"Wir waren beide Außenseiter"
Albert Friedlander (gestorben am 8.7.2004) über Friedrich-Wilhelm Marquardt (gestorben am 25.05.2002)

Die AG Juden und Christen beim DEKT gedachte in einer Gedenkveranstaltung während des Ökumenischen Kirchentages in Berlin am 31. Mai 2003 im Konzertsaal der Universität der Künste ihres langjährigen Mitglieds Friedrich-Wilhelm Marquardt. Moderation: Hanna Lehming, Pastorin, Hamburg

Moderatorin:
Albert, du warst einer der langjährigen Freunde, Begleiter und Gesprächspartner von Friedrich-Wilhelm Marquardt. Welche Bedeutung hatte er für die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen und für dich als jüdisches Mitglied dieser AG?

Friedlander:
Um es ganz einfach zu sagen: Heutzutage verstehe ich die Arbeit unserer Arbeitsgemeinschaft kaum ohne Friedels Dasein. Ich muss noch eine Wallfahrt machen nach Dahlem und den Friedhof dort besuchen. Ich denke daran, dass da so viele Mitglieder der AG liegen, Goldschmidt und Scharf, Marquardt fand ein Bett neben Gollwitzer - wirklich so viele finden sich da, dass ich damit weiter leben muss. (Wenngleich ich ja auch hier Anwesende anerkenne und ehre, alle, die noch unter uns sind: Stöhr vor allem und seine Frau und viele.) Aber irgendwie fühle ich mich fast wie ein revanant und muss nun mit den Erinnerungen leben und auch betonen, wie wichtig diese Menschen für mich von Anfang an waren.

Die erste Begegnung mit Friedel war ja am Nürnberger Kirchentag. Genau dieses war für mich ein äußerst wichtiger Moment in meinem Leben, kann ich sagen, dann wir sprachen beide über das Thema "Glauben nach Auschwitz".

Moderatorin:
Das war 1978 in Nürnberg, muss ich zur Erinnerung sagen. Im Fernsehen war gerade die Serie "Holocaust" ausgestrahlt worden, und es gab eine große Aufmerksamkeit und Spannung im Publikum bei dem Thema, das Friedlander und Marquardt zusammen erarbeitet haben.

Friedlander:
Genau, am Ende meines Vortrags musste ich doch von meiner Furcht und Sorge sprechen, und so war das letzte Wort, das ich sagte, der Kaddisch. Denn ich hatte vorher große Bedenken gehabt, ob man überhaupt über dieses Thema sprechen kann. Es waren am Anfang in der Meistersingerhalle ja Neonazis zu hören, die johlten und störten und versuchten, Schriften herumzureichen von Luther über die Juden von der sog. Auschwitzlüge. - Aber dann kam Friedel, und sein Wort war von Anfang an so freundlich und hilfreich. Es war wirklich ein Wort der Beichte für Deutschland, muss ich sagen. Er sagte, jetzt fangen wir endlich an, über Auschwitz zu reden, und erst jetzt begreifen wir, was für die Misere in Deutschland nötig ist. Und er sprach noch von seiner eigenen Geschichte, von seinem Glauben und Denken und von der Erfahrung, die er zum Beispiel in Holland gemacht hatte. Das war (1949) zu der Zeit, als dort die Brede-Prozesse stattfanden, unter denen die Juden damals sehr litten. Die jüdische Familie, bei der er wohnte, hatte ihn als Christen trotzdem bei sich aufgenommen, und irgendwie fand er, dass genau die Begegnung etwas Phantastisches für ihn - aber vielleicht auch für sie - bedeutete: man konnte einander verstehen. Friedel verstand vor allem, was die Trauer für sie war, aber auch die Furcht, in der die Juden Europas noch immer lebten. Friedel hat uns da so viel gegeben. Nach unseren Reden konnten wir uns zusammen hinsetzen, und er tröstete mich. Das war so gut und anständig. Von da an fing ich an, mich wirklich ein bisschen wieder ins deutsche Land hineinzufinden, vorher, in den fünfziger Jahren, hatte ich doch immer bei jedem Versuch, bei jedem Grenzübertritt große Sorgen und riesige Kopfschmerzen gehabt. Aber dann hatte ich das Glück, von großen christlichen Lehrern belehrt zu werden. (Auch mein Buch "After the.." über den Holocaust..) In New York war ich Nachbar von Paul Tillich, der mich betreute. Eben solchen Menschen zu begegnen, brachte mir viel.

