Den Wölfen ein Löwe, den Löwen ein Fuchs
Yassir Arafat - ein palästinensischer King Lear oder Repräsentant
eines verspäteten nationalstaatlichen Projekts
von Micha Brumlik
Das lange Sterben Yassir Arafats bannte die Welt, und die Tatsache, dass
es der Führer der Palästinenser gewesen ist, um dessen Tod es
jetzt geht, fixiert den Blick der Weltöffentlichkeit wieder und wieder
auf den Nahen Osten, der stärker als je zuvor als der Nabel auch
der globalisierten Welt erscheint. Wie auf mittelalterlichen Weltkarten
steht Jerusalem wieder im Mittelpunkt dieser Welt, und der jüdisch-christliche
Hintergrund des europäischen und nordamerikanischen Bewusstseins
sieht dort das Herz aller Dinge schlagen. Unabhängig davon, ob das
den weltpolitischen Realitäten, die sich ja eher rings um den Pazifik
verdichten, tatsächlich entspricht.
Die jüdisch-christliche Tradition erzählt in
ihrer begründenden Hauptschrift, der Bibel, immer wieder vom Sterben
und Wahnsinn der Könige, beginnend mit Saul, der wegen seines Ungehorsams
gegen Gott im Elend stirbt. Schon alleine deshalb war das Argument des
israelischen Justizministers gegen ein Begräbnis Arafats auf dem
Tempelberg in Jerusalem, wonach dort judäische Könige, aber
nicht arabische Terroristen begraben seien, unsinnig: Der Bibel nach waren
nicht wenige dieser Könige eben auch das, was man heute als Terrorist
bezeichnet. Auf jeden Fall haben die Motive aus den biblischen Büchern
der Könige Jahrhunderte später in Shakespeares Königsdramen
ihre abschließende Form gewonnen.
Arafats Sterben mit seinem nur noch komisch wirkenden
Abtransport aus Ramallah, wo der Todkranke als Zwerg mit wollener Zipfelmütze
fotografiert wurde, der verschwenderisch in Paris lebenden Suha Arafat,
der Clique schwächlicher Nachfolger und dem noch bedrohlich schweigenden
Chor der palästinensischen Massen übertreffen freilich alles,
was sich Shakespeare je hätte ausdenken können. Seine Königsdramen
handeln von Politik, und sie entfalten poetisch, was die frühneuzeitliche
politische Philosophie, namentlich bei Macchiavelli systematisch postuliert
hat: die Frage nach dem tugendhaften Staatsmann, wobei unter Tugend alles
andere, aber nicht erzwungene Keuschheit zu verstehen ist. In vielem,
so könnte man meinen, entspricht Arafat jedem Typus des Fürsten,
dem Macchiavelli unter anderem empfahl, keineswegs immer sein Wort zu
halten, und ansonsten den Wölfen ein Löwe und den Löwen
ein Fuchs zu sein.
Die Bürger anfeuern
In Camp David jedenfalls, als er die Chance hatte, den
israelischen Wölfen ein wenn auch begrenztes, so doch gesichertes
Territorium friedlich zu entreißen, versagte er. Am weitesten kam,
so stellt Machiavell fest, wer Verträge und Versprechungen gebrochen
hat, und das heißt, wer "am besten den Fuchs zu spielen verstand."
Machiavelli hätte Arafat zudem abgesprochen, sich
Ruhm erworben zu haben, verstand er doch überhaupt nichts von der
Errichtung und Förderung einer bürgerlichen Gesellschaft: "Ferner"
so Machiavell in einem Kapitel über den Ruhm "soll ein Fürst
die Tüchtigkeit lieben und die Trefflichen in jedem Fache ehren.
Er soll seine Bürger anfeuern, ihrem Berufe emsig zu obliegen, sowohl
im Handel wie im Ackerbau und in allen anderen Gewerbezweigen, damit sie
nicht ablassen, ihren Besitz zu mehren, aus Angst, dass er ihnen genommen
werde, noch aus Furcht vor Steuern ihren Handel vernachlässigen."
