Maimonides als Erzieher

Lehrer und Schüler in Hilchot Talmud Tora

Von Dorothea Stein-Krochmalnik


Die höchste Krone

Rambam hat sich mit der Frage, welche Merkmale Lehrer und Schüler idealerweise prägen und wie ihr Verhältnis zueinander beschaffen sein sollte, intensiv beschäftigt. In den sieben Kapiteln des Hilchot Talmud Tora führt er zwei Gebote aus, nämlich die Tora zu studieren (lilmod tora) und die Lehrer und Kenner der Tora zu verehren (lechabed melamdeja we-jodeja) - was eine Reihe von Fragen aufwirft: Wer ist verpflichtet, die Tora zu studieren? Was ist unter dem Torastudium zu verstehen? Wie hat es stattzufinden und wann hat es anzufangen und zu enden? Wer kann als "Lehrer" und "Kenner" der Tora bezeichnet werden und was verlangt der Respekt vor ihnen?
Wie erhaben das Torastudium über allem anderen ist, hebt Rambam hervor, indem er darauf hinweist, dass von den drei Kronen (schalosh ketarim), die Israel zuteil wurden, die der Tora (keter-tora) diejenige ist, die jedem Israeliten zukommt.1 Die Krone des Priestertums (keter-kehuna) und die Krone des Königtums (keter-malchut) kommen hingegen nur den Nachkommen Aarons und nur den Nachkommen Davids zu.2 Die Keter-Tora steht über den beiden anderen Kronen, denn nur durch sie können Priester amtieren und Könige regieren (ebd. 3,1).3 Mit dieser Aussage hebt Rambam den Stellenwert der Torakrone stark hervor, weil sie die Voraussetzung der anderen Kronen bildet: die Keter-Tora kann sehr wohl ohne die beiden anderen Kronen bestehen, aber die Keter-Kehuna und die Keter-Malchut haben nur mit der Tora bestand. Ein Königtum ohne Tora kann jedes Königtum sein und jedes Reich regieren; ein Priestertum ohne Tora kann jeden Gott anbeten. Die Tora ist der prägende jüdische Siegel für das Priestertum und das Königtum.
Auch bei der Bewertung des einzelnen Menschen spielt die Kenntnis der Tora eine ausschlaggebende Rolle: Z.B. beim Vergleich eines Bastards und eines Hohepriesters, hätte derjenige den Vorzug, der das bessere Torawissen aufweist, ungeachtet dessen, wer oder was er sei. In der Bibel heißt es, dass die Tora teurer als Perlen sei (jekara hi mi-p'ninim)4, welche sich im tiefsten Inneren des Meeres befinden und sich deshalb auf den Hohepriester beziehen lassen, der ins Innerste des Tempels eintreten darf; d. h. dass die Torakenntnisse höher bewertet werden als die Priesterschaft (ebd. 3,2).
Das Torastudium gleicht alle Mizwot aus, die Mizwot aber nicht das Torastudium. Das liegt daran, dass das Torastudium zur Praxis der Mizwot führt, die Mizwot aber nicht notwendigerweise zum Studium der Tora (ebd. 3,3). In der Olam haba wird man nach seinem Torastudium beurteilt. Deshalb verordneten die Weisen das Torastudium als ständige Beschäftigung und ordneten sie dem Erwerb von Reichtum und dem Streben nach Ehre über. Aus diesem Grunde heiße es, dass die Tora nicht im Himmel sei (lo washamajim hi), nämlich im Hinblick auf die Hochmütigen und Ehrsüchtigen, und dass sie sich nicht jenseits des Meeres befinde (welo me'ewer lajam hi), nämlich im Hinblick auf die Händler, die ihre Geschäfte zu weit ausdehnen5, die Tora ist vielmehr im Mund und Herzen des Menschen zu Hause, der im Beit Hamidrash sitzt und lernt (ebd. 3,5-8). Auch in der Nacht studiere man Tora und verbringe diese nicht mit Schlaf, Essen, Trinken, Geschwätz und dgl. weltlichen Nichtigkeiten (lehavli olam). Rambam zitiert die Weisen: "Wer die Tora des Reichtums wegen aufgibt, der verlässt sie zuletzt aus Armut; wer aber ungeachtet seiner Armut ihr obliegt, der wird sie zuletzt in Reichtum pflegen."6 Diese Aussage ist an die Bibelstelle angelehnt: "Dafür, dass du nicht gedient hast dem Ewigen deinem Gotte, mit Freude und Herzenslust bei Überfluss an allem, sollst du nun deinem Feinde dienen."7

