.

Nicht selten fällt es mir leichter, mit pragmatischen Palästinensern zu kommunizieren als mit den Freunden der Palästinenser hier in Europa. Die Auseinandersetzung mit den Europäern spielt sich in der Regel auf einer Ebene der moralischen Erschütterung und des ausdrücklichen Abscheus ab. Manchmal gegenüber Israel, manchmal gegenüber dem fanatischen Islam. Während meine Begegnungen mit pragmatischen Palästinensern weniger einer Verhandlung vor Gericht ähneln und mehr den Gesprächen unter Ärzten in weißen Kitteln im Krankenhaus, auf der Intensivstation: Manchmal gibt es eine Auseinandersetzung zwischen uns um die Frage, was jetzt am dringendsten ist. Welches Medikament würde helfen und welches könnte den Verletzten gefährden. Doch die Auseinandersetzung um die Frage, wer schuld ist oder wer die größere Schuld trägt oder wer angefangen hat oder wer den Tadel verdient - verschieben wir bis nach dem Ende des Blutvergießens.

Der Dorfschriftsteller, der im Dorf, das vom Vulkan bereits beschädigt wurde, lebt und arbeitet, sollte besser Schüler des Dr. Anton Tschechow sein und nicht Direktor einer viktorianischen Schule: Als allererstes muß das Blutvergießen gestoppt werden. Danach muß der Zustand der Verletzten stabilisiert werden. Danach - mit einer viele Jahre währenden Geduld - muß das Verkrusten der Wunden unterstützt werden und das Verheilen der Narben.

Dafür ist moralische Behutsamkeit nötig, nicht moralischer Eifer. Es ist Mitleid nötig, keine Moralpredigt. Es ist relativierendes Hinschauen nötig, differenziert, geduldig und voller Humor, nicht trockene, hochmütige, mißgestimmte Selbstgerechtigkeit.

Hier, im ländlichen Behandlungszimmer des Dr. Tschechow, befindet sich vielleicht der Schnittpunkt meines politischen Weges mit meiner literarischen Arbeit. Auch in meinen Romanen und Erzählungen finden Sie fast niemals "Gute" gegen "Böse", Verbrecher gegen Opfer, Helden gegen Schurken. Wenn Sie mich zwingen wollten, mit einem Wort die Frage zu beantworten, worüber ich in allen Büchern geschrieben habe, würde ich sagen: über Familien. Wenn Sie mir zwei Worte gestatten würden, würde ich sagen: über nicht-glückliche Familien. Wenn Sie die Geduld für mehr als zwei Worte haben, werden Sie sich hinsetzen müssen und meine Erzählungen lesen.

Die Familie ist in meinen Augen die seltsamste Institution der Welt, die mysteriöseste, komischste, tragischste und paradoxeste, die widersprüchlichste, die am meisten fesselnde und ergreifende. Ich schreibe also über nicht-glückliche Familien.

"Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" schrieb ich, um ein Mysterium darzustellen: Wie geht es an, daß zwei gute, vernünftige, großzügige, empfindsame und miteinander rücksichtsvoll umgehende Menschen - mein Vater und meine Mutter - gemeinsam ein großes Unglück vollbrachten? Wie ist die Gleichung "gut + gut = schlecht" nur möglich?

Dieses Enigma habe ich in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" nicht gelöst. Die Wahrheit ist, daß ich während des Schreibens fast das Interesse dafür verlor. Wer sie in der Hoffnung lesen wird, daß ihm auf der letzten der mehr als 700 Seiten klar wird, wer der Mörder ist - sollte besser ein anderes Buch lesen. Ein Leser, der die Erkenntnis suchen wird, wer der Schuldige ist oder wer hier die sadomasochistische Brutalität von "Wer hat Angst vor Virginia Wolf" oder von "Szenen einer Ehe" sucht, hat sich in der Adresse geirrt.

