Der Zukunft auf der Spur - Überlegungen zu Vergangenheit
und Zukunft von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
von Wolfgang Huber
Überall, wo Menschen leben, ist ihre Vergangenheit
präsent. Und immer sind sie auf Zukunft aus. Menschen sind der Zukunft
auf der Spur. Diese Spur findet nur, wer seine Vergangenheit kennt und
um seine Gegenwart weiß. Es ist keineswegs paradox, sondern leuchtet
ein, dass Zukunft nur der hat, der um seine Herkunft weiß.
Die christliche Kirche stellt, der jüdischen Religion
folgend, eine Institution des Gedächtnisses dar. Der christliche
Glaube ist auf Ursprungsdokumente wie die Bibel und Herkunftsdokumente
wie die Bekenntnisschriften bezogen. Schon durch seinen Namen erinnert
er an seinen Ursprung in Jesus Christus. In seinen Sakramenten und Ritualen,
insbesondere im Heiligen Abendmahl verkörpert sich die Erinnerung
an ein bleibend wichtiges Geschehen, das, im Ritus vergegenwärtigt,
Zukunft eröffnet: "Das tut zu meinem Gedächtnis".
Durch die Zusage der Sündenvergebung und die Neubildung von Gemeinschaft
eröffnet das Heilige Mahl Zukunft. Unsere Kirche ist eine Institution
der Erinnerung. Weil aber Erinnerung Zukunft erschließt, setzt sie
Menschen auf die Spur des Lebens.
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist aus diesem
Grund und in diesem Sinne eine charakteristisch christliche Organisation.
Sie steht im Dienst des Erinnerns, sie bearbeitet Vergangenheit, um der
Zukunft willen. Sie wendet sich der Vergangenheit zu, um für die
Zukunft Versöhnung zu stiften. Die Bereitschaft zu eigenverantwortlicher
Lebensgestaltung, also zur Freiheit bestimmt sie, das findet in der Organisationsform
des Freiwilligendienstes seinen prägnanten Ausdruck.
Erinnerung ist nötig
"Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist
verurteilt, sie zu wiederholen". Dieser Satz des spanisch-amerikanischen
Philosophen und Schriftstellers George de Santayana (1863-1952) behauptet
einen fatalen, ja einen fatalistischen Zusammenhang. Ist man wirklich
dazu verurteilt, die Vergangenheit zu wiederholen, wenn man sich ihrer
nicht erinnert? Rennen Menschen wie Hamster im Rad herum und kommen niemals
von der Stelle, wenn ihr Gedächtnis ihnen nicht ihren Ort in der
Geschichte zeigt? Die Welt sähe sehr trostlos aus, wenn Santayana
Recht hätte. So fatalistisch formuliert, spricht daraus ein pessimistischer
Determinismus, den ich nicht glauben mag. Aber ein Wahrheitskern liegt
in seinem Satz: Denn nur wer seine eigene Vergangenheit kennt, kann seine
Gegenwart gut gestalten und sich auf seine Zukunft verantwortlich einstellen.
Ohne die Kenntnis der Geschichte wäre das Leben eine
Lotterie, bei der man in aller Regel verliert. Aber auch wer die Vergangenheit
gut kennt, hat keine Erfolgsgarantie für Gegenwart und Zukunft. Deshalb
möchte ich auch nicht den Satz von Golo Mann unterschreiben, der
- vielleicht in Kenntnis und Abwandlung des Diktums von Santayana - formulierte:
"Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den
Griff bekommen." Wenn die erste Äußerung zu pessimistisch
klingt, könnte man versucht sein, die Fassung von Golo Mann als zu
optimistisch, zu fortschrittseuphorisch zu verstehen - als ob wir durch
die Kenntnis der Vergangenheit, schon eine Garantie dafür hätten,
die Zukunft zu beherrschen. Kann man denn die Zukunft allen Ernstes "in
den Griff bekommen" wollen? Jenseits von Pessimismus und Optimismus
ist die richtige, die realistische Auffassung zu suchen. Sie sagt in ihrem
Kern: Die Kenntnis der eigenen Vergangenheit ist eine Bedingung der Möglichkeit
dafür, dass Leben und Geschichte eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft
gelingen können. Erinnerung ist nötig, aber nicht hinreichend
für ein gelingendes Leben.
