Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre
Wirkung?
von Werner Bergmann und Wilhelm Heitmeyer
1. Die These
Seit dem Frühjahr 2002 wird über einen "neuen
Antisemitismus" in Europa diskutiert, der sich nicht mehr nur direkt,
sondern auch auf Umwegen über die israelische Politik gegen die Gruppe
der Juden richte. Die alten Stereotype sind damit nicht verschwunden,
aber es gibt neue Wege, um Wirkung zu erzielen. Damit stellen sich zumindest
zwei Fragen: Gibt es in den verfügbaren empirischen Daten der letzten
Jahre Hinweise auf eine größere Äußerungs- und Diskriminierungsbereitschaft
in der Bevölkerung? Gibt es Umwegkommunikationen bei Eliten und in
der Bevölkerung, um neue Wege zur Artikulation antisemitischer Vorurteile
zu beschreiten? Vor diesem Hintergrund soll die These von der Erosion
der Kommunikationslatenz, also der nachlassenden Effektivität der
Vorurteilsrepression diskutiert werden, die sich aus dem Zusammenspiel
von Elitendiskursen und Einstellungsentwicklungen in der Bevölkerung
ergibt.
2. Zur Entwicklung des Antisemitismus in der Bevölkerung
Wir konnten für die Bundesrepublik einen langsamen,
aber stetigen Rückgang in der Verbreitung antisemitischer Vorurteile
vor allem in den jüngeren Generationen konstatieren. In den letzten
Jahren ist das Bild der Meinungsentwicklung allerdings diffuser geworden.
Die ist zeitweilig von einer Zunahme antisemitischer Straftaten begleitet
sowie von einer Häufung öffentlicher Konflikte über antisemitische
Äußerungen (Walser, Zwangsarbeiterentschädigung, Hohmann
etc.).
Die Ergebnisse zweier Studien, die jeweils antisemitische
Einstellungen mit einer identischen Antisemitismusskala im Abstand von
fünf bzw. von einem Jahr(en) erhoben haben, zeigen sogar eine schwache
Zunahme. Die Studie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) hat von
2002 auf 2003 eine Veränderung der Zustimmung von 12,7% auf 14,6%
gemessen, das Forsa-Institut hat 2003 mittels einer Antisemitismusskala
aus sechs Items gegenüber 1998 ebenfalls eine leichte Veränderung
des Anteils antisemitisch eingestellter Personen von 20% auf ca. 23% ermittelt.
Auch die Einschätzung über die Entwicklung antisemitischer Einstellungen
allgemein und im eigenen Bekanntenkreis zeigt in den letzten Jahren einen
negativen Trend. Nach Forsa nahmen 1998 nur 15% eine negative Einstellungsentwicklung
wahr, 2003 waren es doppelt so viele, und im Bekanntenkreis bemerkten
ebenfalls mehr Befragte eine negative Einstellung zu Juden als 1998: die
Nennung "keine" sank von 67% im Jahre 1998 auf 59% im Jahre
2003, "etwa die Hälfte" stieg von 4% auf 6%, "fast
alle" blieb bei 3% und bei "wenigen" Bekannten sahen 1998
17% und 2003 24% negative Einstellungen. Dies spricht insgesamt für
eine negative Entwicklung des Meinungsklimas. Von ablehnenden Äußerungen
über Juden in Familie oder Bekanntenkreis berichteten in der GMF-Studie
von 2002 fast 20 % der Befragten (von sich selbst sagten dies: 7 % "selten",
3,2% "manchmal", 2% "häufig"), wobei nach eigenen
Angaben jeweils ungefähr ein Drittel auf diese Äußerungen
mit Abwehr (dagegen geredet: ca. 30 %) oder Zustimmung ("in der Regel
zugestimmt" ca. 33 %) bzw. "überhaupt nicht reagiert"
haben (fast 38 %). Dieses Ergebnis macht deutlich, daß offenbar
die für die Öffentlichkeit geltende Norm, antisemitische Äußerungen
zurückzuweisen, in der privaten Kommunikation entweder nicht gilt
oder nicht befolgt wird.