Marquardt beeindruckte mich außerordentlich, wie er mich tröstete und mich weiterführte in ein Denken, wodurch ich jetzt endlich des Christentum wieder - vielleicht nicht anerkennen, sondern kennen lernte. Das geschah nur, weil persönliche Liebe und Anständigkeit mich ganz und gar überzeugte.

Moderatorin:
In deinem Beitrag damals im Jahr 1979 hast du einen Satz gesagt, der mich etwas erschrocken hat. Er hieß: Wir alle, Juden und Christen, haben die Sprache des Dialogs verloren. Ein Dialog findet nicht statt. Konntest du mit Marquardt allmählich eine solche Sprache finden? Und wie ging das?

Friedlander:
Ja, ich muss sagen, in der Öffentlichkeit gab es ja ein gewisses Anerkennen, Versuche, einander anzusprechen. Man sprach, aber es war eher ein Nebeneinander, nicht ein Miteinander. Aber nicht mit Friedel. Plötzlich konnten wir uns die Hände reichen, wir konnten einfach zusammen nachdenken und reden. Und in der Zeit nach Nürnberg konnten wir zusammen spazieren gehen. (Ich muss mir den Nürnberger Vortrag noch einmal vornehmen..) Doch, es gibt einen wirklichen, echten Dialog, wenigstens mit einigen Menschen. Mir ist klar, dass es nicht die Stellung des ganzen Deutschlands und des Christentums war und zur Zeit ist. - Mit Friedel hatte ich vieles gemeinsam. Wir waren beide Außenseiter und waren in gewissen Sinne ziemlich allein. Friedel hatte nur ein paar Freunde, Studenten, die seinen Einsichten folgen konnten. Und ich fühlte mich hier immer als Fremder, weil es ja so wenige Juden in Deutschland gab. Auf diese Weise gab es noch keinen wirklichen Dialog damals. Nach Nürnberg fand ich dann doch, dass es eine Art Dialog gab...

Moderatorin:
Später habt ihr weiter Gelegenheit gehabt, euch zu treffen. Du warst 1997 als Fellow des Wissenschaftskollegs hier in Berlin. Da habt ihr manche persönlichen Gespräche geführt. Mich würde interessieren: Du bist in Berlin aufgewachsen. 1938 gerade noch entkommen. Ihr seid fast ein Jahrgang. Ging es auch um diese Dingen, um die Nazizeit in Berlin, um die Frage, wie ihr diese Zeit hier erlebt habt?

