Maimonides als Erzieher
Lehrer und Schüler in Hilchot Talmud Tora
Von Dorothea Stein-Krochmalnik
Die höchste Krone
Rambam hat sich mit der Frage, welche Merkmale Lehrer
und Schüler idealerweise prägen und wie ihr Verhältnis
zueinander beschaffen sein sollte, intensiv beschäftigt. In den sieben
Kapiteln des Hilchot Talmud Tora führt er zwei Gebote aus, nämlich
die Tora zu studieren (lilmod tora) und die Lehrer und Kenner der Tora
zu verehren (lechabed melamdeja we-jodeja) - was eine Reihe von Fragen
aufwirft: Wer ist verpflichtet, die Tora zu studieren? Was ist unter dem
Torastudium zu verstehen? Wie hat es stattzufinden und wann hat es anzufangen
und zu enden? Wer kann als "Lehrer" und "Kenner" der
Tora bezeichnet werden und was verlangt der Respekt vor ihnen?
Wie erhaben das Torastudium über allem anderen ist, hebt Rambam hervor,
indem er darauf hinweist, dass von den drei Kronen (schalosh ketarim),
die Israel zuteil wurden, die der Tora (keter-tora) diejenige ist, die
jedem Israeliten zukommt.1 Die Krone des Priestertums (keter-kehuna) und
die Krone des Königtums (keter-malchut) kommen hingegen nur den Nachkommen
Aarons und nur den Nachkommen Davids zu.2 Die Keter-Tora steht über
den beiden anderen Kronen, denn nur durch sie können Priester amtieren
und Könige regieren (ebd. 3,1).3 Mit dieser Aussage hebt Rambam den
Stellenwert der Torakrone stark hervor, weil sie die Voraussetzung der
anderen Kronen bildet: die Keter-Tora kann sehr wohl ohne die beiden anderen
Kronen bestehen, aber die Keter-Kehuna und die Keter-Malchut haben nur
mit der Tora bestand. Ein Königtum ohne Tora kann jedes Königtum
sein und jedes Reich regieren; ein Priestertum ohne Tora kann jeden Gott
anbeten. Die Tora ist der prägende jüdische Siegel für
das Priestertum und das Königtum.
Auch bei der Bewertung des einzelnen Menschen spielt die Kenntnis der
Tora eine ausschlaggebende Rolle: Z.B. beim Vergleich eines Bastards und
eines Hohepriesters, hätte derjenige den Vorzug, der das bessere
Torawissen aufweist, ungeachtet dessen, wer oder was er sei. In der Bibel
heißt es, dass die Tora teurer als Perlen sei (jekara hi mi-p'ninim)4,
welche sich im tiefsten Inneren des Meeres befinden und sich deshalb auf
den Hohepriester beziehen lassen, der ins Innerste des Tempels eintreten
darf; d. h. dass die Torakenntnisse höher bewertet werden als die
Priesterschaft (ebd. 3,2).
Das Torastudium gleicht alle Mizwot aus, die Mizwot aber nicht das Torastudium.
Das liegt daran, dass das Torastudium zur Praxis der Mizwot führt,
die Mizwot aber nicht notwendigerweise zum Studium der Tora (ebd. 3,3).
In der Olam haba wird man nach seinem Torastudium beurteilt. Deshalb verordneten
die Weisen das Torastudium als ständige Beschäftigung und ordneten
sie dem Erwerb von Reichtum und dem Streben nach Ehre über. Aus diesem
Grunde heiße es, dass die Tora nicht im Himmel sei (lo washamajim
hi), nämlich im Hinblick auf die Hochmütigen und Ehrsüchtigen,
und dass sie sich nicht jenseits des Meeres befinde (welo me'ewer lajam
hi), nämlich im Hinblick auf die Händler, die ihre Geschäfte
zu weit ausdehnen5, die Tora ist vielmehr im Mund und Herzen des Menschen
zu Hause, der im Beit Hamidrash sitzt und lernt (ebd. 3,5-8). Auch in
der Nacht studiere man Tora und verbringe diese nicht mit Schlaf, Essen,
Trinken, Geschwätz und dgl. weltlichen Nichtigkeiten (lehavli olam).
Rambam zitiert die Weisen: "Wer die Tora des Reichtums wegen aufgibt,
der verlässt sie zuletzt aus Armut; wer aber ungeachtet seiner Armut
ihr obliegt, der wird sie zuletzt in Reichtum pflegen."6 Diese Aussage
ist an die Bibelstelle angelehnt: "Dafür, dass du nicht gedient
hast dem Ewigen deinem Gotte, mit Freude und Herzenslust bei Überfluss
an allem, sollst du nun deinem Feinde dienen."7
Vater und Sohn
Das Tora-Lernen beginnt mit der Spracherlernung beim Kind.