3. Erodiert die Kommunikationslatenz?
Das Konzept der Kommunikationslatenz nimmt an, daß
einerseits antisemitische Einstellungen in der Bevölkerung verbreitet
sind, die in geeigneten privaten Kommunikationssituationen auch verbalisiert
werden. Dem steht andererseits das öffentliche Meinungsklima entgegen.
Wird die Latenz dennoch durchbrochen, wird dies moralisch durch Achtungsentzug,
in schweren Fällen auch durch rechtliche Folgen sanktioniert. Solange
Konsens in den politischen und kulturellen Eliten besteht, auch gegen
"die Stammtische" den Meinungsdruck aufrechtzuerhalten und sich
antisemitischer Ressentiments politisch nicht zu bedienen, kann dies den
Antisemitismus aus der öffentlichen Kommunikation weitgehend heraushalten
und langfristig die Tradierung antijüdischer Stereotype abschwächen.
Die Akzeptanz des Kommunikationsverbots basiert auf der Überzeugung,
daß sich angesichts der NS-Verbrechen antisemitische Äußerungen
von selbst verbieten und Juden als deren Opfern besondere Rücksichtnahme
gebührt. Sie hängt historisch mit externen und internen Integrationserfordernissen
der Bundesrepublik zusammen, denn das Zulassen einer offenen Kommunikation
von Judenfeindschaft hätte nach 1945 das Ausland an der politischen
Umorientierung und Demokratisierung des Landes zweifeln lassen. Die Staatsräson
erforderte also ihre negative Sanktionierung bzw. bestimmte Regeln des
Wegsehens oder der Bagatellisierung. Die Kommunikationssperre hat wohl
auch deshalb gut funktioniert, weil damit ebenfalls ungenannt bleiben
konnte, daß viele Zeitgenossen in den Nationalsozialismus verstrickt
gewesen sind. Dieses "Eigeninteresse" fällt nun in den
nachgeborenen Generationen fort und auch für die Anerkennung Deutschlands
als demokratisches Gemeinwesen erscheint eine strikte Tabuisierung als
nicht mehr so dringlich. Die "Sehnsucht nach Normalität"
dringt darauf, das "unnatürliche" Kommunikationsverbot
aufzuheben, das einem "normalen Verhältnis" von Deutschen
und Juden entgegensteht. Die in den letzten Jahren zu beobachtende Häufung
von Konflikten hat einen geradezu inflationären Gebrauch von Mißachtungskommunikation
erzwungen, was - wie bei einer Inflation üblich - zu deren Entwertung
führt. Es verwundert daher nicht, daß Kritiker der Tabuisierung
behaupten, Antisemitismusvorwürfe seien "billig und allgegenwärtig".
4. Erosionselemente
Verfolgt man die These einer Erosion der Kommunikationslatenz,
dann sind neben der Historisierung der Judenvernichtung auch eine Reihe
gezielter Strategien zu analysieren: Formen von Umwegkommunikation und
Selektivität, Tabukritik und Entlastung durch "Europäisierung"
des Holocaust.
4.1 Israelkritik als Umwegkommunikation und die Delegitimierung
des jüdischen "Opferstatus"
Eine Möglichkeit, das Kommunikationsverbot zu umgehen
und doch antisemitische Einstellungen zu kommunizieren, besteht im Ausweichen
auf angrenzende, weniger stark tabuisierte Themen, die allerdings von
den Tabubrechern zumeist als ebenfalls tabuisiert hingestellt werden.
