Maimonides als Bibelerklärer und Philosoph
Von Daniel Krochmalnik
Maimonides beginnt sein philosophisches Hauptwerk Führer
der Verirrten nicht zufällig mit der Frage, was die Ausdrücke
"nach unserem Bilde" (BeZalmenu) und "nach unserem Gleichnis"
(KiDmutenu) im Vers über die Erschaffung des Menschen: "Wir
wollen Menschen machen nach unserem Bilde (BeZalmänu), nach unserem
Gleichnis" (Gen 1,26) bedeuten? Auf den ersten Blick widerstreiten
sie ja der Unvergleichlichkeit Gottes, die die Propheten und die Psalmisten
unablässig predigen: "Wem", fragt Jesaja im Namen Gottes,
"wem wollt ihr mich vergleichen (LeMi Tedamjuni) und angleichen und
gleichen, dass wir uns glichen (Nidmeh)?" (Jes 46,5; 40,5.18; Jerm
10,6). "Wer", fragt der Psalmist, "gleicht dem Ewigen?"
(Mi Jidmeh (...) L'Haschem, Ps. 89,7). Es war gerade Maimonides, der diese
biblischen Aussagen von Gottes Unvergleichlichkeit zu einer streng "negativen
Theologie" ausgebaut hat. Danach sind nur "die verneinenden
Aussagen von Gott wahre Aussagen" (Führer der Verirrten I, 56
u. 58). Wie soll man aber dann jene Aussage von des Menschen Gottebenbildlichkeit
im Schöpfungsbericht verstehen? Sie sagt doch eindeutig aus, dass
der Mensch zumindest in irgendeiner Hinsicht Gott gleiche! Und folgt aus
diesem theomorphen Menschenbild im Rückschluss nicht ein anthropomorphes
Gottesbild? Ja, ist darin nicht schon jene religionskritische Umkehrung
des Verhältnisses angelegt, wie sie Ludwig Feuerbach formuliert hat?
"Erst", schreibt dieser Vater der Religionskritik des 19. Jahrhunderts,
"erst schafft der Mensch (...) den Gott nach seinem Bilde, und dann
erst schafft wieder dieser Gott (...) den Menschen nach seinem Bilde"
(Das Wesen des Christentums I,12). Um solchen fatalen Konsequenzen aus
dem Weg zu gehen, haben manche mittelalterliche jüdische Bibelerklärer
den Ausdruck "nach unserem Bilde" so verstanden, dass hier gar
nicht vom Bild Gottes, sondern vom Bild des Menschen bei Gott die Rede
sei. Sie fassen den Vers folgendermaßen auf: "Und Gott schuf
den Menschen in seinem Bilde (nämlich des Menschen), als Bild schuf
Gott ihn" (den Menschen); sie lesen also die Aussage: "Als Bild
schuf er ihn", "BeZelem Elohim Bara Oto" - nicht als status
constructus "(BeZelem Elohim) bara oto", sondern als Objektaussage
"BeZelem (Elohim Bara Oto)" - und retten so Gottes unabbildbare
Transzendenz. Von diesem Menschenbild Gottes kann dann in keiner Hinsicht
mehr auf Gott selbst zurückgeschlossen werden. Wenn aber der Mensch
nichts mit Gott zu tun hätte, wie soll man dann erklären, dass
Gott doch etwas mit dem Menschen zu tun haben will, ihn anspricht, ihm
Befehle erteilt usw.? Wenn Gott etwa nach der Bibel zum Menschen, und
nur zu ihm, spricht, dann muss es zwischen ihnen auch eine Entsprechung
geben. Und eben eine solche Entsprechung will der fragliche Vers feststellen.
Maimonides schließt zunächst aus, dass die
Gottebenbildlichkeit im Sinne einer sichtbaren, plastischen Ähnlichkeit
verstanden werden darf. Er belehrt uns, dass auf Hebräisch die Wörter
"Zelem = Bild" und "D'mut = Gleichnis" nicht notwendig
eine äußere Gestalt, sondern auch eine innere Eigenschaft meinen
können. Er folgert, dass sie im Kontext der Erschaffung aller Lebewesen,
die artspezifische Eigenschaft des Menschen meinen müsse - seine
Vernunft. Er schließt, dass es zwar einen himmelweiten Unterschied
zwischen der endlichen Vernunft des Menschen und der unendlichen Vernunft
Gottes gibt, dass aber doch die Vernunft jene Entsprechung zwischen Gott
und Mensch sei (Führer I,1). Dann stellt sich die eingangs aufgeworfene
Frage in verschärfter Form. Gesetzt der homo sapiens zeichne sich
vor allen übrigen Lebewesen durch seine Vernunft aus und gleiche
Gott, weshalb untersagt ihm Gott dann den Genuss vom Baum der Erkenntnis?
Maimonides gibt diese naheliegende Frage mit beißender Ironie wieder:
"Aus dem einfachen Wortlaut der Schrift scheint hervorzugehen",
sagt er, "dass die ursprüngliche Absicht des Schöpfers
hinsichtlich des Menschen die gewesen sei, dass er wie alle anderen Lebewesen
sei, ohne Vernunft und Denkvermögen und nicht zwischen Gutem und
Bösem unterscheide. Als er aber ungehorsam war, brachte ihm dieser
Ungehorsam diese große, dem Menschen ausschließlich zukommende
Vollkommenheit als Lohn, nämlich, dass ihm die in uns vorhandene
Erkenntnis zuteil wurde, welche das Vornehmste der in uns existierenden
Dinge ist und die unser Wesen ausmacht. Es wundert mich nun, dass die
Strafe für seinen Ungehorsam darin bestand, dass ihm eine Vollkommenheit
verliehen wurde, die er früher nicht besaß, nämlich die
Vernunft. Dies ist aber nicht anders, als wenn jemand sagte, dass irgendein
Mensch, weil er gesündigt und besonders schwere Frevel begangen hat,
in ein besseres Geschöpf verwandelt, nämlich als Stern in den
Himmel versetzt wurde" (Führer I,2).