Vater und Sohn

Das Tora-Lernen beginnt mit der Spracherlernung beim Kind. Es bezieht sich zunächst auf das Auswendiglernen von Versen bis zum sechsten bzw. siebenten Lebensjahr. Von da an geht das Kind in den Cheder weiter (ebd. 1,6). Die Tora soll aber zu allen Lebenszeiten gelernt werden: "Wehagita bo jomam walaila"8 (ebd. 1,8) und ihre Satzungen und Vorschriften immer gegenwärtig bleiben (ebd. 1,10)9. Krankheiten und Behinderungen aller Art sollten kein Lernhindernis sein. Was durch die Tatsache bewiesen wird, dass zu den größten Gelehrten Israels (gdolej chachmej jisrael) Holzfäller (chotwej ezim), Wasserträger (shoawei majim) und Blinde (sumim) zählten (ebd. 1,9). Insgesamt fängt das Torastudium mit der Lesefähigkeit an und endet mit dem Tod. Dazwischen werden kaum Unterlassungsgründe zugelassen. Von daher kann man sagen, dass die Lernpflicht alle übertrifft.
Von insgesamt elf Arbeitsstunden pro Tag weist Rambam neun Stunden dem Studium zu und nur drei Stunden der Arbeit zur Deckung des Lebensunterhalts. Drei Stunden sollten dem Torastudium, drei Stunden der Mishna, drei Stunden der Gemara gewidmet werden. Die Relation verhält sich Dreiviertel zu Einviertel und bedeutet eine klare Absage an materielle Schwerpunkte im Leben. Da für Lehrer nicht die Höhe des Lohnes im Vordergrund stehen sollte, damit die Tora nicht als Mittel zum Zweck mißbraucht wird10, ist Lernen unabhängig vom Einkommen allen zugänglich. Rambam unterstreicht, dass das Torastudium für jeden Mann in Israel (kol-ish mi-jisrael) verbindlich ist, unabhängig von seinem Einkommen, seiner Gesundheit und seinem Alter (bejn ani bejn ashir, bejn shalem begufo bejn ba'al jisurin, bejn bachur bejn she-haja saqen gadol shetashash kocho, ebd. 1,8).
Jeder Vater muss einerseits die Verpflichtung erfüllen, seinem minderjährigen Sohn Tora zu lehren (katan11 awia chajaw lelamdo tora). Frauen, Knechte und Minderjährige (nashim, awadim u-ktanim) sind andererseits aber von der Verpflichtung, Tora zu lernen, ausgenommen (ebd. 1,1). Es könnte ein Widerspruch sein, wenn für einen Minderjährigen noch keine Pflicht zum Torastudium besteht und er dazu verpflichtet wird, auf das Angebot des Vaters, Tora zu lehren, einzugehen! Es ist jedoch nur ein Scheinwiderspruch, denn der Minderjährige ist nicht generell vom Lernen freigestellt, er braucht lediglich die Initiative dazu nicht ergreifen, er kann, soll und muss aber trotzdem zum Lernen bewegt werden. Solange der Junge also minderjährig ist und die Aufsichtspflicht dem Vater obliegt, darf und soll der Vater seinen Sohn selbst unterrichten oder unterrichten lassen. Die Pflicht des Vaters als eines erwachsenen Mannes, der Tora studieren muss, ist um die Zusatzpflicht erweitert, auch zugleich die Tora zu lehren. Jeder, so lautet die Regel, der selbst Tora lernt, ist zum Lehren derselben verpflichtet (she-kol-hachajew lilmod chajaw lelamed, ebd. 1,1), daher ergibt sich die Lehrpflicht des Vaters dem Sohn gegenüber und dementsprechend die Erwartung an den Sohn, seinem Vater Folge zu leisten. Da die Mutter zum Toralernen nicht verpflichtet ist, muss sie ihren Sohn auch nicht im Torawissen unterrichten. Von der Perspektive des Sohnes aus besteht auch eine Verpflichtung zum Lernen. Ein Sohn, dessen Vater sich nicht um sein Torastudium kümmert, sollte sich selbst seinem Studium widmen, sobald er zur Einsicht von der Notwendigkeit des Lernens gelangt. Lernen ist wesentlich, um die Mizwot adäquat auszuüben. Diesen Grundsatz teilte Moses in seiner Abschiedsrede den Israeliten mit: Sie sollten die Chukim und Mishpatim zuerst lernen, um sie dann einzuhalten (u-limadetem otam u-shmartem12). Darauf verweist Rambam und stellt heraus, dass der Handlung das Lernen vorausgeht.
Die Pflicht des Vaters zur Unterweisung seines Sohnes wird aus folgender Bibelstelle abgeleitet: Und lehrt sie die Tora euren Söhnen, damit sie über sie sprechen (We-lemadetem otam et-bnejchem ledaber bam).13 Rambam weitet die Aussage, dass der Vater zum Unterrichten seines Sohnes verpflichtet ist, dahingehend aus, dass auch seine Enkel zu unterrichten seien und sogar jeder gelehrter Israelit alle Schüler unterweisen solle (we-chacham mi-jisrael lelamed et-kol-hatalmidim, ebd. 1,2). Wie es im Shema Jisrael heißt: "We-shinantam lewanecha"14, was auf die Kinder Israels schlechthin bezogen wird.15
Auffallend an diesen Bestimmungen des Lernens ist die weit gefasste Lehrpflicht. Zwar wird die private Unterweisung bevorzugt, aber gleichzeitig gibt es eine kollektive Verantwortung des gesamten Klal Jisrael für Bildung zu sorgen. Lernen ist keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentliche Handlung, auf die ein Anspruch im Rahmen der Gemeinschaft Israels besteht. Kol-jisrael arewim se base16 heißt es in Bezug auf gemeinschaftlich zu tragende Straffolgen. Aber dieser Satz ist auch auf gegenseitige Hilfe zu beziehen - gerade im Bildungsbereich. Das Lernen ist im Guten wie im Bösen vergemeinschaftet. Geht aus der Lerngruppe ein Gelehrter hervor, so wird die Gemeinschaft für ihre Bemühungen in vielfacher Weise entlohnt, indem er seine Weisheit der Gemeinschaft, aus der er hervorgegangen ist, wieder zur Verfügung stellt. Die Lerneffektivität verläuft in zweierlei Richtungen: Sie nimmt einmal den Weg vom Lehrer zum Schüler innerhalb der Lerngruppe und dann vom Schüler, der später selbst Lehrer wird, wieder in dieselbe zurück, sodass ein permanenter Austausch zwischen alten und neuen Lehrkompetenzen stattfindet. Diese Lernatmosphäre besteht nicht nur im kleinen Rahmen der Familie, sondern auch und vor allem in der Gemeinschaft ganz Israels. Deswegen geht die Verantwortung des Vaters über seine Kindern hinaus und bezieht sich auf die Kinder Israels im Allgemeinen - was mit der Übertragung und Weitergabe von Tradition zu tun hat, da Kulturinhalte nicht im Alleingang weitergereicht werden können, sondern gemeinschaftlich in einer Gruppe tradiert werden müssen.

