Gedenken braucht Begegnung. Begegnung braucht Erinnerung
von Otto Schily

Laudatio zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Peter von der Osten-Sacken und das Institut Kirche und Judentum am 6. März 2005 in Erfurt

Die Woche der Brüderlichkeit fällt in diesem Jahr zwischen bedeutende Jahrestage. Vor sechzig Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit; der Zweite Weltkrieg ging zu Ende. Zwanzig Jahre später, in diesem Mai vor vierzig Jahren, nahm die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen mit Israel auf.

Dass Israel und Deutschland heute durch gute, freundschaftliche Beziehungen verbunden sind, verdanken wir vielen verehrungswürdigen Menschen, die sich nach 1945 um Dialog und Verständigung bemüht haben. Und vielen mutigen Menschen verdanken wir, dass jüdische Gemeinden in großer Zahl wieder lebendiger Bestandteil unseres religiösen und kulturellen Lebens geworden sind - ein wahres Wunder.

Die Bereitschaft zum Neubeginn von jüdischer Seite verdient unseren größten Respekt und tief empfundenen Dank. Martin Buber zählte zu den ersten, die nach der Shoa die Versöhnung mit den nicht-jüdischen Deutschen suchten - ganz im Sinne des dialogischen Denkens, das er gemeinsam mit Franz Rosenzweig in der Theologie, in Philosophie und Pädagogik so fruchtbar gemacht hatte.

Dank gebührt aber auch den Christen, die diesen Dialog aktiv gesucht und gefördert haben. Denn die Erkenntnis, dass der Völkermord an den Juden in einem christlich geprägten Land geplant und durchgeführt wurde, auch von Menschen, die sich Christen nannten, aber ihr angebliches Christentum auf die schändlichste Weise verraten haben - diese bittere Einsicht ließ und lässt sich nicht verdrängen. Sie anzuerkennen und auszusprechen zählt zu den Voraussetzungen des jüdisch-christlichen Dialogs nach 1945.

Gedenken braucht Begegnung. Begegnung braucht Erinnerung.

Die Erinnerung an das historische Geschehen des zwanzigsten Jahrhunderts kann auch die Theologie nicht unberührt lassen - am wenigsten eine Gotteslehre, in der die Heilsgeschichte einen so wesentlichen Platz einnimmt. Elie Wiesel ging sogar so weit zu sagen, in Auschwitz sei das Christentum gestorben. Der Satz sollte anders heißen: In zahllosen Menschen ist ihr Gewissen und damit ihr Christentum erstorben.

Der christlich-jüdische Dialog nach 1945 war daher nicht nur stets ein individuelles, oft existentiell bewegendes Wagnis. Er hat auch das Selbstverständnis der großen christlichen Kirchen unwiderruflich verändert.

Wir ehren heute eine Persönlichkeit und ein Institut, die sich um dieses neue Verständnis und die christlich-jüdische Zusammenarbeit auf außerordentliche Weise verdient gemacht haben. Wir ehren Herrn Professor Dr. Peter von der Osten-Sacken und das Institut Kirche und Judentum.

Institution und Individuum sind in diesem Fall besonders eng verbunden. Seit mehr als drei Jahrzehnten leiten Sie, sehr verehrter Herr Professor von der Osten-Sacken, das im Berliner Dom ansässige Institut. Es ist Ihr Lebenswerk, und es lebt von Ihrem großen, vorbildlichen, mustergültigen Engagement. Denn es sind immer Einzelne, die etwas neu beginnen und gemeinsam etwas aufbauen können, das sie am Ende überdauert.

Friedrich Schiller, der bekanntlich oft in Erfurt weilte, formulierte:
"Ehret ihr immer das Ganze, ich kann nur Einzelne achten;
Immer in Einzelnen nur hab ich das Ganze erblickt."