Versöhnung ist möglich
Aber es geht Aktion Sühnezeichen im Kern nicht nur
um Erinnerung, sondern zugleich um Versöhnung. Am Anfang stand der
Impuls von Lothar Kreyssig, den Konrad Weiß treffend einen "Propheten
der Versöhnung" nennt. Kreyssig, während des Dritten Reichs
im Widerstand aktiv, wollte vor einem halben Jahrhundert Zeichen der Versöhnung
setzen. Versöhnung sollte durch Erinnerung und durch Aktion möglich
werden. Erinnert werden sollte an die Opfer des nationalsozialistischen
Unrechtsregimes. Erinnerung sollte vor allem durch Begegnungen zu Stande
kommen, Begegnungen von Vertretern der jungen deutschen Generation mit
den Opfern, Hinterbliebenen und Nachkommen der Leidtragenden des Nationalsozialismus,
die in vielen Ländern Europas und der Welt lebten, zum Teil heute
noch leben. Lothar Kreyssig wollte "Sühnezeichen" aufrichten.
Diese sollten in vielen Ländern der Welt entstehen, gebaut von jungen
Freiwilligen. Versöhnung durch Erinnerung - das war Kreyssigs Absicht.
Aber ist so Versöhnung möglich? Dann könnten Menschen sie
ja herstellen, gleichsam aus eigener Kraft produzieren. Diese Vorstellung
lag Kreyssig fern. Er knüpfte vielmehr an eine Bibelstelle aus dem
Zweiten Korintherbrief an:
"Denn Gott war in Christus und versöhnte die
Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und
hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir
nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten
wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er
hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde
gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott
gilt." (2. Kor 5,19-21)
Aus diesem Bibelwort wird klar, dass es Gott selbst ist,
der Versöhnung schafft, indem er in Christus handelt. Wir Menschen
aber sind aufgefordert, uns mit ihm versöhnen zu lassen, also seine
Versöhnungstat anzunehmen und sie in unserem Leben wirken zu lassen.
Das versöhnende Handeln Gottes war somit für Kreyssig das Fundament,
menschliches Handeln aber darin begründet und davon abgeleitet. Von
dieser theologischen Grundüberzeugung ausgehend, schrieb Kreyssig
den Text, der im Jahr 1958 bei der Synode der EKD zum Gründungsaufruf
von Aktion Sühnezeichen werden sollte:
"Wir bitten um Frieden. Wir Deutschen haben den Zweiten
Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmessbares Leiden
der Menschheit verschuldet: Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen
Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das
nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern. Wir haben
vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung
ist ... Wir bitten die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben,
dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln
in ihrem Lande etwas Gutes zu tun; ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche,
ein Krankenhaus oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Sühnezeichen
zu errichten. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen
wir wohl am meisten wehgetan haben ...".
Kreyssigs kurzer Text ist außerordentlich gehaltvoll.