Melamed und Talmid

"Ein Schüchterner kann nicht lernen
und ein Jähzorniger kann nicht lehren."17

Rambams Lehrerprofil ist eine charismatische Lehrerfigur, die schon qua Person soviel Autorität ausstrahlt, dass sie absolute Wertschätzung und Achtung erfährt. Ein Melamed, ein einfacher Lehrer, der sich zum Chacham, zu einem ausgezeichneten Gelehrten, entwickeln kann, ist eine hochgestellte Persönlichkeit, der besondere Respektbekundungen zustehen, sodass eine optimale Lernsituation von vornherein einfacher herzustellen ist. Zu dieser Lernsituation gehören bestimmte Voraussetzungen, wie die verbreitete Einstellung von Lehrern und eine bestimmte, vorgeschriebene Höchstzahl von Schülern. So muss sich jedes Land, jede Stadt und jeder Bezirk (medina, ir, pelach) um die Einstellung von Lehrern bemühen, sonst könnten zuerst die Einwohner und dann sogar die gesamte Stadt mit Bann belegt werden (ebd. 2,1). Die Errichtung einer jüdischen Schule darf unter keinen Umständen, sei es wegen Lärmbelästigung oder Auslastung durch schon vorhandene Schulen, verhindert werden, denn es heißt, Gott wolle die Tora vermehren18 (ebd, 2,7). Damit eine bestimmte Unterrichtsqualität gewährleistet ist, darf die Anzahl der Kinder pro Lehrer nicht 25 Kinder übersteigen, ab 25 bis zu 40 Kindern sollte ein Hilfslehrer eingestellt werden und ab 41 Kindern solle ein zweiter Lehrer voll arbeiten (ebd. 2,5).
Ein Lehrer hat bestimmten Maßstäben zu entsprechen. Seine Unterrichtszeit soll tagsüber, zum Teil aber auch nachts stattfinden, damit die Kinder lernen, dass sie sich Tag und Nacht dem Torastudium widmen sollen. Ausfallen darf das Lernen an Schabbat und Feiertagen, wobei am Schabbat Lektionen mündlich wiederholt werden können. Nachlässigkeit in der Arbeit des Lehrers wird geahndet. So gehört ein Lehrer, der die Kinder allein lässt, andere Tätigkeiten ausübt oder halbherzig seine Pflicht erfüllt, zu den Verfluchten.19 Es ist trotzdem nur dann zulässig, einen besseren gegen einen schlechteren Lehrer einzutauschen, wenn dieser sich in derselben Stadt befindet (ebd. 2,6). Rambam verlangt nachdrücklich, zum Lehren nur einen gottesfürchtigen Menschen zu ernennen (ebd. 2,3). Er soll verheiratet sein, um keine Zweideutigkeiten aufkommen zu lassen, wenn die Kinder in Begleitung ihrer Mütter kommen. Er muss also auch im Familienleben ein unbescholtener Mann sein. Ein Lehrer, der nicht auf dem rechten Weg Gottes wandelt (she-ejno holech bederech towa), darf die Kinder so lange nicht unterrichten, bis er nicht umkehrt. Denn es heißt: "Die Lippen des Priesters bewahren Kenntnisse, und aus seinem Munde wird die Tora begehrt, denn er ist ein Engel Gottes der Heerscharen" (ki malach Adonaj Zewaot hu).20 Die Chachamim haben diese Stelle dahingehend gedeutet, dass ein Toralehrer erst einem Engel gleichen müsse, um des Lehrens würdig zu sein (ebd. 4,1). Dazu gehört auch, dass der Lehrer seinen Zorn über unverständige Schüler in Grenzen halten muss, und stattdessen die (Engels-)Geduld besitzen sollte, seinen Lehrgegenstand wiederholt zu erklären (ebd. 4,4). Dies gilt aber nicht, wenn die Schüler ganz offensichtlich zu träge und bequem sind, richtig zu lernen. Dann ist es sogar die Pflicht des Lehrers, die Schüler autoritär zum Lerneifer zu bewegen. In diesem Fall ist Ärger verständlich und angebracht, nicht aber Jähzorn, damit die Schüler den Weg zum adäquaten Lernen zurückfinden können. Das setzt aber ausdrücklich voraus, dass der Lehrer sich in den Augen der Schüler nicht durch Spielen, gemeinsames Essen und Trinken herabsetzt, weil das die Achtung ihm gegenüber durch zu alltäglichen Umgang abschwächen könnte (ebd. 4,5). Um die Leistungen der Schüler zu prüfen, darf der Lehrer sie durch Fragen irreleiten und auch das Thema wechseln, sodass die Schüler zusätzlich angeregt werden (ebd. 4,6).