In Herrn Professor von der Osten-Sacken erblicken wir heute das Institut Kirche und Judentum. Die Ehrung gilt zuallererst ihm selbst, aber seinem Vorgänger ebenso wie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Gegründet wurde das Institut schon 1960, auf den Weg gebracht und vierzehn Jahre lang geleitet von Günther Harder. Während der Nazi-Terrorherrschaft kam er mehrfach in Haft; von Anbeginn gehörte er zum Pfarrernotbund und zur Bekennenden Kirche. Im Rückblick erkannte Harder jedoch auch dort einen Mangel an jener umfassenden Solidarität, die über das eigene Taufbekenntnis hinausreicht. Der christlich-jüdische Dialog wurde daher nach dem Krieg zum Hauptanliegen seines Wirkens.

Günther Harder war Ihnen, sehr verehrter Herr Professor von der Osten-Sacken, nach Ihrem eigenen Bekunden ein väterlicher Freund. Sie haben seine Pionierarbeit erfolgreich fortgeführt. In 45 Jahren ist das Institut Kirche und Judentum zu einer ebenso traditionsreichen wie anerkannten und angesehenen Einrichtung der christlich-jüdischen Verständigung geworden.

Verständigung setzt zuallererst die Kenntnis und auch Anerkenntnis des Anderen voraus. Der Arbeitsauftrag des Instituts besteht daher nicht nur darin, die biblischen Zusammenhänge zwischen Judentum und Christentum genauer aufzuzeigen. Das Judentum soll auch als eigenständige und einzigartige Größe wahrgenommen werden. Das Institut Kirche und Judentum kommt diesem Auftrag in Theorie und Praxis nach.

Sie geben Schriftenreihen heraus, in denen neben wissenschaftlichen Arbeiten auch praxisnahe Darstellungen des Judentums erscheinen.

Sie halten an der Humboldt-Universität für angehende Theologen Lehrveranstaltungen über das Judentum. Es wäre äußerst bedauerlich, wenn der Lehrstuhl und damit auch das Fach "Christlich-Jüdische Studien" an der Humboldt-Universität gestrichen würde. Es wäre im Gegenteil sehr zu begrüßen, wenn jüdische Studien zum selbstverständlichen Bestandteil der Ausbildung von Theologen in Deutschland würden.

Das Institut hat auch das Programm "Studium in Israel" mitbegründet und inhaltlich entscheidend mitgestaltet. Ein Jahr lang können Studierende der Theologie aus Deutschland lebendiges Judentum in Israel kennen lernen.

Und nicht zuletzt dient die Christlich-Jüdische Sommeruniversität des Instituts neben der theoretischen Wissensvermittlung vor allem dem persönlichen Erfahrungsaustausch. Das Bundesministerium des Innern wird die Sommeruniversität daher weiterhin unterstützen. Die Treffen profitieren von der engen Zusammenarbeit des Instituts mit der jüdischen Gemeinde in Berlin. Mit Rabbiner Chaim Rozwaski verbindet Sie, sehr verehrter Herr Professor von der Osten-Sacken, eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit. Es verbinden Sie wohl auch in der Sache kritische und kontroverse Auseinandersetzungen. Aber der echte Dialog besteht ja nicht im bloßen Austausch von Meinungen, sondern beginnt erst mit dem offenen und ehrlichen Gespräch. In diesem gemeinsamen Ringen um Verständigung und richtige Einsichten liegt auch der Kern einer dynamischen demokratischen Kultur.

Das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit verweist auf die Notwendigkeit solchen Verstehens: "Prüfet alles, behaltet das Gute." Es ermutigt, es ermuntert uns zur geistigen Bewegung, und es erinnert uns daran, dass wir nicht nur eine Verantwortung für unser Handeln, sondern auch für unser Denken haben. Manches aus der Vorgeschichte des Nazi-Terrors macht uns das bewusst.

Sehr verehrter Herr Professor von der Osten-Sacken, Sie haben in Ihrem Leben Vieles geprüft und das Beste behalten. Schon 1960, kurz nach Beginn Ihres Theologiestudiums, gingen Sie nach Israel in einen Kibbuz. Die große Offenheit, mit der man Ihnen, dem jungen Christen aus Deutschland, begegnete, hat Sie nachhaltig beeindruckt. Noch heute pflegen Sie enge persönliche Kontakte nach Israel. Und als Sportminister sei mir die Anmerkung erlaubt: Wären Sie entgegen dem Rat Ihres Arztes doch Fußballprofi geworden, dann hätten Sie gewiss auch Freunde bei Makkabi Tel?Aviv.