Ich weise nur auf einige, mir besonders wichtige Facetten hin:
a) Die Friedensbitte: Ausgangspunkt ist eine Bitte um
Frieden. Im Jahr 1958 war der Friede alles andere als gesichert. Die Bundesrepublik
Deutschland und die DDR existierten als zwei selbstständige Staaten,
die in unterschiedliche Blocksysteme eingebunden waren. Seit 1956 gab
es in der Bundesrepublik die Bundeswehr; in der DDR bestand die Nationale
Volksarmee. Im Zweifelsfalle hätten beide deutsche Armeen gegeneinander
Krieg führen müssen. An einen vertraglich gesicherten Frieden,
so wie er im Jahr 1990 durch den "Zwei-plus-Vier-Vertrag" zustande
kommen sollte, konnte seinerzeit niemand denken. Außerdem stand
die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Raum. Die EKD-Synode stritt darüber
heftig. Das Resultat war die sogenannte "Ohnmachtsformel". In
ihr wurde festgehalten, dass man unter dem Evangelium zusammenbleiben
wolle, auch wenn man im Blick auf die verteidigungs- und sicherheitspolitischen
Vorstellungen und Handlungsoptionen völlig uneins war. Kreyssigs
Friedensbitte fasste vor diesem Hintergrund eine große Sehnsucht
der beiden Teile des deutschen Volkes auf prägnante Weise zusammen.
b) Schuld und Verantwortung: In deutlicher Anknüpfung
an das Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der EKD aus dem Jahr 1945
wird festgehalten, dass "wir Deutschen" den Zweiten Weltkrieg
begonnen und damit unfassbares Leid verschuldet hatten. Aber Kreyssig
geht noch weiter als die Stuttgarter Erklärung, weil er das Leid
der Juden beim Namen nennt und dessen Verursachung als "frevlerischen
Aufstand gegen Gott" deutet. "Deutsche haben in frevlerischem
Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden
das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern."
Deutlicher kann man es wohl nicht sagen. Schon damals, 1958, gab es ja
eine Generation von Überlebenden, die nicht selbst in das schuldhafte
Geschehen verstrickt war, weil sie als Kinder oder Jugendliche vor 1945
noch zu jung gewesen waren, um beteiligt zu sein. Und es gab bereits Jugendliche,
die das Dritte Reich überhaupt nicht bewusst erlebt hatten. Gehörten
auch sie in die Schuldgeschichte jener Verbrechen hinein? Nicht im Sinn
einer Kollektivschuld, aber in der Chance des Erinnerns und einer daraus
erwachsenden gemeinsamen, generationenübergreifenden Verantwortung
ist das zu bejahen. Heute ist Deutschland, wie vor wenigen Wochen eine
Umfrage vor kurzem ergeben hat , bei der Frage nach einer besonderen Verantwortung
gegenüber den Juden zutiefst gespalten. 47% der Befragten sehen eine
besondere Verantwortung aufgrund der deutschen Vergangenheit, 48% teilen
diese Auffassung nicht. Wenn man davon ausgeht - wie Aktion Sühnezeichen
das tut und wie ich es selbst tue -, dass es diese Verantwortung gibt,
dann sollte man in sie jedoch nicht nur nachgeborene Deutsche einbeziehen,
sondern beispielsweise auch Zuwanderer. Wer sich auf den kulturellen Zusammenhang
des Lebens in Deutschland einlässt, tritt in irgendeiner Weise auch
in diese Verantwortungsgemeinschaft ein. So hat er beispielsweise an der
Pflicht Anteil, dass menschenverachtende, extremistische Haltungen und
Handlungen gerade in Deutschland keinen Platz mehr haben dürfen.
Es ist daher nur folgerichtig, dass bei Aktion Sühnezeichen auch
Freiwillige mit Migrationshintergrund Dienst tun.
c) Das Versöhnungsangebot: Kreyssig geht davon aus,
es gebe deshalb noch immer keinen Frieden, weil "zu wenig Versöhnung"
sei. Frieden beruht auf Versöhnung, erklärt er, und stützt
sich dafür auf das bereits zitierte Paulus-Wort aus dem zweiten Korintherbrief.
Die Zusage der Versöhnung hat jedoch eine Entsprechung und Folge
im menschlichen Handeln. Die Menschen müssen sich versöhnen,
sie müssen einander Schuld vergeben. Wie soll dies möglich sein?