Es wird so getan, als sei jegliche Kritik an der Politik Israels gegenüber
den Palästinensern generell in das Kommunikationsverbot von Antisemitismus
eingeschlossen, obwohl faktisch die Medien laufend kritische Berichte
bringen. Damit wird diese Behauptung als eine Form der Delegitimierung
des Antisemitismusvorwurfs erkennbar. Der Beitrag von Heyder/Iser/Schmidt
in diesem Band kann empirisch differenziert zeigen, daß sich eine
kritische Einstellung zur Politik Israels gegenüber Palästina
sehr wohl von einem israelbezogenen Antisemitismus trennen läßt,
der eine Übertragung der Kritik an der Politik Israels auf alle Juden
beinhaltet. Die Tabuisierung antisemitischer Kommunikation hat in der
Bundesrepublik zu einer Reihe von weniger inkriminierten Themenverschiebungen
geführt. Eine davon, die seit 1967 genutzt wird, ist die Kritik der
israelischen Besatzungspolitik. Sie wurde zunächst vor allem von
der extremen Linken und Rechten praktiziert, hat sich verstärkt seit
der ersten (1987) und vor allem der zweiten Intifada (Oktober 2000) und
findet sich auch zunehmend im politischen Mainstream. Die internationale
Diskussion um den "new antisemitism" sieht das Neue ja gerade
in dieser Verschiebung auf Israel, das nun als "kollektiver Jude"
an die Stelle der Juden in der Diaspora tritt. Aus der Tatsache, daß
wie bei keinem anderen politischen Konflikt Israels Politik in den Vergleichshorizont
des Nationalsozialismus gestellt wird und man ihr die Absicht eines "Vernichtungskrieges"
unterstellt, läßt sich das Motiv ablesen, durch Täter/Opfer-Umkehr
den Status der Juden als Opfer des Holocaust zu relativieren. Damit wird
Zweierlei erreicht: Einmal werden die Juden bzw. Israel als Kritiker der
Zustände in anderen Ländern delegitimiert, der Antisemitismusvorwurf
erscheint als bloßes Instrument der Abwehr von Israelkritik (so
in der Karsli/Möllemann-Friedman-Debatte), zum anderen verlieren
die Opfer ihren moralischen Kredit, wenn sie sich angeblich wie die früheren
Täter verhalten. Indem kritische Einstellungen zu Juden auf die Politik
Israels zurückgeführt werden, bekommen sie ein nachvollziehbares
Motiv und erscheinen nicht mehr als irrationales antisemitisches Vorurteil,
zumal dann, wenn eine solche Debatte auch in Israel selbst stattfindet.
Die Vorurteilskommunikation beginnt zumeist auf zulässigem Terrain
(Kritik an Israels Politik), um dann immer unverhüllter antisemitische
Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Hat man sich einmal eines
Konsenses hinsichtlich einer kritischen Haltung zu Israels Politik versichert,
wirkt dies offenbar in Richtung einer Aufhebung des Kommunikationstabus
auch für antijüdische Äußerungen. Angesichts der
Häufigkeit solcher Alltagsgespräche muß man hier eine
vielfache "Durchlöcherung" der Kommunikationslatenz auf
der privaten Ebene annehmen.
4.2 Selektivität der Latenzdurchbrechung: Israelische
und amerikanische Juden
Die Durchbrechung der Latenz kann selektiv erfolgen, indem
sie sich nicht auf alle Juden bezieht. Der amerikanische Politologe Andrei
S. Markovits sieht eine Veränderung des europäischen Antisemitismus
insoweit, als daß die Äußerung von Vorurteilen und Haß
gegen die machtlosen europäischen Juden als illegitim gelte, daß
sie aber wohl, oft verschwörungstheoretisch argumentierend, gegenüber
den "mächtigen Juden" in Israel und den USA geäußert
werden dürften. Antisemitische Vorurteile scheinen hier so etwas
wie "environmental support" zu bekommen: in Bezug auf die jüdische
Lobbymacht in den USA und den Einfluß Israels auf die USA können
eher als bei den Juden im eigenen Land "empirische Evidenzen"
beigebracht werden. So wird der Einfluß der Vertretung der Juden
in Deutschland nur von 20% als "zu groß" gewertet, auf
das Weltgeschehen hingegen von 25% (40% in der Umfrage des AJC 2002).