Ein Schüler muss ebenfalls einer Reihe von Erwartungen entsprechen. Sein gutes Verhalten ist die Voraussetzung dafür, dass er des Toralernens als würdig erachtet wird. Ein auf Abwege gekommener Schüler muss zuerst auf den rechten Weg gebracht werden, bevor er wieder ins Lehrhaus darf. Die Weisen vergleichen das Lehren eines unwürdigen Schülers (talmid she-ejno hagun) mit Götzendienst. Es gilt als verlorene Liebesmüh, als Zeitverschwendung, da die unwürdigen Schüler die Tora ohnehin nicht wertschätzen. Es ist wie beim Götzendienst - die Anbetung bewirkt nichts.
Die Schüler drücken ihre Ehrerbietung dem Lehrer gegenüber durch die Sitzordnung aus: Sie nehmen im Halbkreis dem Lehrer gegenüber Platz, sodass ihn jeder sehen und hören kann (ebd. 4,2). Auch durch das Dolmetschen und der Benennung des Lehrers wird Achtung zum Ausdruck gebracht. Der Dolmetscher übersetzt ohne Weglassung und ohne Hinzufügung wortgetreu jeden Satz des Lehrers. Bei der Erwähnung seines Lehrers nennt man ihn nicht mit Namen, sondern sagt nur allgemein, mein Lehrer, weil diese allgemeine Betitelung mit dem Possessiv besondere Achtung ausdrückt. (ebd. 4,3)
Die Begrüßung des Lehrers findet mit gehöriger Ehrerbietung durch Verbeugung und dem Gruß: "Seid gegrüßt, mein Meister, mein Lehrer" (Shalom alecha, Rabbi, Mori) statt. Beim Weggehen ist es unangebracht, dem Lehrer den Rücken zuzuwenden, sondern er wird panaw keneged panaw mit Verbeugung verabschiedet. Erblickt man den Lehrer, so hat man sich zu erheben und setzt sich erst, wenn man ihn nicht mehr sieht. Das Aufstehen und Hinsetzen während des Unterrichts und das Besetzen des Lehrerplatzes sind nicht gestattet. Es ist dem Schüler nicht erlaubt, im Unterricht zu schlafen, weil er sonst Unterrichtsstoff verpasst, wie es heißt: "Den Schlafenden kleidet ein zerrissenes Gewand".21 Insgesamt gilt, dass der Schüler dem Lehrer gegenüber zu den selben Diensten verpflichtet ist, zu welchen der Diener gegenüber dem Herren verpflichtet wird. (Wechol - hamelachot shehaewed osse lerabo - talmid osse lerabo). Ein Verstoß gegen diese Pflichten dem Lehrer gegenüber bewirkt, dass die Göttlichkeit von Israel weicht (ebd. 5,5-8).
Der Unterricht verläuft folgendermaßen: Fragen sind an den Lehrer erst zu richten, wenn er sich nach dem Eintritt in die Klasse gesammelt hat, und die Fragen sollten sich auf das Thema des Unterrichts beziehen und nicht zu weit ausschweifen. Die Art und Weise des Fragens ist ebenfalls ein Zeichen der Ehrerbietung: Sie sind stehend, von nicht zu großer Ferne in angebrachter Kürze an den Lehrer zu richten. Bei mehreren Fragenden ist eine gewisse Hierarchie einzuhalten: Der gerade behandelte Gegenstand hat vor der Einbringung eines anderen Themas vorrang; auch haben Tatsachenfragen vorrang vor hypothetischen Fragen. Fragen zur Halacha sind denen zum Midrash vorzuziehen, Fragen zum Midrash denen zur Aggada, Fragen zur Aggada denen zum "Kalwachomer" (logischen Schluss) und die Fragen zum Kalwachomer denen zur Gesera Schewa (philologischer Schluss). Handelt es sich bei den Fragenden selbst um Lehrer, so sind deren Fragen zuerst zu beantworten und erst hinterher die der Schüler (ebd. 4,6-8). Auch wenn ein Lehrer auf alle Ehrbezeugungen verzichtet, darf der Schüler sie ihm nicht vorenthalten (ebd. 5,11).