Es bezieht sich zunächst auf das Auswendiglernen von Versen bis zum
sechsten bzw. siebenten Lebensjahr. Von da an geht das Kind in den Cheder
weiter (ebd. 1,6). Die Tora soll aber zu allen Lebenszeiten gelernt werden:
"Wehagita bo jomam walaila"8 (ebd. 1,8) und ihre Satzungen und
Vorschriften immer gegenwärtig bleiben (ebd. 1,10)9. Krankheiten
und Behinderungen aller Art sollten kein Lernhindernis sein. Was durch
die Tatsache bewiesen wird, dass zu den größten Gelehrten Israels
(gdolej chachmej jisrael) Holzfäller (chotwej ezim), Wasserträger
(shoawei majim) und Blinde (sumim) zählten (ebd. 1,9). Insgesamt
fängt das Torastudium mit der Lesefähigkeit an und endet mit
dem Tod. Dazwischen werden kaum Unterlassungsgründe zugelassen. Von
daher kann man sagen, dass die Lernpflicht alle übertrifft.
Von insgesamt elf Arbeitsstunden pro Tag weist Rambam neun Stunden dem
Studium zu und nur drei Stunden der Arbeit zur Deckung des Lebensunterhalts.
Drei Stunden sollten dem Torastudium, drei Stunden der Mishna, drei Stunden
der Gemara gewidmet werden. Die Relation verhält sich Dreiviertel
zu Einviertel und bedeutet eine klare Absage an materielle Schwerpunkte
im Leben. Da für Lehrer nicht die Höhe des Lohnes im Vordergrund
stehen sollte, damit die Tora nicht als Mittel zum Zweck mißbraucht
wird10, ist Lernen unabhängig vom Einkommen allen zugänglich.
Rambam unterstreicht, dass das Torastudium für jeden Mann in Israel
(kol-ish mi-jisrael) verbindlich ist, unabhängig von seinem Einkommen,
seiner Gesundheit und seinem Alter (bejn ani bejn ashir, bejn shalem begufo
bejn ba'al jisurin, bejn bachur bejn she-haja saqen gadol shetashash kocho,
ebd. 1,8).
Jeder Vater muss einerseits die Verpflichtung erfüllen, seinem minderjährigen
Sohn Tora zu lehren (katan11 awia chajaw lelamdo tora). Frauen, Knechte
und Minderjährige (nashim, awadim u-ktanim) sind andererseits aber
von der Verpflichtung, Tora zu lernen, ausgenommen (ebd. 1,1). Es könnte
ein Widerspruch sein, wenn für einen Minderjährigen noch keine
Pflicht zum Torastudium besteht und er dazu verpflichtet wird, auf das
Angebot des Vaters, Tora zu lehren, einzugehen! Es ist jedoch nur ein
Scheinwiderspruch, denn der Minderjährige ist nicht generell vom
Lernen freigestellt, er braucht lediglich die Initiative dazu nicht ergreifen,
er kann, soll und muss aber trotzdem zum Lernen bewegt werden. Solange
der Junge also minderjährig ist und die Aufsichtspflicht dem Vater
obliegt, darf und soll der Vater seinen Sohn selbst unterrichten oder
unterrichten lassen. Die Pflicht des Vaters als eines erwachsenen Mannes,
der Tora studieren muss, ist um die Zusatzpflicht erweitert, auch zugleich
die Tora zu lehren. Jeder, so lautet die Regel, der selbst Tora lernt,
ist zum Lehren derselben verpflichtet (she-kol-hachajew lilmod chajaw
lelamed, ebd. 1,1), daher ergibt sich die Lehrpflicht des Vaters dem Sohn
gegenüber und dementsprechend die Erwartung an den Sohn, seinem Vater
Folge zu leisten. Da die Mutter zum Toralernen nicht verpflichtet ist,
muss sie ihren Sohn auch nicht im Torawissen unterrichten. Von der Perspektive
des Sohnes aus besteht auch eine Verpflichtung zum Lernen. Ein Sohn, dessen
Vater sich nicht um sein Torastudium kümmert, sollte sich selbst
seinem Studium widmen, sobald er zur Einsicht von der Notwendigkeit des
Lernens gelangt. Lernen ist wesentlich, um die Mizwot adäquat auszuüben.
