Kinder sind Botschafter des Friedens:
Das israelische Kinderheim "Neve Hanna" setzt Völkerverständigung
praktisch um
von Antje C. Naujoks
Im Gedächtnis aller Israelis hat sich der Oktober
2000, der Beginn der zweiten Intifada, eingegraben. Die Erinnerungen daran
variieren: entführte israelische Soldaten und Anschläge einerseits,
Proteste und 13 tote israelisch-arabische Demonstranten andererseits.
Doch einerlei wie sich die Erinnerungen auch gestalten mögen, die
Kluft zwischen jüdischen und arabischen Bürgern der israelischen
Gesellschaft scheint seither gewachsen.
Häufig hat diese Kluft noch nicht einmal etwas mit
Politik zu tun. Zumeist weiß man einfach nur zu wenig über
den anderen und ist kaum mit dessen Lebensweise und Traditionen vertraut.
Man lebt oft in unmittelbarer Nähe und ist sich dennoch fremd. So
ist es ebenfalls im Negev. Auch hier leben jüdische und arabisch-beduinische
Israelis Tür an Tür.
Kiryat Gat als auch Rahat sind mittelgroße Städte.
In Kiryat Gat leben 60.000, in Rahat 40.000 Einwohner. In Kiryat Gat wohnen
viele jüdische Neueinwanderer. In den 1960-er Jahren ließen
sich hier vorwiegend sephardische Juden nieder, die aus den arabischen
Ländern nach Israel kamen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts machten
sich hier viele Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und aus
Äthiopien ansässig. Das Anfang der 1970-er Jahre gegründete
Rahat ist die größte beduinische Planstadt der Negev-Wüste.
Die Mehrheit der Einwohner ist unter 18 Jahre alt. In beiden Städten
lebt eine mehrheitlich sozialschwache Bevölkerung, die mit Arbeitslosigkeit,
Bildungsmissstand und Armut zu kämpfen hat.
Lediglich 30 Minuten Autofahrt trennen die Städte
Kiryat Gat und Rahat voneinander, doch in dieser kurzen Zeit scheint man
eine Reise zwischen zwei Welten zu machen. In Kiryat Gat und in Rahat
leben Bürger desselben Staates, und trotzdem haben die meisten Juden
und Beduinen vielfach recht wenig Berührungspunkte.
Vor rund 15 Jahren fasste eine jüdische Frau den
Plan, diesen Zustand zu ändern. Hanni Ullmann (1908-2002) widmete
ihr Leben Kindern. Sie war in den 1920-er Jahren im jüdischen Waisenhaus
"Ahawah" in Berlin tätig. Als die Verfolgung von Juden
in Deutschland einsetzte, bereitete sie die Alijah von jüdischen
Kindern vor, denn sie war selbst bereits 1929 nach Palästina ausgewandert.
Hier wurde sie wieder für die "Ahawah" tätig, die
in Kiryat Bialik bei Haifa gegründet wurde. Hanni Ullmann war u.a.
mit Martin Buber, Ernst Simon und Schalom Ben-Chorin befreundet. Sie teilte
deren Auffassung hinsichtlich eines gemeinschaftlichen Lebens von Juden
und Arabern in ihrer neuen Heimat. Sie setzte sich auch für eine
Völkerverständigung mit jungen Deutschen ein, und so dienten
im "ihrem" Kinderheim die ersten deutschen Freiwilligen von
Aktion Sühnezeichen, die Anfang der 1960-er Jahre nach Israel kamen.
Hanni Ullmann prägte das Leben unzähliger Kinder,
die sogar noch in hohem Alter mit großem Respekt und viel Liebe
über sie reden. Sie gab ihr Wirken zu Gunsten von Kindern sogar im
Pensionsalter nicht auf, denn sie nahm ein weiteres Projekt in Angriff,
von dem sie seit vielen Jahren zusammen mit einer Freundin geträumt
hatte: 1974 gründete sie das Kinderheim "Neve Hanna" (Hannas
Oase) in Kiryat Gat, in dem heute mehr als 60 Kinder zwischen 4 und 18
Jahren leben, deren Familien zerrüttet sind, die misshandelt und
missbraucht wurden und denen man in "Neve Hanna" in familienähnlichen
Wohngruppen ein warmherziges Zuhause bietet. Hinzu kommen 30 Kinder aus
Familien, die dringend Hilfe brauchen. Die 7- bis 12-Jährigen werden
nach der Schule im Rahmen eines Tageshortes in "Neve Hanna"
betreut.
Wie eingangs gesagt, spürt man in Israel die Kluft
zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Doch dank Hanni Ullmanns
Initiative, einen Kontakt zwischen Lehrern, Pädagogen und Erziehern
aus "Neve Hanna" und Rahat herzustellen, merkt man in diesen
Kreisen weniger davon. Hier scheint es vielmehr so, dass man gerade während
der letzten vier schwierigen Jahre noch viel näher zusammengerückt
ist.
Hanni Ullmann initiierte Anfang der 1990-er Jahre Kontakte
zwischen "Neve Hanna" und Rahat. Schon seit Jahren treffen sich
junge Erwachsene zusammen mit Jugendlichen auf regelmäßiger
Basis, lernen einander kennen, erfahren mehr über die andere Kultur
und Religion und erhalten einen Einblick in die andere Lebensweise und
Gepflogenheiten. Doch nicht weniger wichtig ist, dass sie zu Freunden
werden, die einander schätzen und respektieren, auch wenn man sich
einmal streitet. Auf spielerische Art wird die Gemeinschaft des anderen
zu einer Entdeckungsreise, dank der Fremdheit und Vorurteile ganz ohne
Involvierung von Politik, anspruchsvollen Theorien und komplizierten Erziehungsansätze
abgebaut werden. Vor wenigen Jahren organisierten und finanzierten ehemalige
deutsche Freiwillige eine Reise von Kindern aus "Neve Hanna"
und Rahat nach Deutschland und in die Schweiz.