Wie kann dies geschehen angesichts des ungeheuren Leids, das durch das
Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg über die Menschen und Völker
gebracht worden ist? Hier setzen Kreyssigs konstruktive und kreative Überlegungen
ein.
d) Zeichen bauen Brücken: Kreyssig schlägt vor,
diejenigen Völker, denen die Deutschen Unrecht getan haben (ausdrücklich
genannt werden Polen, Russland und Israel) zu bitten, dass sie jungen
Deutschen gestatten, in ihrem Lande etwas Gutes zu tun. Es soll etwas
Zeichenhaftes aufgebaut werden, sei es ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche,
ein Krankenhaus oder was auch immer vor Ort notwendig sein mag. Das Ergebnis
ihrer Anstrengung soll als ein "Sühnezeichen" dienen. Der
Begriff "Sühnezeichen" ist gewiss von Anfang an umstritten
gewesen. Heutigen Freiwilligen muss man das Wort oft erst mühsam
erklären. Sicher ist: Der Völkermord des Zweiten Weltkrieges
kann niemals von Menschen gesühnt werden. Aber Zeichen setzen, das
musste damals, das muss auch heute noch möglich sein. Es ist aber
nicht nur möglich, sondern seit 1958 tausendfach, ja zehntausendfach
geschehen. Junge Freiwillige haben in vielen Ländern Zeichen für
Versöhnung, für Sühne gesetzt. Schon bevor die Ostdenkschrift
der EKD 1965 erschien, hat die Arbeit von Aktion Sühnezeichen den
Geist geatmet, der dann auch in der Denkschrift zum Ausdruck kam. Bundesaußenminister
Fischer hat kürzlich in seiner Rede anlässlich der Einweihung
der Jugendbegegnungsstätte Beit Ben Yehuda - Haus Pax zu Recht darauf
hingewiesen, wie wichtig dieses Brückenbauen insbesondere zwischen
Deutschland und Israel ist. Auch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel 1965 ist
vor diesem Hintergrund zu sehen. Tragfähige Brücken sind entstanden;
dazu haben die Zeichen der Aktion Sühnezeichen entscheidend beigetragen.
Sie können als Pfeiler des Vertrauens dienen, wenn wir in diesen
Wochen - wieder - darauf hoffen, dass der Frieden im Nahen Osten wirkliche
voran kommt.
Vergangenheitsfixiert oder zukunftsorientiert?
In Gesellschaft und Kirche erleben wir gegenwärtig
einen Paradigmenwechsel. Tradition allein garantiert keine Zukunft mehr.
So steht der Beginn des Jahres 2005 unter den Vorzeichen, dass eine der
tragenden Säulen unserer sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitslosenhilfe,
aufgehoben wurde. Eine tiefgreifende Neuorientierung bahnt sich auch in
unserer Kirche an. In der nüchternen Sprache der Finanzplanung hat
der Rat der EKD diese Neuorientierung so formuliert:
"Angesichts der strukturellen Neugestaltung wird
zukünftig die Begründungspflicht umgekehrt: Nicht mehr die lange
oder gute Tradition einer Aufgabe ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige
Bedeutung. Bei jeder finanziellen Unterstützung durch die EKD muss
die Frage überzeugend beantwortet werden können, ob es für
die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausragender Bedeutung
sei, diese Aufgabe fortzusetzen [...]".
Die Aktion Sühnezeichen blickt auf eine wichtige
Geschichte von einem halben Jahrhundert zurück. In dieser Geschichte
ist sie eng mit der EKD verbunden. Eine Zukunftsgarantie ergibt sich daraus
nicht. Es muss offenbar neu danach gefragt werden, worin die Zukunftsbedeutung
dieser Initiative besteht. Ich sehe diese Zukunftsbedeutung vor allem
in zwei Hinsichten:
Erstens verkörpert Aktion Sühnezeichen eine
christlich motivierte und moralisch bedeutsame Erinnerungskultur, die,
wie wir sahen, um der Gestaltung der Gegenwart wie um der Verantwortung
für die Zukunft willen von großer Bedeutung ist.