Diesen Grundsatz teilte Moses in seiner Abschiedsrede den Israeliten mit:
Sie sollten die Chukim und Mishpatim zuerst lernen, um sie dann einzuhalten
(u-limadetem otam u-shmartem12). Darauf verweist Rambam und stellt heraus,
dass der Handlung das Lernen vorausgeht.
Die Pflicht des Vaters zur Unterweisung seines Sohnes wird aus folgender
Bibelstelle abgeleitet: Und lehrt sie die Tora euren Söhnen, damit
sie über sie sprechen (We-lemadetem otam et-bnejchem ledaber bam).13
Rambam weitet die Aussage, dass der Vater zum Unterrichten seines Sohnes
verpflichtet ist, dahingehend aus, dass auch seine Enkel zu unterrichten
seien und sogar jeder gelehrter Israelit alle Schüler unterweisen
solle (we-chacham mi-jisrael lelamed et-kol-hatalmidim, ebd. 1,2). Wie
es im Shema Jisrael heißt: "We-shinantam lewanecha"14,
was auf die Kinder Israels schlechthin bezogen wird.15
Auffallend an diesen Bestimmungen des Lernens ist die weit gefasste Lehrpflicht.
Zwar wird die private Unterweisung bevorzugt, aber gleichzeitig gibt es
eine kollektive Verantwortung des gesamten Klal Jisrael für Bildung
zu sorgen. Lernen ist keine Privatangelegenheit, sondern eine öffentliche
Handlung, auf die ein Anspruch im Rahmen der Gemeinschaft Israels besteht.
Kol-jisrael arewim se base16 heißt es in Bezug auf gemeinschaftlich
zu tragende Straffolgen. Aber dieser Satz ist auch auf gegenseitige Hilfe
zu beziehen - gerade im Bildungsbereich. Das Lernen ist im Guten wie im
Bösen vergemeinschaftet. Geht aus der Lerngruppe ein Gelehrter hervor,
so wird die Gemeinschaft für ihre Bemühungen in vielfacher Weise
entlohnt, indem er seine Weisheit der Gemeinschaft, aus der er hervorgegangen
ist, wieder zur Verfügung stellt. Die Lerneffektivität verläuft
in zweierlei Richtungen: Sie nimmt einmal den Weg vom Lehrer zum Schüler
innerhalb der Lerngruppe und dann vom Schüler, der später selbst
Lehrer wird, wieder in dieselbe zurück, sodass ein permanenter Austausch
zwischen alten und neuen Lehrkompetenzen stattfindet. Diese Lernatmosphäre
besteht nicht nur im kleinen Rahmen der Familie, sondern auch und vor
allem in der Gemeinschaft ganz Israels. Deswegen geht die Verantwortung
des Vaters über seine Kindern hinaus und bezieht sich auf die Kinder
Israels im Allgemeinen - was mit der Übertragung und Weitergabe von
Tradition zu tun hat, da Kulturinhalte nicht im Alleingang weitergereicht
werden können, sondern gemeinschaftlich in einer Gruppe tradiert
werden müssen.
Melamed und Talmid
"Ein Schüchterner kann nicht lernen
und ein Jähzorniger kann nicht lehren."17
Rambams Lehrerprofil ist eine charismatische Lehrerfigur,
die schon qua Person soviel Autorität ausstrahlt, dass sie absolute
Wertschätzung und Achtung erfährt. Ein Melamed, ein einfacher
Lehrer, der sich zum Chacham, zu einem ausgezeichneten Gelehrten, entwickeln
kann, ist eine hochgestellte Persönlichkeit, der besondere Respektbekundungen
zustehen, sodass eine optimale Lernsituation von vornherein einfacher
herzustellen ist. Zu dieser Lernsituation gehören bestimmte Voraussetzungen,
wie die verbreitete Einstellung von Lehrern und eine bestimmte, vorgeschriebene
Höchstzahl von Schülern. So muss sich jedes Land, jede Stadt
und jeder Bezirk (medina, ir, pelach) um die Einstellung von Lehrern bemühen,
sonst könnten zuerst die Einwohner und dann sogar die gesamte Stadt
mit Bann belegt werden (ebd. 2,1). Die Errichtung einer jüdischen
Schule darf unter keinen Umständen, sei es wegen Lärmbelästigung
oder Auslastung durch schon vorhandene Schulen, verhindert werden, denn
es heißt, Gott wolle die Tora vermehren18 (ebd, 2,7). Damit eine
bestimmte Unterrichtsqualität gewährleistet ist, darf die Anzahl
der Kinder pro Lehrer nicht 25 Kinder übersteigen, ab 25 bis zu 40
Kindern sollte ein Hilfslehrer eingestellt werden und ab 41 Kindern solle
ein zweiter Lehrer voll arbeiten (ebd. 2,5).