Im Irak-Krieg wurden die USA für manche zum "Erfüllungsgehilfen"
Israels und der einflußreichen jüdischen/zionistischen Lobby
in den USA (vgl. die beständigen Hinweise auf Juden in der Bush-Administration:
Perle, Wolfowitz bzw. auf "die Ostküste").
4.3 Elitendiskurse: die Kritik des Kommunikationstabus
Was bedeutet es für die politische Landschaft, wenn
2003 etwa 75 % bzw. 2004 fast 73 % aller CDU-Wähler angeben, sich
darüber zu ärgern, "daß den Deutschen heute noch
die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden" und 2003 mehr als
59 % von ihnen annehmen, die "Juden versuchten, aus der Vergangenheit
des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen"? Wie ist angesichts
dieser Befunde die Wirkung einer Rede wie der des ehemaligen CDU-Abgeordneten
Martin Hohmann oder von Äußerungen des verstorbenen FDP-Politikers
Jürgen Möllemann einzuschätzen? Was bedeutet dies für
die Position der Parteien? Sicherlich ist nicht zu erwarten, daß
diese Antisemitismus offen politisch nutzen, doch könnte sich der
Wille, gegen antisemitische Äußerungen auch öffentlich
Position zu beziehen, abschwächen. Dies wiederum hätte Auswirkungen
auf den Latenzdruck und könnte zu einer Veränderung des Meinungsklimas
führen, so daß antisemitische Kommunikation mehr Äußerungschancen
bekäme. Im Zuge der Möllemann-Affäre ist diskutiert worden,
ob die FDP antisemitische Ressentiments gezielt zur Wählergewinnung
im Wahlkampf 2002 eingesetzt habe. Das Wahlergebnis deutet nicht daraufhin,
daß sie damit letztlich erfolgreich war, obwohl Wahlumfragen im
Zuge der Kampagne zunächst Stimmengewinne für die Partei signalisierten.
Insofern dürfte diese "Strategie" von den anderen Parteien
kaum nachgeahmt werden. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist die
Tatsache, daß die Skandalisierung Möllemanns sehr langsam anlief
und die FDP zäh am Thema Israelkritik festhielt. Es entspann sich
eine Diskussion über das Zutreffen/Nichtzutreffen des Antisemitismusvorwurfs
bzw. über dessen Instrumentalisierung als Abwehr von Kritik an Israels
Politik, in der der Vorwurf selbst als Ausgrenzung von Demokraten hingestellt
wurde. Der Tabubruch Möllemanns wurde so zum Kampf für Meinungsfreiheit
heroisiert, während man seinen Gegnern, allen voran Michel Friedman
"Sehnsucht ... nach Begrenzung der Meinungsfreiheit" unterstellte
oder die Skandalisierung als gewolltes Mißverstehen interpretierte.
Allein schon die Begriffe, mit denen die Kritik antisemitischer Äußerungen
bedacht wurde, wenn von "selbst ernannter Gedankenpolizei",
"Tabuwächtern", "Gutmenschen" oder einer "Strategie
der Einschüchterung" die Rede war, sprechen für den Versuch,
die "Grenzen des Sagbaren" zu verschieben, indem man die Kritiker
verunglimpft bzw. lächerlich zu machen sucht. Die Behauptung einer
jüdischen Medienherrschaft, die ein offenes Wort über die Juden
verhindere und mutige Tabubrecher erfordere, ist nun mindestens seit Heinrich
von Treitschke ein zentraler Topos antisemitischer Argumentation. Der
politische Konsens, daß Antisemitismus in den demokratischen Parteien
nicht akzeptabel ist, hält noch - wenn auch auf den unteren Parteiebenen
statt eines Achtungsentzugs der Beifall für Möllemann (40% der
befragten Mitglieder nahmen 2002 für ihn Partei, 37% gegen ihn) und
Hohmann (49% der CDU-Anhänger hielten seine Äußerungen
für vertretbar) groß war. Hier könnte eine Verführung
für populistische Politiker liegen, zumal sich das Zustimmungspotential
für rechtspopulistische Positionen in der Bevölkerung von 2002
auf 2003 von 20 auf 25% erhöht hat.