Zweitens antizipiert die Aktion Sühnezeichen in einem
wichtigen Feld die Zukunft von Kirche und Gesellschaft, indem sie dem
Ausbau der internationalen Freiwilligenarbeit hohe Priorität zuerkennt.
Dazu eine erläuternde Überlegung.
Wenn die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben oder ausgesetzt
wird und es ist nicht auszuschließen, dass das eine oder das andere
in den kommenden Jahren so geschieht, wird damit auch der Zivildienst
in seiner bisherigen Form an sein Ende kommen. Die wegfallenden Zivildienstplätze
lassen sich nicht alle durch reguläre Arbeitsplätze ersetzen.
Es ist allerdings denkbar, den Bereich des Freiwilligendienstes über
das bisherige Maß hinaus deutlich zu erweitern. Dazu ist es freilich
notwendig, den Freiwilligen bessere Bedingungen und Perspektiven zu eröffnen,
indem die Bedeutung des Freiwilligendienstes für Ausbildung und Berufsbiographie
verstärkt wird.
Im Jahr 2002 wurde, ausgehend von einem durch das Kirchenamt
der EKD moderierten Runden Tisch, die "Konferenz Evangelischer Freiwilligendienste"
gegründet, der außer der Aktionsgemeinschaft Dienst für
den Frieden (und mit ihr auch die Aktion Sühnezeichen) auch der Evangelische
Entwicklungsdienst, die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend, das
Diakonische Werk der EKD sowie einige Missionswerke angehören. Weil
evangelische Freiwilligendienste von ihrem Grundansatz her auf dem Gedanken
der Freiheit eines Christenmenschen basieren, weil sie ferner hervorragende
Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen bereitstellen und weil
sie schließlich auch soziale und diakonische Zwecke erfüllen,
ist die künftige Ausweitung dieses Bereichs sehr zu wünschen.
Das gilt ganz besonders für das Engagement von Freiwilligen in der
Friedens- und Versöhnungsarbeit. Denn es ist von großer Bedeutung,
für welche Ziele Freiwillige sich einsetzen. Es ist deshalb sehr
zu begrüßen, wenn das freiwillige Engagement junger Menschen
sich den Aufgaben von Versöhnung und Frieden widmet, die durch eine
Vielzahl von Entwicklungen zusätzliche Bedeutung gewonnen haben.
Versöhnungsdienste sind heute unter anderem deshalb wichtig, weil
wir unsere Gedanken gerade nicht vom Geist des 11. September beherrschen
lassen dürfen. Seit ihrem friedensethischen Beitrag "Schritte
auf dem Weg des Friedens" (1. Aufl. 1994, 3. Aufl. 2001) hat die
EKD dies immer wieder betont, und die Ökumenische Dekade zur Überwindung
von Gewalt hat uns auf diese Aufgabe verpflichtet.
Margot Käßmann hat vor einiger Zeit in einem
wichtigen Text zur ökumenischen Dekade Überlegungen vorgetragen,
die ich mir ganz zu eigen mache. Sie lassen sich sehr gut auf die Zukunft
von Aktion Sühnezeichen beziehen. Ich zitiere daraus:
"Wer den Kreislauf der Gewalt durchbrechen will,
muss sich mit der Geschichte beschäftigen. Generationen oder sogar
Jahrhunderte später bringen historische Erinnerungen oftmals neue
Gewalt hervor. Im [...] Krieg im früheren Jugoslawien zum Beispiel
war die Erinnerung an die Unterwerfung der Serben durch türkische
Truppen in der Kosovo-Schlacht im Jahr 1389 ein Reibungspunkt! Bis heute
wird diese Schlacht als ein Symbol für das Leiden des serbischen
Volkes interpretiert. Was bedeutet es, eine solche Geschichte mehr als
600 Jahre lang weiterzugeben? Die Erinnerung an die Geschichte ist natürlich
wichtig, denn wer die eigenen Wurzeln verliert, verliert auch einen wichtigen
Teil der eigenen Identität. Auf der anderen Seite bleibt die Hoffnung,
aus der Geschichte zu lernen, damit die Zukunft nicht eine Wiederholung
der Vergangenheit ist. Wer hat was wem und wann weggenommen, wer hat die
Ungerechtigkeiten gegenüber einer früheren Generation begangen
- all das kann leicht zu neuer Gewalt und sogar zu Krieg führen,
wenn Menschen nicht begreifen, dass sie aus der Geschichte lernen können.