Ermangelt es dem Schüler an Verständnis für einen behandelten Gegenstand, so sollte er nichts vortäuschen, sondern die Unkenntnis durch Fragen kundtun, denn die Tora muss er kennen lernen, auch wenn seine Fähigkeiten begrenzt sind (ebd. 4,4). Er solle sich auch nicht vor den Mitschülern schämen, dass er längere Zeit zum Begreifen eines Sachverhaltes brauche als andere. Wird er seine Scham nicht überwinden und keine Fragen stellen, dann verlässt er die Schule ohne jeglichen Erfolg. Schüchternheit verhindert das Erlernen vom Unbekannten, weil das Eingestehen des eigenen Unwissens ausbleibt.
Dem Lehrer hat man genauso viel Ehre und (Ehr-)Furcht entgegenzubringen, wie dem Vater, denn beim Ersteren lernen wir die Weisheit, die uns der Olam Haba würdig macht, während wir dem Letzteren unseren Eintritt in die Olam Hase verdanken. Dem Lehrer ist in mancherlei Hinsicht sogar der Vorzug vor dem Vater zu geben. So sagen die Weisen, dass die Ehrfurcht vor dem Lehrer wie die Ehrfurcht vor dem Himmel sei (mora rabach kemora shamajim)22. Eine Auflehnung gegen den Lehrer gliche einer Auflehnung gegen Gott (kol-hacholek al-rabo kecholek al-HaShechina). Streit und Groll gegen den Lehrer, richten sich zugleich gegen Gott (ebd. 5,1) "Nicht wider uns geht euer Murren, sondern wider den Ewigen."23 Widerspruch und untragbare Behauptungen sind dem Lehrer gegenüber nicht zu äußern.
Zu den gegen den Lehrer gerichteten Verhalten gehört die Errichtung einer Schule ohne die Erlaubnis seines Lehrers und die Schlichtung von halachischen Streitigkeiten in Gegenwart des Lehrers, weil dies seine Sache wäre. Zum Schiedsrichter ist nur befugt, wer die Befähigung und Genehmigung seines Lehrers hat - was vor Scharlatanerie schützt. Über unbefugte Richter heißt es sogar, dass sie "viele Leichen anhäufen".24 Ungeprüfte Schüler können sich vor dem Volk mit ihren Urteilen brüsten und damit erst weitreichende Streitigkeiten verursachen, die - wie Rambam herausstellt - die Welt zerstören und das Licht der Tora auslöschen (hem hamachariwim et-haolam, wehamechabim nera shel tora).
Rambams strenge Darstellung des Verhältnisses zwischen Melamed und Talmid zeigt zweierlei: Ein ausgezeichneter Lehrer kann für Schüler, die sich auf das ernsthafte Lernen einlassen, befruchtend und prägend sein, aber nur unter der Voraussetzung, dass das Lernen im genau vorgeschriebenen Kompetenzrahmen von Distanz und Respekt vollzogen wird. Wird dieser Rahmen überschritten, indem etwa der Lehrer oder der Schüler die Grenzen verwischen, kann sogar das Gegenteil des ursprünglich beabsichtigten Lernzieles, erfolgen. Wenn falscher Ehrgeiz und eigene Überschätzung hinzukommen, kann statt einer Vermehrung des Geistes der Tora eine Verminderung desselben eintreten. Deswegen sagte Rabbi Jochanan: "Wenn du viel Tora gelernt hast, so tue dir nichts darauf zugute, denn dazu bist du geschaffen."25