Sie suchen den Dialog nicht aus gesicherter akademischer Distanz, sondern in der alltäglichen, oft überraschenden Begegnung mit dem Anderen. Anstelle theoretischer Diskurse fordern Sie die individuelle Auseinandersetzung mit dem Gegenüber und praktizieren dies mit der Ihnen eigenen Offenheit und Sensibilität.

In glücklichen Momenten mag dann das gelingen, was Sie in einem einprägsamen Bild beschrieben haben: Christen und Juden zögen, jeweils für sich, auf beiden Seiten eines breiten Flusses. Der Strom speise sich aus gemeinsamen Quellen, was beide Seiten verbinde. Und doch blieben sie auf Sichtweite getrennt. Zuweilen aber gelinge es, eine Brücke über den Fluss zu bauen: für Momente gemeinsamen Lernens, zum Miteinander-Sprechen und ?Singen.

Immer wieder haben Sie, sehr verehrter Herr Professor von der Osten-Sacken, in Ihrem Leben und mit dem Institut Kirche und Judentum solche Brücken gebaut. Sie sind auf Menschen, Juden wie Christen, zugegangen, ganz im Sinne der chassidischen Weisheit: Um Gott wirklich zu lieben, musst Du die Menschen lieben.

Die Leben spendende Kraft der Begegnung, die auch in der Woche der Brüderlichkeit immer neu erfahrbar wird, darf unsere Hoffnungen bestärken für die Zukunft der jüdisch-christlichen Verständigung. Martin Buber hatte die Geschichte dieses so schwierigen Dialogs als das Gegenteil von Begegnung, als "Vergegnung", bezeichnet. Und trotz mancher Fortschritte schrieb noch Jahrzehnte später ein Kenner und Vorreiter dieses Dialogs, im großen und ganzen sei man "noch kaum aus dem Stadium eines Monologes hinausgekommen". Das war Ihr eigenes, skeptisches Resümee, Herr Professor von der Osten-Sacken. Und noch heute müssen wir feststellen, wie schwierig, wie kompliziert der Dialog auch unter Wohlmeinenden ist, zumal latenter Antisemitismus und offene Judenfeindlichkeit nicht überwunden sind. Ich hoffe sehr, dass die Buber-Rosenzweig-Medaille Ihnen und dem Institut frischen Mut und Zuversicht verleiht.

1975 zählten Sie, ein Paulus-Kenner, zur Kommission für die erste Studie "Christen und Juden" der Evangelischen Kirche in Deutschland. Über dem Anfangskapitel stand das Paulus-Wort: "Du sollst wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich."

Diese Stelle aus dem Römerbrief hat den Weg zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Judentum gewiesen. Zugleich erinnert sie uns daran, dass wir als Individuen nicht auf uns allein gestellt sind.

"Ich kann nur Einzelne achten", schrieb Schiller. Daher achten und schützen wir die Würde jedes einzelnen Menschen. Das gelingt uns jedoch am besten in der Gemeinschaft mit anderen. Die Woche der Brüderlichkeit, für deren alljährliche Organisation ich dem Deutschen Koordinierungsrat herzlich danke, ermutigt uns, den Dialog immer neu zu beginnen, immer neu zu versuchen und fortzuführen. Nur so lassen sich Vorurteile und Ressentiments überwinden.

Ihnen, Herr Professor von der Osten-Sacken, und dem Institut Kirche und Judentum gratuliere ich zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille - eine Ehrung, auf die Sie besonders stolz sein können. Ich wünsche Ihnen und dem Institut eine erfolgreiche Fortsetzung Ihrer verdienstvollen Arbeit für die Verständigung zwischen Juden und Christen! Shalom.

Quelle: Bundesministerium des Innern

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