4.4 Entlastung durch die Europäisierung des Holocaust
und des Antisemitismus
Konzentrierte sich über Jahrzehnte die Kritik an
einer mangelhaften Bewältigung der Vergangenheit und an einem Fortleben
antisemitischer Einstellungen fast allein auf Deutschland (seltener auch
auf Österreich) als dem Hauptschuldigen für die Verbrechen an
den europäischen Juden, so läßt sich in den letzten Jahren
eine Tendenz zur Europäisierung des Holocaust und des Antisemitismus
erkennen. In mehreren europäischen Ländern hat man Holocaust-Gedenktage
eingeführt und in den letzten Jahren sind sogar im Zweiten Weltkrieg
neutral gebliebene Staaten wie die Schweiz und Schweden mit direkten und
indirekten Formen ihrer Beteiligung am Holocaust (Raubgold, Rohstofflieferungen
etc.) konfrontiert worden. In Polen (Jedwabne-Debatte) und anderen osteuropäischen
Staaten (Restitutionsfragen) sieht man sich zu einer Beschäftigung
mit der eigenen Verwicklung in den Holocaust genötigt. Man könnte
hier von einer gewissen "Europäisierung von Mitschuld"
sprechen, so daß sich mancher von dem Druck der alleinigen deutschen
Schuld entlastet fühlen mag. Ein Ausdruck für diese Verwandlung
des Holocaust in eine "universelle Chiffre" war das Stockholm
International Forum on the Holocaust im Jahr 2000, das mit der Gründung
der International Task Force on Holocaust Education ein "Umschalten"
von Vergangenheit auf Zukunft markierte, denn sie formuliert mit ihren
Erziehungsabsichten "to plant the seeds of a better future amidst
the soil of a bitter past". Der Antisemitismus in Deutschland verliert
damit im europäischen Kontext etwas von seiner Besonderheit. Auch
daß er in anderen Ländern (wie Frankreich) heute virulenter
ist als in der Bundesrepublik kann als ein Zeichen der "Normalisierung"
genommen werden. Mit dieser "Normalisierung", so denken manche,
werden Juden leichter kritisierbar, die Durchbrechung der Kommunikationslatenz
erscheint weniger riskant. Das Risiko sinkt in der Wahrnehmung der Deutschen
auch dadurch ab, daß von Seiten der europäischen Nachbarn,
die selbst Probleme mit dem Antisemitismus haben, wenig Kritik an gelegentlichen
Äußerungen von Antisemitismus in Deutschland zu erwarten ist.
So bleiben als Kritiker nur die Juden selbst bzw. ihre Organisationen,
Israel und Stimmen aus den USA übrig, was wiederum möglicherweise
das Stereotyp des nachtragenden, keine Ruhe gebenden Juden bestätigt.
5. Zur Beschleunigung der Erosion: Entschuldungsverlangen
in der Bevölkerung
Die verschiedenen Strategien in Elitendiskursen können
nur Wirkung entfalten, wenn ein entsprechender Resonanzboden in der Bevölkerung
vorhanden ist. In der Untersuchung zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
stimmten die Befragten sowohl 2003 als auch 2004 in hohem Ausmaße
der Aussage zu, daß sie sich darüber ärgerten, wenn den
Deutschen von Juden heute noch die NS-Verbrechen vorgehalten würden.