Fußnoten

1 Deut 33,4.
2 Ex 29,9 und Ps 89,37.
3 Mishle 8,15-16. Zu den Ketarim von Tora, Kehuna und Malchut siehe auch Pirke Awot 4,17; 6,6.
4 Ebd. 3,15.
5 Deut 30,12-13.
6 Diese Aussage stammt von Rabbi Nathan in Pirqe Awot 4,11: "Kol hameqajem ha-tora meoni - sofo leqajma meosher. Wechol hamewatel et-hatora meosher - sofo lewatla meoni."
7 Deut 28,47-48.
8 Jos 1,8 Das ganze Zitat lautet: "Nicht weiche dies Buch der Lehre (Sefer ha-tora) von deinem Munde, und du sollst sinnen darüber Tag und Nacht, damit du beobachtest zu tun, ganz so, wie darin geschrieben; denn dann wirst du durchführen seinen Weg, und dann wirst du Glück haben."
9 Deut 4,8-9.
10 Siehe dazu Pirqe Awot 4,7.
11 Qatan ist bei der Altersbestimmung ein Terminus technicus für den Minderjährigen, d.h. für den religiös noch nicht mündigen Jungen vor dem Bar-Mizwa-Alter.
12 Deut 5,1.
13 Ebd. 11,19.
14 Ebd. 6,7.
15 Sehr gut passt die Bibelstelle Deut 4,9 zur Weitergabe der Tora an die folgenden Generationen: "... du sollst sie (die ganze Lehre) kund machen deinen Söhnen und den Söhnen deiner Söhne" (wehodatam lewanecha u-liwnej wanecha).
16 Ganz Israel ist füreinander verantwortlich. bSchew 39a-b.
17 Pirqe Awot 2,6.
18 Jer 42,21.
19 Ebd. 48,10.
20 Mal 2,7.
21 Mischle 22,21.
22 Pirqe Awot 4,15 Die Aussage stammt von Rabbi Eleasar.
23 Ex 16,8, siehe auch Num 20,13; 21,5.
24 Michle 7,26.
25 Pirqe Awot 2,9.

Aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dezember 2004

 

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