Es gibt Autoren, die Memoiren schreiben, oder eine Biographie, um sich selber ins Recht und all ihre Feinde ins Unrecht zu rücken. Oder um zu beweisen, daß der Autor immer recht hatte und seine Rivalen immer im Irrtum waren. Oder daß der Autor ein prachtvoller Mensch ist, und sollte er kein prachtvoller Mensch sein, sind nur seine schreckliche Kindheit und seine monströsen Eltern schuld, man komme also nicht mit irgendwelchen Argumenten und Widerworten auf ihn zu.

Nichts von alldem werden Sie in "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis" finden. Ich schrieb dieses Buch nicht, um mit meinen Eltern "eine Rechnung zu begleichen" und nicht, um die toten Geister meiner Familie und meiner Kindheit zu vertreiben. Ich sage Ihnen etwas Paradoxes: Meine Kindheit war tragisch, aber ganz und gar nicht unglücklich. Sie war eine reiche Kindheit, fesselnd und erfüllt, obwohl sie mich einen hohen Preis zahlen ließ.

Ich habe dieses Buch nicht als eine Art "Abschied von den Eltern" geschrieben. Umgekehrt: Ich schrieb es, als die Stunde gekommen war, meine Eltern so zu sehen, als seien sie meine Kinder, und meine Großväter und Großmütter - als seien sie meine Enkel. Tatsächlich ist das Unheil meinen Eltern geschehen, als sie jünger waren als meine Töchter heute. Ich konnte dieses Buch also so schreiben, als wäre ich ein Elternteil meiner Eltern, mit Erbarmen, mit Humor, mit Traurigkeit, mit Ironie und auch mit Neugier, mit Geduld und Zuneigung.

Ich schrieb dieses Buch auch, um die Toten nach Hause einzuladen, auf einen Besuch: Ich bin diesmal der Gastgeber und sie, die Toten, sind Gäste. Setzt Euch bitte. Einen Kaffee? Ein Stück Kuchen? Vielleicht etwas Obst? Wir müssen reden. Ich habe vieles, was ich euch fragen will. In all jenen Jahren während meiner Kindheit haben wir niemals miteinander gesprochen. Nicht ein einziges Mal. Kein Wort. Nicht über eure Vergangenheit, nicht über die Kränkung eurer enttäuschten Liebe zu Europa, das euch hinausgeworfen hatte, nicht über eure Enttäuschung über das neue Land, nicht über eure Träume, nicht über das Zerschellen eurer Träume, nicht über eure Gefühle, nicht über meine Gefühle, nicht über irgendwelche Gefühle auf der Welt, nicht über Sexualität und nicht über Erinnerungen und nicht über Schmerz. Ausschließlich über die Zukunft der kriegerischen Auseinandersetzungen im Balkan sprachen wir zuhause. Oder über die Gründung des Staates Israel. Oder über Shakespeare oder Homer. Oder über Marx und Schopenhauer. Oder über die abgebrochene Klinke und das Waschen der Handtücher.

Heute verstehe ich, daß meine Eltern mit den Worten "eine richtige Stadt" eine Stadt meinten, in der es einen Fluß gab , und über dem Fluß barocke Brücken oder gotische Brücken oder neo-klassizistische Brücken oder normannische Brücken oder slawische Brücken.

An diesem Abend in Berlin empfange ich aus Ihren Händen, meine Damen und Herren Juroren, diesen würdigen literarischen Preis, und ich nehme ihn mit mir, zu meinen Toten wie auch zu den Lebenden, meinen Kindern und meinen Enkeln, um Ihnen zu sagen, daß das Gespräch zwischen uns und Europa nicht abgeschlossen ist und nicht abgeschlossen werden darf. Es gibt vieles zu bereden und vieles zu diskutieren, und es wird Schmerz geben und Wut. Doch es ist Zeit, das Gespräch zwischen uns und Europa wieder aufzunehmen, und nicht nur auf der politischen Ebene. Wir müssen über die Gegenwart sprechen, wir müssen über die Zukunft sprechen, und es obliegt uns auch, eingehend über die Vergangenheit zu sprechen - unter einer Bedingung: Daß wir uns immer ins Gedächtnis rufen, daß unsere Vergangenheit uns gehört und nicht wir unserer Vergangenheit.

Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer.
Die Welt, 13. November 2004

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