Der einzige Ausweg aus einem derartigen Kreislauf der Gewalt besteht darin,
der Wahrheit ins Auge zu sehen und um Versöhnung zu ringen."
Der Wahrheit ins Auge sehen und um Versöhnung ringen!
Ist das nicht das Gründungsprogramm von Aktion Sühnezeichen,
auf wenige Worte konzentriert? Eine deutlichere Zukunftsansage kann ich
mir kaum vorstellen.
Aktion Sühnezeichen als internationaler Akteur in
der deutschen Zivilgesellschaft
Die Aktion Sühnezeichen ist kein global player. Aber
sie ist ein internationaler Akteur. Als solcher hat sie sich in der deutschen
Zivilgesellschaft unter anderen, vergleichbaren Organisationen zu behaupten.
In den letzten Jahren hat man viele Hoffnungen auf die "Zivilgesellschaft"
gesetzt, die dank der Aktivierung ehrenamtlicher Ressourcen eine lebendige
Bürgergesellschaft bilden soll. Auch ich selbst erwarte vom zivilgesellschaftlichen
Pluralismus wichtige Beiträge. Wir brauchen eine lebendige Bürgergesellschaft,
die sich Problemlösungen vom Staat nicht einfach vorsetzen lässt,
sondern selbst die richtigen Lösungen sucht. Dabei können die
Kirchen und mit ihnen verbundene Organisationen als Anreger, Impulsgeber
und Akteure eine starke Rolle spielen.
Doch das bloße Vorhandensein von "Nichtregierungsorganisationen"
(NGO's) bildet noch keinen Wert an sich. Jede gesellschaftliche Gruppierung,
die nicht unmittelbar zum politischen System gehört, kann sich als
NGO deklarieren. Ein Spötter hat einmal bemerkt, auch El Kaida wäre
vor nicht allzu langer Zeit noch als "NGO" durchgegangen . Rein
formal betrachtet ist das leider richtig. Sogar als "Freiwilligendienst"
kann ein Zyniker El Kaida sehen - waren die Todespiloten des 11. September
etwa keine "Freiwilligen"? Es reicht eben nicht aus, sich wie
über eine abstrakte Negation als "Nichtregierungsorganisation"
oder über eine formale Struktur als "Freiwilligendienst"
zu definieren. Friedensförderlich sollte eine NGO sein, den Menschenrechten
sollte sie dienen, oder sie sollte bei der Herstellung gesellschaftlicher
Gerechtigkeit oder der Bewahrung der Schöpfung engagiert sein. Es
ist diese spezifische inhaltliche Füllung, die den Charakter der
christlichen Freiwilligendienste bestimmt. Deshalb ist die Freiwilligenarbeit
von Aktion Sühnezeichen vorbildlich. Ihr Mittel zur Verwirklichung
des Dienstes der Versöhnung ist eine inhaltlich sehr konkret an der
Förderung des Friedens und an der Verständigung der Völker
orientierte und pädagogisch hervorragend begleitete Arbeit mit jungen
Freiwilligen.