Für Maimonides gibt es auf diese Frage nur eine mögliche
Antwort: Es kann sich in den beiden Kapiteln der Genesis nicht um die
gleiche Art von Erkenntnis handeln. Die Erkenntnis, wegen der der Mensch
nach dem ersten Kapitel der Genesis ein gottgleiches Wesen genannt wird,
ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen; die Erkenntnis aber, die ihm
nach dem dritten Kapitel untersagt und wegen der er aus dem Paradies vertrieben
wird, ist hingegen die des Guten und Bösen. Die erste Art von Erkenntnis
ist objektiv und begreift die Dinge interesselos, wie sie an sich sind;
die zweite Art von Erkenntnis ist hingegen subjektiv und beurteilt die
Dinge parteiisch danach, ob sie nutzen oder schaden, ob sie gefallen oder
missfallen. Man kann sich den Unterschied dieser Erkenntnisarten an einem
Beispiel deutlich machen, das auch Maimonides anführt. Die modernen
Astronomen mussten seit Kepler (1. Kepler'sches Gesetz, Astronomia nova,
1609, IV, 58) nach der ersten Erkenntnisart einsehen, dass sich die Planeten
nicht, wie Platon lehrte (Timaios 33b-34b) und Maimonides selbstverständlich
glaubte, auf vollkommenen Kreisbahnen bewegen, auch wenn ihnen das nach
der zweiten Erkenntnisart zunächst unglaublich schien. Diese zweite
Art der Erkenntnis ist fraglos minderwertig, weil sie eher unsere Vorurteile
bestätigt und weniger etwas über die Sachen selber aussagt.
Der Sündenfall des homo sapiens besteht nach Maimonides also darin,
dass er seine objektive Erkenntnis bedenkenlos darangibt und sich von
seinen subjektiven Eindrücken verleiten lässt, wie es in der
Bibel heißt: "Als die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen,
eine Lust für die Augen und lieblich zu betrachten, da nahm sie von
seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und
er aß" (3,6). Damit steigt der homo sapiens vom Paradies der
wertfreien Vernunfturteile (Muskalot) in die dunkle - platonische - Höhle
der allgemeinen Vorurteile, der gesellschaftlichen Werturteile und der
öffentlichen Meinungen (Mefursamot) hinab. Es ist ja bezeichnend,
was nach der Schrift die einzige, unmittelbare Folge des Genusses vom
"Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen" war: "Da
gingen ihnen beiden", sagt sie, "die Augen auf, und sie erkannten,
dass sie nackt waren" (ebd. 7). Die Menschen seien, wie Maimonides
bemerkt, auch schon vorher nackt gewesen, was ihnen aber nicht weiter
auffiel, weil sie nun einmal so beschaffen waren und nichts Böses
daran entdecken konnten. Nun aber, sahen sie sich mit anderen Augen, es
war ihnen vor allem wichtig geworden, wie sie in den Augen der anderen
erscheinen würden und prompt fingen sie an - sich zu verkleiden,
zu verbergen, zu verstellen, zu verleugnen (3,7-13). Gott wollte dem Menschen
ein solches unglückliches Leben unter dem gnadenlosen Diktat des
"Man" - "was wird man' denken!", "was wird
man' sagen!" - ersparen und hat ihm ein beschauliches Leben
jenseits von Gut und Böse angeboten. Doch die Menschen ließen
sich vom Augenschein blenden und verfielen jenem ganzen Verhängnis
der sich daraus ergebenden Übeln. Gewiss, jetzt waren die Menschen,
ganz wie die Schlange verheißen und Gott bestätigt hatte, wie
göttliche Wesen geworden und richteten alle Dinge nach ihren eigenen
Maßstäben. Aber diese Gottebenbildlichkeit war nach Maimonides
nur noch ein Zerrbild jener anderen Gottebenbildlichkeit, die sie befähigt,
die Dinge nach der Wahrheit zu beurteilen.
Diese Exegese bekommt etwas Lokalkolorit, wenn man sich
daran erinnert, dass Maimonides aus Córdoba im muslimischen Andalusien
stammte. Diese Stadt zählte damals mehr als 200.000 Häuser und,
als man, wie der Arzt Maimonides berichtet, im christlichen Frankreich
noch in primitivsten hygienischen Verhältnissen lebte (Führer
III, 48), gab es hier gepflasterte Straßen, Wasserleitungen und
mehr als 900 öffentliche Bäder. In den Bibliotheken des Kalifen
Al-Chacham II. wurden um die Wende des ersten Jahrtausends, als im christlichen
Europa noch tiefster Obskurantismus herrschte, mehr als eine halbe Million
Handschriften aufbewahrt. Diese Kulturgüter sind von fanatischen
Gotteskriegern aus dem marokkanischen Atlas-Gebirge vernichtet worden,
und Denker wie Maimonides und Averroes mussten aus dieser Kulturmetropole
der islamischen Welt fliehen. Für sie war der Gott am meisten entsprechende
Mensch der unparteiische Wissenschaftler, und der von Gott abgefallene
Mensch, der parteiische Ideologe.
Aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt
des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, Dezember
2004
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