Eine Chance für Palästina
von Schimon Peres


Arafat war eine Gestalt, die man nur schwer begreifen konnte. Mehr als jeder andere Politiker und Staatsmann hat er dafür getan, eine eigenständige und unabhängige palästinensische Identität zu schaffen. Er war die Stimme und das Gesicht der Sache der Palästinenser. Seine unermüdlichen Anstrengungen katapultierten die palästinensische Frage auf der internationalen Agenda nach ganz oben und sorgten dafür, daß sie dort vier Jahrzehnte lang blieb.

Unglücklicherweise wurden diese Leistungen oft "mit dem Schwert" erreicht. Arafat führte einen erbitterten Kampf gegen Israel und die Israelis. Er verübte unzählige abscheuliche Verbrechen, die eine traurige Spur ausgelöschter Familien und zerstörter Leben hinterließen. Trotz all seiner Bekenntnisse zum Wandel sagte er sich vom Terror als Mittel im Dienste der palästinensischen Sache nie ganz los.

Arafat erfreute sich der Liebe und der Hochachtung seines Volkes. Diese Zuneigung war ihm lieb und teuer. Er führte ein bescheidenes Leben und beanspruchte für sich keinen Luxus. Er lebte und wirkte für seine Landsleute. Als politischer Führer der Palästinenser stieß er die Tür auf zu einer historischen Verständigung mit Israel in Form der Aufteilung des Landes zwischen einem Staat für das jüdische Volk und einem Staat für die Palästinenser. In diesem Bruch mit der Vergangenheit bewies er Mut. Er akzeptierte einen schmerzhaften Kompromiß mit Israel auf der Grundlage der Grenzen von vor 1967. Damit verzichtete er auf jene Gebiete, welche die UNO den Palästinensern in ihrer Resolution 181 aus dem Jahr 1947 angeboten hatte und die von diesen damals zurückgewiesen worden war. Er akzeptierte, daß sich die Realitäten gewandelt hatten.

Aber Arafat ging nicht weit genug. Vor der Wahl stehend zwischen der Liebe seiner Landsleute und der Besserung ihrer Lebensverhältnisse, entschied er sich unglückseligerweise für ihre Liebe. Er war nicht bereit, seine Popularität bei den Palästinensern aufs Spiel zu setzen für Beschlüsse, die ihm zu kontrovers vorkamen, als daß er dafür seinen Kopf hinhalten wollte. Nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens sagte er zu mir einmal in bitterem Ton: "Da sehen Sie, was Sie mir angetan haben: Statt eines populären Mannes bin ich in den Augen der Palästinenser und der arabischen Welt jetzt eine umstrittene Figur."

Am Ende triumphierte die Sehnsucht nach Beliebtheit über die Bereitschaft zur Kontroverse. Die von ihm verkündete Politik war couragiert, aber er setzte sie nicht in die Tat um, er löste sich nicht von Haß und Terror. Er enttäuschte die Hoffnungen vieler und verlor seine Glaubwürdigkeit bei denen, die seine Sache am meisten hätten voranbringen können.

Arafat schaffte es nicht, den Weg frei zu machen für jenen schmerzlichen, aber notwendigen Lernprozeß, den jeder Mensch und jede Nation durchlaufen müssen: Phantastereien der Größe und Überlegenheit, die nichts als Elend bringen, hinter sich zu lassen und dafür - in der wirklichen Welt - in gegenseitigem Respekt und Wohlstand zu leben. Arafat hatte die Wahl zwischen dem Weg der Verhandlungen und dem Weg des Terrors und der Gewalt. Er hätte den Palästinensern und ihrer Sache einen größeren Dienst erwiesen, wenn er dem Terrorismus abgeschworen und sich der Verständigung und dem Ausgleich zugewendet hätte.

Arafat war ein großes Talent. Er zeichnete sich durch einen scharfen und konzentrierten Verstand aus. Nur wenige Dinge entgingen seiner Beobachtung. Vom Westen war er fasziniert, doch allzu oft hielt er dessen Erfahrungen und Erkenntnisse aus seiner Perspektive für irrelevant. In anarchischen Situationen blühte er auf. Er herrschte über ein archaisches und hochzentralisiertes System, führte ein strenges Regiment über die bewaffneten Gruppen und wachte eifersüchtig über die Finanzmittel. Als ihn die Geberländer aufforderten, die Verwendung der Mittel transparenter zu machen, erwiderte er, er sei "kein Bauchtänzer". Er zeigte keine Neigung zu Verhaltensweisen, die er für unanständig hielt. Er mokierte sich über Israels chaotische Demokratie. Einmal sagte er zu mir: "Mein Gott, wer hat bloß diese Demokratie erfunden? Das ist ja alles so mühselig." Er verfügte über ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis. Aber allzu gern vergaß er Fakten.

Der Tod eines Vaters ist immer Anlaß für tiefe Trauer. Doch er bietet auch eine Gelegenheit, erwachsen zu werden. Die Welt blickt nun auf das zur Waise gewordene palästinensische Volk. Die Welt hofft, daß die Palästinenser ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, daß sie den Phantasien ihrer Jugend Lebewohl sagen und daß sie den Mut aufbringen, die Realität so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie sie sie gern hätten. Die Palästinenser müssen anerkennen: daß es ein Israel gibt und weiter geben wird. Seine historische Heimstätte bedeutet dem jüdischen Volk außerordentlich viel, aber wir wollen auch mit unseren Nachbarn in Frieden leben. Wir müssen uns dieses schmale Stück Land teilen. Wir Juden sind ein moralisches Volk, unsere Tradition und unsere Werte rufen uns dazu auf, mit anderen in Frieden zu leben.

Wir reifen als Menschen, wenn wir lernen, den anderen anzuerkennen und an seiner Seite zu existieren - gleichgültig, wie sehr sich seine Träume von den unsrigen unterscheiden. Wir reifen als Menschen, wenn wir lernen zu teilen. Und wir reifen als Menschen, wenn wir unsere Wut auf die Welt durch produktive Energie ersetzen, die darauf hinwirkt, diese Welt für alle zu einem besseren Ort zu machen.

Mein Gebet umschließt uns alle - Palästinenser und Israelis, Juden und Araber -, die wir an diesem Tag unseren Blick in die Zukunft richten: Mögen wir lernen, danach zu trachten, worauf es im Leben ankommt. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Welt, 12. November 2004, A. d. Engl. von Daniel Eckert

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