Zur Internationalität von Aktion Sühnezeichen
gehört seit einigen Jahren auch der spannende Versuch, nicht nur
bilaterale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, sondern auch trinationale
Netze aufzuspannen, so etwa in dem Projekt, in dem deutsche und polnische
Jugendliche zusammen in Großbritannien ihren Dienst leisten. Vier
Augen sehen mehr als zwei, mehrere Perspektivenwechsel stellen vor mehr
Herausforderungen als lediglich ein einziger, trilaterale Gespräche
führen zu einer ganz neuen, eigenen Gesprächskultur. Die Aktion
Sühnezeichen baut so ganz bewusst mit am europäischen Haus und
setzt Vor-Zeichen einer neuen Gesprächskultur.
Die Kirchen sind dabei natürliche Partner von Aktion
Sühnezeichen. Wenn ich von "Kirchen" spreche, also den
Plural gebrauche, so spiele ich auf die ökumenische Präsenz
von Aktion Sühnezeichen an und auf die Anerkennung, die Ihre Organisation
auch im Raum der römisch-katholischen Kirche findet. Im Hirtenwort
der katholischen Bischöfe vom September 2000 "Gerechter Friede"
wird Aktion Sühnezeichen anerkennend gewürdigt. Ich freue mich
sehr über diese Sicht der katholischen deutschen Bischöfe und
wäre gern auch in anderen Fragen mit ihnen genauso einig. In diesem
Fall gilt uneingeschränkt: Was im katholischen Raum gesagt wird,
wird auch und erst recht in der EKD so empfunden. Und deshalb: Als internationaler
Akteur ist die Aktion Sühnezeichen ein Partner der Kirchen.
Überlegungen zur Zukunft von Aktion Sühnezeichen
Friedensdienste
Erinnerung ist möglich, Versöhnung ist nötig.
Für beides und somit für die Eröffnung von Zukunft steht
Aktion Sühnezeichen. Aber als Organisation steht Ihnen ja auch Ihre
eigene Zukunft bevor. Wie wird sie aussehen? Die EKD kann sie auf dem
Weg in Ihre Zukunft nur begleiten. Dies tun wir in dem Bewusstsein, von
denen Wurzeln her wie im Blick auf die Ziele zusammenzugehören. Verstehen
Sie deshalb meine abschließende Zukunftsüberlegung als Ausdruck
freundschaftlicher Verbundenheit, nicht als abschließendes Urteil
oder gar als Direktive. Mehr als raten kann ich in dieser Frage nicht.
Erstens: Die Geschichte hat gezeigt, dass der Zukunft
nur auf der Spur bleiben kann, wer sich selbst und seiner Vergangenheit
treu bleibt. Aktion Sühnezeichen wird also meines Erachtens gut daran
tun, die vom Versöhnungsgedanken getragene Erinnerungskultur weiterhin
in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu ihrer Sache zu machen.
Zweitens: Die Absicht, die Freiwilligenarbeit weiter auszubauen,
halte ich für richtig, weil auf diesem Wege ganz bewusst Zukunftsfragen
unserer Gesellschaft angegangen werden. Sorgen habe ich allerdings wegen
der Liquiditätsengpässe und des Umfangs der Personalkosten,
die bisher nicht in dem leider nötigen Umfang reduziert werden konnten.
Dauerhaft erhalten kann man nur, was man auch finanzieren kann. In allen
Bereichen kirchlicher Arbeit stehen wir derzeit vor der Aufgabe, den Rückgang
unserer realen Finanzkraft zu verarbeiten und, wo es geht, zu kompensieren.
Zusätzliche finanzielle Spielräume aus Haushaltsmitteln entstehen
in einer solchen Situation nicht, das Gegenteil ist der Fall. Der von
der Aktion Sühnezeichen ins Auge gefasste Weg, die Mitgliederbasis
zu verbreitern, weist nach meiner Überzeugung in die richtige Richtung.