Ein Lehrer hat bestimmten Maßstäben zu entsprechen. Seine Unterrichtszeit
soll tagsüber, zum Teil aber auch nachts stattfinden, damit die Kinder
lernen, dass sie sich Tag und Nacht dem Torastudium widmen sollen. Ausfallen
darf das Lernen an Schabbat und Feiertagen, wobei am Schabbat Lektionen
mündlich wiederholt werden können. Nachlässigkeit in der
Arbeit des Lehrers wird geahndet. So gehört ein Lehrer, der die Kinder
allein lässt, andere Tätigkeiten ausübt oder halbherzig
seine Pflicht erfüllt, zu den Verfluchten.19 Es ist trotzdem nur
dann zulässig, einen besseren gegen einen schlechteren Lehrer einzutauschen,
wenn dieser sich in derselben Stadt befindet (ebd. 2,6). Rambam verlangt
nachdrücklich, zum Lehren nur einen gottesfürchtigen Menschen
zu ernennen (ebd. 2,3). Er soll verheiratet sein, um keine Zweideutigkeiten
aufkommen zu lassen, wenn die Kinder in Begleitung ihrer Mütter kommen.
Er muss also auch im Familienleben ein unbescholtener Mann sein. Ein Lehrer,
der nicht auf dem rechten Weg Gottes wandelt (she-ejno holech bederech
towa), darf die Kinder so lange nicht unterrichten, bis er nicht umkehrt.
Denn es heißt: "Die Lippen des Priesters bewahren Kenntnisse,
und aus seinem Munde wird die Tora begehrt, denn er ist ein Engel Gottes
der Heerscharen" (ki malach Adonaj Zewaot hu).20 Die Chachamim haben
diese Stelle dahingehend gedeutet, dass ein Toralehrer erst einem Engel
gleichen müsse, um des Lehrens würdig zu sein (ebd. 4,1). Dazu
gehört auch, dass der Lehrer seinen Zorn über unverständige
Schüler in Grenzen halten muss, und stattdessen die (Engels-)Geduld
besitzen sollte, seinen Lehrgegenstand wiederholt zu erklären (ebd.
4,4). Dies gilt aber nicht, wenn die Schüler ganz offensichtlich
zu träge und bequem sind, richtig zu lernen. Dann ist es sogar die
Pflicht des Lehrers, die Schüler autoritär zum Lerneifer zu
bewegen. In diesem Fall ist Ärger verständlich und angebracht,
nicht aber Jähzorn, damit die Schüler den Weg zum adäquaten
Lernen zurückfinden können. Das setzt aber ausdrücklich
voraus, dass der Lehrer sich in den Augen der Schüler nicht durch
Spielen, gemeinsames Essen und Trinken herabsetzt, weil das die Achtung
ihm gegenüber durch zu alltäglichen Umgang abschwächen
könnte (ebd. 4,5). Um die Leistungen der Schüler zu prüfen,
darf der Lehrer sie durch Fragen irreleiten und auch das Thema wechseln,
sodass die Schüler zusätzlich angeregt werden (ebd. 4,6).
Ein Schüler muss ebenfalls einer Reihe von Erwartungen entsprechen.
Sein gutes Verhalten ist die Voraussetzung dafür, dass er des Toralernens
als würdig erachtet wird. Ein auf Abwege gekommener Schüler
muss zuerst auf den rechten Weg gebracht werden, bevor er wieder ins Lehrhaus
darf. Die Weisen vergleichen das Lehren eines unwürdigen Schülers
(talmid she-ejno hagun) mit Götzendienst. Es gilt als verlorene Liebesmüh,
als Zeitverschwendung, da die unwürdigen Schüler die Tora ohnehin
nicht wertschätzen. Es ist wie beim Götzendienst - die Anbetung
bewirkt nichts.