"Es war schön zu erleben, wie die zwei Gruppen
der Jugendlichen aus Neve Hanna und aus Rahat zu einer Gruppe zusammenwuchsen.
Natürlich zeichnete sich dies schon während der intensiven Vorbereitung
auf die Tanzaufführungen, insbesondere aber während der Reise
ab. Auch die Jugendlichen erzählten, dass sie sich noch einmal ganz
neu und anders kennen gelernt haben", berichtete eine ehemalige Freiwillige
rückblickend. Die Kinder selbst bezeichneten sich als "Botschafter
des Friedens."
Dudu Weger, der seit mehr als 20 Jahren "Neve Hanna"
leitet, war an Hanni Ullmanns Seite und verfolgte die Kooperation zwischen
dem Kinderheim und in Rahat lebenden Beduinen mit großem Elan weiter.
"Als Hanni Ullmann 2002 starb, wurde uns klar, dass wir ihren Traum
von einer intensiven Begegnung zwischen Juden und Arabern auf eine andere
Ebene heben müssen. Wir begannen zu überlegen, wie wir ihre
Liebe und ihren Glauben an Kinder und an eine Völkerverständigung
fortführen können. Der gemischte jüdisch-beduinische Tageshort,
den wir "Pfad des Friedens" genannt und in Gedenken an Hanni
gegründet haben, ist unsere Antwort."
Am 5. Oktober 2004 feierte man in "Neve Hanna"
mit mehr als 300 Gästen aus dem In- und Ausland das 30. Jubiläum
des Kinderheimes und die Einweihung des jüdisch-beduinischen Tageshortes.
Die zehn Jungen - fünf aus Kiryat Gat und fünf aus Rahat -,
die den "Pfad des Friedens" besuchen, gehen in die 3. bis 5.
Klasse. Sie treffen nach der Schule in "Neve Hanna" ein, bekommen
ein Mittagessen, machen hier ihre Hausaufgaben und spielen. Sie erhalten
Förderunterricht und sind in Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen
eingebunden. Sie machen alles zusammen. Die jüdischen Kinder können
schon einige Brocken Arabisch, die beduinischen Kinder haben bereits etwas
Hebräisch gelernt. Während der jüdischen Feiertage erfuhren
die beduinischen Kinder mehr über das jüdische Neujahrsfest
- Rosh HaShana - und den Versöhnungstag, Yom Kippur. In diesen Tagen
werden die jüdischen Kinder in die Gepflogenheiten des Fastenmonats
Ramadan eingeweiht. Die beiden Betreuer, eine Jüdin und ein Beduine,
werden von den Kindern inzwischen mit zahllosen Frage gelöchert,
denn sie haben ihre Entdeckungsreise angetreten, auf der sie mehr über
den anderen und zugleich auch mehr über sie selbst erfahren.
Obwohl das Projekt erst einen Monat läuft, zeichnen
sich hier die gleichen Entwicklungen ab, wie bei den regelmäßigen
Treffen der Jugendlichen: Die Gruppenidentität verschieb sich, während
zugleich die eigene Identität gefestigt wird. Ein jüdischer
Junge erklärt, warum er vor den Mahlzeiten einen Segensspruch aufsagt.
Ein beduinischer Junge schildert, warum seine Schwester ein Kopftuch trägt.
Als wenig später draußen zwei Jungen des neuen Tageshortes
mit anderen "Neve Hanna"-Kindern aneinander geraten, eilen ihnen
die anderen Kinder ihres Tageshortes zur Hilfe: "Schließlich
gehören sie doch zu unserer Gruppe!", meinen sie trocken.
Diesen Geist tragen die Kinder in ihre Familien, mit denen
sowohl ein jüdischer sowie ein beduinischer Sozialarbeiter eng zusammen
arbeiten. Sie haben Probleme, die man gemeinsam meistern muss. Doch den
Gemeinschaftssinn, den die Kinder bereits im ersten Monat ihrer Beteiligung
am gemischten Tageshort aufgeschnappt haben, vermitteln sie auch ihren
Geschwistern, ihren Freunden und in den Schulen ihren Klassenkameraden
sowie Lehrern. Auch sie sind "Botschafter des Friedens".
Um diesen Ansatz weiter zu fördern hat man in "Neve
Hanna", ebenfalls in Gedenken an Hanni Ullmann, einen "Internationalen
Preis für Friedenserziehung" (Foto rechts) gestiftet. In diesem
Jahr wurde er Gilit Ullmann überreicht, die in den USA lebt und dort
das Lebenswerk ihrer Großmutter fortsetzt, indem sie sich im Verein
der "Amerikanischen Freunde Neve Hannas" engagiert. Zukünftig
soll dieser Preis an eine Person oder Institution verliehen werden, die
auf eine ähnliche Weise zum Frieden unter Menschen beitragen.
Dudu Weger zieht eine erste Schlussfolgerung, die ihm
aus der 15-jährigen Kooperation von "Neve Hanna" mit den
in Rahat lebenden Beduinen nur allzu gut bekannt ist: "Durch gegenseitigen
Respekt und Verständnis, Anerkennung und Freundschaft können
wir Vorurteile abbauen. Wenn wir nicht lernen, miteinander zu leben, dann
werden weder wir noch Araber ein Land haben, in dem man leben kann."
http://www.nevehanna.org/deHaupt.htm
und www.nevehanna.de
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