Drittens: Die Organisationen auf dem Feld der Versöhnungs-,
Friedens- und Freiwilligenarbeit sollten die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit
verstärkt nutzen. Die Gründung der Aktionsgemeinschaft Dienst
für den Frieden im Jahr 1968, für die die Aktion Sühnezeichen
mit verantwortlich war, war seinerzeit ein Qualitätsgewinn, und ein
entscheidender Schritt in die Zukunft. Warum sollte man sich nicht verstärkte
Formen der Zusammenarbeit bis hin zu Bürogemeinschaften vorstellen.
Eine Bündelung der Kräfte braucht die Vielfalt der Initiativen
nicht zu lähmen. Muss es wirklich christliche Friedensdienste geben,
die pro Jahr nur einige wenige Freiwillige entsenden, aber dafür
ein eigenständiges Büro benötigen? Auch landeskirchliche
Arbeitsstellen sollten sich eher in einen größeren Verbund
einfügen, statt unter den heutigen Bedingungen eigenständig
Neues aufbauen. Aus diesem Grund begrüße ich die Gründung
der Konferenz Evangelischer Freiwilligendienste. Koordination und Kooperation
sind gefragt, Konkurrenz und Doppelarbeit müssen abgebaut werden.
Auf diesem Weg sollten Sie nach meiner Meinung weiter-, ja vorangehen.
Viertens: Die Erweiterung der Arbeit von Aktion Sühnezeichen
auf das Gebiet der Ukraine sehe ich als einen bemerkenswerten und wichtigen
Schritt. Wichtig ist es nicht nur, weil deutsche Soldaten im 2. Weltkrieg
vielen Menschen in der Ukraine entsetzliches Leid zugefügt haben,
sondern auch im Blick auf die Zukunft und das Zusammenwachsen Europas.
Wer die Zukunft Europas in den Blick nehmen will, kann an der Ukraine
nicht vorbeischauen. Das gilt nach dem Gelingen der "orangenen Revolution"
erst recht. Ich sage das, obwohl ich weiß, dass die Aktion Sühnezeichen
nicht in allen Ländern dieser Welt präsent sein kann. Neue Initiativen
werden vermutlich mit Konzentration oder auch mit dem Rückzug von
anderen Orten verbunden sein. Ich wünsche Ihnen die Weisheit und
den Mut zu den in diesem Feld notwendigen Entscheidungen.
Fünftens: Die Eigenständigkeit der Friedensdienste
und somit auch von Aktion Sühnezeichen gegenüber der verfassten
Kirche ist aus meiner Sicht grundsätzlich positiv zu werten. Diese
Eigenständigkeit ermöglicht einen offenen und partnerschaftlichen,
gegebenenfalls auch kontroversen Dialog. Wir können voneinander lernen
und gemeinsam unseren Horizont erweitern.
Das ist wichtig für unseren Friedensauftrag und unserem
Dienst der Versöhnung - und damit für unsere Kirchen insgesamt.
Deshalb wünsche ich Ihnen gutes Gelingen, wenn Sie
weiterhin der Zukunft auf der Spur sind - und in allen Vorhaben Gottes
Segen.
Quelle: www.ekd.de
Rede geahlten am 24. Februar 2005 auf dem Jahresempfang
von ASF. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) setzt sich seit
1958 im Rahmen von kurz- und langfristigen Freiwilligendiensten für
Frieden, Verständigung und Menschenrechte ein und sensibilisiert
die Gesellschaft für die NS-Geschichte. Derzeit sind durchschnittlich
180 ASF-Freiwillige für ein Jahr in Projekten mit Holocaustüberlebenden,
sozial Benachteiligten, Menschen mit Behinderungen sowie in der historischen
und politischen Bildung tätig. ASF-Projekte gibt es in Belgien, Deutschland,
Frankreich, Großbritannien, Israel, den Niederlanden, Norwegen,
Polen, Russland, Tschechien, den USA, der Ukraine und Weißrussland.
An den rund 20 ASF-Sommerlagern nehmen jedes Jahr 350 Jugendliche aus
mehr als zehn Ländern teil.
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