Die Schüler drücken ihre Ehrerbietung dem Lehrer gegenüber
durch die Sitzordnung aus: Sie nehmen im Halbkreis dem Lehrer gegenüber
Platz, sodass ihn jeder sehen und hören kann (ebd. 4,2). Auch durch
das Dolmetschen und der Benennung des Lehrers wird Achtung zum Ausdruck
gebracht. Der Dolmetscher übersetzt ohne Weglassung und ohne Hinzufügung
wortgetreu jeden Satz des Lehrers. Bei der Erwähnung seines Lehrers
nennt man ihn nicht mit Namen, sondern sagt nur allgemein, mein Lehrer,
weil diese allgemeine Betitelung mit dem Possessiv besondere Achtung ausdrückt.
(ebd. 4,3)
Die Begrüßung des Lehrers findet mit gehöriger Ehrerbietung
durch Verbeugung und dem Gruß: "Seid gegrüßt, mein
Meister, mein Lehrer" (Shalom alecha, Rabbi, Mori) statt. Beim Weggehen
ist es unangebracht, dem Lehrer den Rücken zuzuwenden, sondern er
wird panaw keneged panaw mit Verbeugung verabschiedet. Erblickt man den
Lehrer, so hat man sich zu erheben und setzt sich erst, wenn man ihn nicht
mehr sieht. Das Aufstehen und Hinsetzen während des Unterrichts und
das Besetzen des Lehrerplatzes sind nicht gestattet. Es ist dem Schüler
nicht erlaubt, im Unterricht zu schlafen, weil er sonst Unterrichtsstoff
verpasst, wie es heißt: "Den Schlafenden kleidet ein zerrissenes
Gewand".21 Insgesamt gilt, dass der Schüler dem Lehrer gegenüber
zu den selben Diensten verpflichtet ist, zu welchen der Diener gegenüber
dem Herren verpflichtet wird. (Wechol - hamelachot shehaewed osse lerabo
- talmid osse lerabo). Ein Verstoß gegen diese Pflichten dem Lehrer
gegenüber bewirkt, dass die Göttlichkeit von Israel weicht (ebd.
5,5-8).
Der Unterricht verläuft folgendermaßen: Fragen sind an den
Lehrer erst zu richten, wenn er sich nach dem Eintritt in die Klasse gesammelt
hat, und die Fragen sollten sich auf das Thema des Unterrichts beziehen
und nicht zu weit ausschweifen. Die Art und Weise des Fragens ist ebenfalls
ein Zeichen der Ehrerbietung: Sie sind stehend, von nicht zu großer
Ferne in angebrachter Kürze an den Lehrer zu richten. Bei mehreren
Fragenden ist eine gewisse Hierarchie einzuhalten: Der gerade behandelte
Gegenstand hat vor der Einbringung eines anderen Themas vorrang; auch
haben Tatsachenfragen vorrang vor hypothetischen Fragen. Fragen zur Halacha
sind denen zum Midrash vorzuziehen, Fragen zum Midrash denen zur Aggada,
Fragen zur Aggada denen zum "Kalwachomer" (logischen Schluss)
und die Fragen zum Kalwachomer denen zur Gesera Schewa (philologischer
Schluss). Handelt es sich bei den Fragenden selbst um Lehrer, so sind
deren Fragen zuerst zu beantworten und erst hinterher die der Schüler
(ebd. 4,6-8). Auch wenn ein Lehrer auf alle Ehrbezeugungen verzichtet,
darf der Schüler sie ihm nicht vorenthalten (ebd. 5,11).
Ermangelt es dem Schüler an Verständnis für einen behandelten
Gegenstand, so sollte er nichts vortäuschen, sondern die Unkenntnis
durch Fragen kundtun, denn die Tora muss er kennen lernen, auch wenn seine
Fähigkeiten begrenzt sind (ebd. 4,4). Er solle sich auch nicht vor
den Mitschülern schämen, dass er längere Zeit zum Begreifen
eines Sachverhaltes brauche als andere. Wird er seine Scham nicht überwinden
und keine Fragen stellen, dann verlässt er die Schule ohne jeglichen
Erfolg. Schüchternheit verhindert das Erlernen vom Unbekannten, weil
das Eingestehen des eigenen Unwissens ausbleibt.
Dem Lehrer hat man genauso viel Ehre und (Ehr-)Furcht entgegenzubringen,
wie dem Vater, denn beim Ersteren lernen wir die Weisheit, die uns der
Olam Haba würdig macht, während wir dem Letzteren unseren Eintritt
in die Olam Hase verdanken. Dem Lehrer ist in mancherlei Hinsicht sogar
der Vorzug vor dem Vater zu geben. So sagen die Weisen, dass die Ehrfurcht
vor dem Lehrer wie die Ehrfurcht vor dem Himmel sei (mora rabach kemora
shamajim)22. Eine Auflehnung gegen den Lehrer gliche einer Auflehnung
gegen Gott (kol-hacholek al-rabo kecholek al-HaShechina). Streit und Groll
gegen den Lehrer, richten sich zugleich gegen Gott (ebd. 5,1) "Nicht
wider uns geht euer Murren, sondern wider den Ewigen."23 Widerspruch
und untragbare Behauptungen sind dem Lehrer gegenüber nicht zu äußern.