Die nachfolgende Abbildung zeigt das stabile Ergebnis. Damit wird deutlich,
daß diese Einstellung sogar von denen, die sich in der politischen
Mitte oder gar links davon einstufen, mehrheitlich vertreten wird. Bemerkenswert
ist auch, daß sich keine signifikanten Geschlechts-, Ost-West- und
nur in 2004 Altersdifferenzen zeigen. Dies deutet möglicherweise
auf eine breite Erosion der Bereitschaft hin, Juden aufgrund der deutschen
Vergangenheit weiterhin einen Opferstatus zuzubilligen bzw. komplementär
die Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen.
Zustimmung in Prozent in Abhängigkeit von der politischen
Selbsteinstufung.
a Anteil an allen Befragten in Prozent (erster Wert 2003, zweiter Wert
2004).
Die Unterschiede zwischen den Jahren 2003 und 2004 sind für keine
politische Richtung signifikant.
(Quelle: GMF Projekt 2003 und 2004)
Der erfaßte Ärger steht nun nicht allein, sondern im Zusammenhang
mit den anderen Antisemitismus-Aussagen. Dieser ist signifikant, wenn
auch nicht übermäßig hoch. Höher fällt die Korrelation
mit dem Statement "Viele Juden versuchen aus der Vergangenheit ihren
Vorteil zu ziehen" aus. Der Ärger über die Vorhaltungen
der Verbrechen ist eng verknüpft mit dem Verdacht, dies geschehe
seitens der Juden um eigener Vorteile willen. Die Zustimmung zu dem entsprechenden
Item "Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für
ihren eigenen Vorteil aus" ist zwischen 1990 und 2002 unter Westdeutschen
von 39% auf 54%, unter Ostdeutschen noch stärker von 20% auf 45%
angestiegen. Es könnte sein, daß hier die Debatten über
die "erbenlosen Vermögen", die Zwangsarbeiterentschädigung
sowie über das Buch Finkelsteins zur "Holocaust-Industrie"
seit 1998 der Vergangenheitsbewältigung eine primär materielle
Dimension gegeben haben, wobei an die alten Vorbehalte gegen "Wiedergutmachungszahlungen"
seit den frühen 1950er Jahren angeknüpft werden kann. Diese
Ablehnung einer Verantwortung für die NS-Opfer, vor allem wenn diese
sich nun sehr stark auf materielle Kompensation bezieht, könnte sich
abschwächend auf die Tabuisierung des Antisemitismus auswirken, so
daß antisemitische Einstellungen möglicherweise offener geäußert
werden als früher - und dies nicht nur am rechtsextremen Rand.
6. Das Schweigen der Gegenkräfte
Das Risiko, auf antisemitische Äußerungen hin
negativ sanktioniert zu werden, hängt wesentlich davon ab, ob es
Personen gibt, die bereit sind, die Sanktionierung bis hin zu Formen der
öffentlichen Skandalisierung zu übernehmen. Die GMF-Daten aus
2002 weisen darauf hin, daß die Bereitschaft, antisemitischen Äußerungen
entgegenzutreten, im privaten Bereich offenbar eher gering ist. Daß
diese Bereitschaft in den letzten Jahren abgenommen hat, kann man - einem
Hinweis von Ulrich Beck folgend - damit erklären, daß die Politik
Israels es vielen Kritikern des Antisemitismus erschwert, sich gegen die
Kritik an Juden zu exponieren. Aus dieser Grundhaltung heraus wählen
sie in Konfliktsituationen jetzt eher die Option "silence" als
die Option "voice". Gerade weil sich seit Beginn der Zweiten
Intifada im Oktober 2000 Antisemitismus zumeist an Entwicklungen im Nahen
Osten festmacht, ist es um so wahrscheinlicher, daß sich die Protagonisten
der Bekämpfung von Antisemitismus, die in Deutschland ihre Motive
primär aus den Folgen des Antisemitismus in der deutschen Geschichte
beziehen, seltener gegen antisemitische Äußerungen exponieren,
weil diese nicht diesen Vergangenheitsbezug haben, sondern sich auf Israel
oder die Rolle der amerikanischen Juden im Nahostkonflikt beziehen.