Mit Arafat stirbt eine Travestie jenes Personals, das in den letzten vier
Jahrhunderten in Europa an der Entstehung und Gründung von Nationalstaaten
- soweit Akteure hier überhaupt eine nennenswerte Rolle spielten
- beteiligt war: des "Staatsmanns", der in den der Logik familialer
Herrschaft folgenden feudalen und absolutistischen Herrschaftssystemen
nicht oder nur zufällig auftreten konnte.
Der Travestie des Staatsmanns entspricht der künftige
palästinensische und auch der gegenwärtige israelische Staat,
der - wie der New Yorker Politologe Tony Judt überzeugend gezeigt
hat - ebenfalls nichts anderes als ein verspätetes Nationalstaatsprojekt
darstellt. Anders als Spanien, Portugal und Frankreich, die sich seit
dem frühen Mittelalter territorial festigten, konnten sich jene Staaten,
die aus dem Zerfall der großen Imperien: des russischen Reiches,
des osmanischen Reiches und der österreichisch- ungarischen Doppelmonarchie
entstanden, die Voraussetzung einer einigermaßen homogenen Bevölkerung
nicht aufweisen - mit der Folge einer bis in die jugoslawischen Nachfolgekriege
nicht abreißen wollenden Kette von Massakern, Bürgerkriegen
und ethnischen Säuberungen.
Imperien und Nationen
Imperien zeichneten sich eben dadurch ab, dass sie zwar
geschlossene Siedlungsgebiete einzelner Ethnien aufwiesen, diese Siedlungsgebiete
aber oft so ineinander verzahnt waren, dass ihre Flickenteppiche größere
ethnisch homogene Territorien nicht aufwiesen. Wo verblendete bürgerliche
Mittelschichten dann gleichwohl einen "klassischen" Nationalstaat
errichten wollen, ist die ethnische Säuberung nicht fern.
Israel und Palästina sind in diesem Sinn verspätete
Nationen, und es ist nur als tragisch zu bezeichnen, dass die ihrem Ende
entgegen taumelnde Nationalstaatsidee es Juden und Palästinensern
aufnötigt, seine Form aufzunehmen, obwohl doch absehbar ist, dass
es der Sache der gesellschaftlichen Organisation nach seine Funktion objektiv
verloren hat. Doch ist gesellschaftliche Organisation nicht alles: Der
nur als religiös zu bezeichnende Glaube an die heilende, Trost und
Zugehörigkeit, ja Lebenssinn spendende Kraft der nationalen Gemeinschaft
hat im alten Europa durchaus mit ihrem eigenen Einverständnis Abermillionen
Tote gefordert. So lang liegt diese Zeit nicht zurück, dass man hier
schon spöttisch darüber lächeln könnte.
Zwischen Paris, Ramalla und Jerusalem hat sich der Vorhang
zum letzten Akt einer Tragikomödie geöffnet, der Tragikomödie
des in Agonie liegenden Nationalstaatsmodells, die sich im von Intrigen
begleiteten Sterben eines nationalen Politikers, der Terrorist so gut
wie Trickster, Möchtegernstaatsmann so gut wie Idol der Massen, Buhmann
sowie Friedensnobelpreisträger gewesen ist, anschaulich verdichtet.
"Spottet meiner nicht" lässt Shakespeare im vierten Akt
seinen umherrirrenden und den Verstand verlierenden greisen Lear sagen
"Ich bin ein alter kind'scher Mann/Achtzig und drüber: keine
Stunde mehr/ Noch weniger, und grad heraus/... Doch zweifls' ich noch,
denn ich begreif es nicht/ An welchem Ort ich bin; all mein Verstand/
Entsinnt sich dieser Kleider nicht, noch weiß ich/ Wo die Nacht
ich schlief. Lacht nicht über mich."
Micha Brumlik ist Leiter des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts.
Frankfurter Rundschau, 12.11.2004
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