Zu den gegen den Lehrer gerichteten Verhalten gehört die Errichtung
einer Schule ohne die Erlaubnis seines Lehrers und die Schlichtung von
halachischen Streitigkeiten in Gegenwart des Lehrers, weil dies seine
Sache wäre. Zum Schiedsrichter ist nur befugt, wer die Befähigung
und Genehmigung seines Lehrers hat - was vor Scharlatanerie schützt.
Über unbefugte Richter heißt es sogar, dass sie "viele
Leichen anhäufen".24 Ungeprüfte Schüler können
sich vor dem Volk mit ihren Urteilen brüsten und damit erst weitreichende
Streitigkeiten verursachen, die - wie Rambam herausstellt - die Welt zerstören
und das Licht der Tora auslöschen (hem hamachariwim et-haolam, wehamechabim
nera shel tora).
Rambams strenge Darstellung des Verhältnisses zwischen Melamed und
Talmid zeigt zweierlei: Ein ausgezeichneter Lehrer kann für Schüler,
die sich auf das ernsthafte Lernen einlassen, befruchtend und prägend
sein, aber nur unter der Voraussetzung, dass das Lernen im genau vorgeschriebenen
Kompetenzrahmen von Distanz und Respekt vollzogen wird. Wird dieser Rahmen
überschritten, indem etwa der Lehrer oder der Schüler die Grenzen
verwischen, kann sogar das Gegenteil des ursprünglich beabsichtigten
Lernzieles, erfolgen. Wenn falscher Ehrgeiz und eigene Überschätzung
hinzukommen, kann statt einer Vermehrung des Geistes der Tora eine Verminderung
desselben eintreten. Deswegen sagte Rabbi Jochanan: "Wenn du viel
Tora gelernt hast, so tue dir nichts darauf zugute, denn dazu bist du
geschaffen."25
Fußnoten
1 Deut 33,4.
2 Ex 29,9 und Ps 89,37.
3 Mishle 8,15-16. Zu den Ketarim von Tora, Kehuna und Malchut siehe auch
Pirke Awot 4,17; 6,6.
4 Ebd. 3,15.
5 Deut 30,12-13.
6 Diese Aussage stammt von Rabbi Nathan in Pirqe Awot 4,11: "Kol
hameqajem ha-tora meoni - sofo leqajma meosher. Wechol hamewatel et-hatora
meosher - sofo lewatla meoni."
7 Deut 28,47-48.
8 Jos 1,8 Das ganze Zitat lautet: "Nicht weiche dies Buch der Lehre
(Sefer ha-tora) von deinem Munde, und du sollst sinnen darüber Tag
und Nacht, damit du beobachtest zu tun, ganz so, wie darin geschrieben;
denn dann wirst du durchführen seinen Weg, und dann wirst du Glück
haben."
9 Deut 4,8-9.
10 Siehe dazu Pirqe Awot 4,7.
11 Qatan ist bei der Altersbestimmung ein Terminus technicus für
den Minderjährigen, d.h. für den religiös noch nicht mündigen
Jungen vor dem Bar-Mizwa-Alter.
12 Deut 5,1.
13 Ebd. 11,19.
14 Ebd. 6,7.
15 Sehr gut passt die Bibelstelle Deut 4,9 zur Weitergabe der Tora an
die folgenden Generationen: "... du sollst sie (die ganze Lehre)
kund machen deinen Söhnen und den Söhnen deiner Söhne"
(wehodatam lewanecha u-liwnej wanecha).
16 Ganz Israel ist füreinander verantwortlich. bSchew 39a-b.
17 Pirqe Awot 2,6.
18 Jer 42,21.
19 Ebd. 48,10.
20 Mal 2,7.
21 Mischle 22,21.
22 Pirqe Awot 4,15 Die Aussage stammt von Rabbi Eleasar.
23 Ex 16,8, siehe auch Num 20,13; 21,5.
24 Michle 7,26.
25 Pirqe Awot 2,9.
Aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt
des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dezember
2004
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