7. Zur Zukunft der Kommunikationslatenz
Was bedeuten nun die vorgetragenen Erosionselemente für
die Zukunft? Dazu ist es zunächst wichtig, sich der Qualität
des "Instruments" zu vergewissern, derer sich die Kommunikationslatenz
bedient. "Oft ist die offizielle Abwehr antisemitischer Äußerungen
nichts weiter als eine Bekräftigung eines politischen Tabus. Tabus
können nützlich sein, wenn man sonst nichts hat, aber auf lange
Sicht bewirken sie keine Einsichten, sondern nur Resistenzen." Die
zwingende Durchsetzung einer Kommunikationslatenz forciert also nicht
differenzierte Sichtweisen, sondern ist eine defensive "letzte Option".
Das Tabu kann immer wieder stabilisiert werden, wenn es zu Normverstößen
kommt, also die "Grenzen des Sagbaren" verschoben werden sollen.
Dann bietet sich jeder Gesellschaft immer wieder die Chance, durch Intervention
die Normgrenzen zu stabilisieren, d. h. die Gesellschaft vergewissert
sich bisher geltender Normalitätsstandards. Dies ist z. B. im Falle
Hohmanns, nach langem Zögern, noch einmal gelungen. Gleichwohl, die
Basis der Kommunikationslatenz ist selbst riskant, weil auch eine Reaktanzlatenz
immer mitschwingt. Diese kann sich darin ausdrücken, daß sich
der Antisemitismus vom Bezug auf die deutsche Geschichte zu lösen
beginnt und sich verstärkt in der Politik Israels ein neues Objekt
sucht. Die Wende von irrationalen verschwörerischen Vorurteilen zu
evidenten, öffentlich via Medien sichtbaren Ereignissen eröffnet
das Tor zur politischen Mitte. Die empirischen Ergebnisse zeigen das Ausmaß
der Verbreitung von Einstellungen, die mit dem Entschuldungsverlangen
gekoppelt sind. Wer aber sorgt für die Stabilisierung der Normgrenzen
bei weiteren Versuchen, diese zu durchbrechen? Dabei ist an die Theorie
der Schweigespirale zu erinnern, die besagt, daß Personen, die den
Eindruck haben, sie gehören mit ihrer Meinung zur Mehrheit, ihre
Positionen umso vehementer vertreten als wenn sie sich subjektiv in der
Minderheit fühlen. Die offene Frage für die Zukunft wird sein,
in wieweit politische Eliten mit dem Gespür für Mehrheiten,
die sie sich "in der Mitte" sichern wollen, dann noch die Kraft
und den Mut aufbringen, weiterhin Normgrenzen zu setzen. Wir haben es
hier möglicherweise in der Zukunft mit einem riskanten Wechselspiel
zwischen Eliten und größeren Teilen der Bevölkerung zu
tun, mitsamt einem gefährlichen Dilemma. Das besteht darin, daß
die Effektivität von politischen Tabus drastisch nachläßt,
weil "rationale" Umwegkommunikationen praktiziert werden. Gleichwohl
kann man Tabus nicht einfach aufheben, weil niemand weiß, ob ein
differenzierter Diskurs möglich ist. Wer kann einen differenzierten
Diskurs durchsetzen?
(Vorabversion eines Kapitels in: Deutsche Zustände,
Folge 3, Suhrkamp, 2004)
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und
Gewaltforschung. Texte zu Ergebnissen der Umfrage 2004 des Projektes "Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit" mit Schwerpunkten zum Antisemitismus
Leitung: Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Universität Bielefeld
weitere Ergebnisse in:
Heitmeyer, W. (Hrsg.)(2004). Deutsche Zustände, Folge 3. Frankfurt
a. Main: Suhrkamp Verlag.
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