Friedlander:
Oh doch. - Aber ich will noch ein schnelles Wort zu Hamburg sagen. Damals sprach er auf dem Kirchentag über das Lutherwort, dass Jesus Christus ein geborener Jude sei. Genau das hat mich im Zuhören auf Themen zu meiner eigenen Arbeit gebracht. ... (nicht identifizierbar) Deshalb konnte ich auch etwas von Jesus in mein Denken hineinführen. - In späterer Zeit trafen wir uns bei vielen anderen Themen und Sachen. Dann in Berlin: Das Wissenschaftskollegium ist eine schöne Einrichtung. Man wird eingeladen, eine Zeit da zu sitzen und zu denken. Man braucht nichts anderes zu machen: Denken als Luxus, das braucht man manchmal. Als er mich da besuchte, - wir aßen und herumspazierten, da konnten wir einander fragen: Was hat sich in diesen Jahren entwickelt? Und zum Teil waren es wirklich Erinnerungen aus der Jugendzeit, aus den dreißiger Jahren. Plötzlich waren wir in der alten Zeig, das war uns beiden wichtig. Ich ein kleiner Junge in Berlin, er nicht weit davon. - Neulich hatte ich in der Süddeutschen Zeitung einen Aufsatz zu schreiben: Berlin in fünfzig Jahren, was dann sein würde. Ich gab eine lobende Zensur ab über die Zukunft dieser Stadt. Aber für die Vergangenheit musste ich sagen, dass damals so vieles in mir zerbrochen ist. Da musste mich Friedel wieder trösten, mich an die Wege aus dem Dunklen erinnern und mich weiterführen in die Gegenwart. Vor einem Jahr war ich wieder in Berlin. Wir hatten eine persönliches Treffen und tauschten uns aus: Was machst du jetzt im Unruhestand, wo die Arbeit des Lehrens zurücktritt und man Zeit hat zum Schreiben. Für ihn war es eine Art der Erfüllung in den letzten Jahren, er konnte weiter schreiben und hat an der großen Aufgabe der Dogmatik viel geleistet. Da konnte ich ihn nur beneiden. Wir trafen uns ganz als Freunde, die nicht mehr vorsichtig sich abtasten mussten, nicht mehr Christentum gegen Judentum, sondern uns beschäftigten wirklich persönliche Fragen. Wie geht es dir, in der Familie und so fort. Ich brauchte ihn auch, von einer Krankheit erst genesen. - Ich glaube, er war in den letzten Jahren, trotz mancher Probleme, die man immer hat, doch ein glücklicher Mensch, der selbst wusste, was er geleistet hat. Das konnte er mir auch sagen. Dass er eine einsame Stimme war, machte ihm nichts mehr aus. Er wusste, das es eine Arbeit für die Zukunft war.

Moderatorin:
Du hast einen sehr schönen Nachruf auf Marquardt geschrieben, der im "Independent" veröffentlicht wurde, worin du mehr auf seine Wirkung nach außen eingingst. Was würdest du sagen, was seine Bedeutung für unsere Kirche und Theologie in Deutschland sein kann?

Friedlander:
Also der Artikel im "Independent" war gar nicht die einzige Würdigung, die in England erschien. Auch die "Times", die größte Zeitung dort, hatte einen schönen Nachruf gedruckt. Das zeigte mir, dass man in England keine Hemmungen hatte, Marquardts Bedeutung anzuerkennen, während es hier in Deutschland noch Streite gegen seine Gedankenrichtungen gibt. Gerade weil er nicht von allen anerkannt war, wurde er ein Prophet, der Wichtiges zu sagen hatte, was vielleicht erst in den nächsten Jahrzehnten gehört werden wird. Seine Bedeutung war doch: 1. ) dass er den Dialog zwischen Juden und Christen wirklich in Gang brachte; 2. ) dass er das Judentum als Basis für das Christentum hineinbrachte ins Denken, dass man es nicht mehr herausnehmen konnte; 3. ) dass er über die Schuld der Kirche und des Christentums so sprechen konnte, dass man Israel nicht verneinen konnte. Man wollte es je vergessen, aber man konnte es nicht, dazu dachte er viel zu präzise. Er sagte es zu genau, dass es innerhalb des deutschen (....) doch bleibt. 4. ) Dass er in seiner Gläubigkeit ein großer Zeuge für Jesus Christus war. Der Vorwurf einer "Verjudung" des Christentums durch Marquardt, diese blöden Angriffe auf das, was doch schon auf Luther zurückgeht - dass nämlich Jesus ein Jude war und ein Jude blieb - sind absurd. Dass dies ein Teil des Denkens der Kirche sein und bleiben muss - das ist Marquardts Beitrag für das Verstehen des Christentums von heute.

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