Verwirrte Sinne, verlorene Namen
Nur ein paar Wochen noch, dann wird das Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht.
Eine Wanderung durch diese Selbsterfahrungslandschaft, die von der Gegenwart
erzählt und von der Geschichte schweigt
von Hanno Rauterberg
Nichts reckt sich zum Zeichen, nichts bläht sich
zum Symbol. Kein Mahn- und kein Warnmal, kein Schmach-, kein Angst-, kein
Wundmal und auch kein Mal des Sündenstolzes. Wie also soll man ihn
nennen, diesen Ort zwischen Brandenburger Siegestor und den Siegestürmen
der Konzerne am Potsdamer Platz? Nicht mal vom wogenden Feld der Stelen
mag man sprechen. Denn zu sehen ist ja nur ein Haufen grauer großer
Steine, weit und wirr verstreut, unaufdringlich, unscheinbar. Wieder eine
dieser Endlosbaustellen, denkt wohl mancher Autofahrer beim Vorüberbrausen.
Und vielleicht haben sie ja Recht. Vielleicht ist dies wirklich ein Ort,
der nichts vorstellt, an dem nichts fertig ist und mit dem wir nicht fertig
werden. Auch nicht, wenn die Absperrzäune fallen.
Bereits in ein paar Tagen wird der letzte Betonquader
auf sein Fundament gehievt werden, Wolfgang Thierse wird kommen, der Bundestagspräsident,
und Peter Eisenman, der Architekt. Und natürlich einige Dutzend Schreiber
und Filmer. Dann könnte es eröffnet werden, dieses Antimal,
das doch Mahnmal heißt, Mahnmal für die ermordeten Juden Europas.
Nur wenige Pflastersteine fehlen noch und auch das Museum unter dem Denkmal,
der tief eingegrabene "Ort der Information" mit seinen vier
Ausstellungsräumen, wird bereits Mitte kommenden Monats ausstaffiert
sein. Der 27. Januar dann, an dem die Deutschen ihres Völkermords
gedenken, wäre das richtige Datum für die Einweihung. Doch wird
er wie gewöhnlich verstreichen. Erst am 10. Mai, zum Kriegsende,
zu den Gedenktagen der Befreiung, darf sich die Steinwüste mit Menschen
beleben. So, als sei auch das Eröffnen eine Befreiung, als komme
mit dem Mahnmal die Erlösung.
Merkwürdig, diese symbolpolitische Instinktlosigkeit,
auch wenn sie dem Ort kaum etwas anhaben wird. Er taugt nicht zum Staatsakt,
zur Kranzabwurfstelle. Es gibt dort keinen Platz für so etwas, nicht
im Museum, nicht zwischen den Stelen. Viel zu eng stehen sie, viel zu
dicht. Sie folgen nicht der Logik des Zeremoniells, nicht der Ökonomie
der Aufmerksamkeit. Zu sehen ist, dass nichts zu sehen ist. Und damit
ist schon viel gewonnen.
Eisenman hat auf alles Großtuerische verzichtet,
hat kein schlechtes Gewissen aus Stein gebaut, nichts, das uns tagein,
tagaus zur Gedenkpflicht riefe. Bei ihm bleibt uns alle Freiheit, wir
kommen offenen Auges. Und erblicken, weil die Betonquader sich in eine
tiefe Senke wegducken, zunächst nur den Geschichtsmischmasch drumherum.
Wo einst Goebbels seine Dienstvilla hatte und einen Bunker, da mäandern
DDR-Plattenbauten, die verzickten Botschaftsgebäude der Bundesländer
und die Rückseiten vom Hotel Adlon und von der kinderbunten Akademie
der Künste. In diesem Wirbelsturm der Gegensätze wirkt die Weite
des Stelengeländes, groß wie drei Fußballfelder, beruhigt,
übersichtlich, ja, eingewachsen. Einige Kiefern scheinen vom Tierpark
herübergewandert zu sein. Hier gedeiht ein Strauch zwischen den Steinen,
dort ein Bäumchen. Fast surreal dies Bild.
Es zieht uns hinein, hält unseren Blick. Und plötzlich
wird das vermeintlich öde Auf und Ab der Stelen zum lebendigen Spiel
der Formen und Farben, kein Quader wirkt mehr wie der andere. Manche neigen
sich ein wenig, und so bricht sich das Licht auf den Oberkanten in vielen
Schattierungen, mal kieselhell, mal schieferdunkel. Aus dem surrealen
Bild wird ein kubistisches, ein Flackern der Rhomben. Das Verlangen wächst,
sich auf einen dieser Steine niederzulassen, dort, wo sie so hoch sind
wie Gartenbänke. Sie anzufassen, ihre Samtglätte zu spüren
und ihre scharfen Kanten. Die Kräuselmuster zu bestaunen, von Staub
und Regenwasser hinterlassen. Und dann weiterzugehen, tiefer hinein in
die Senke. Bald schon stehen uns die Quader bis zur Hüfte und dann,
es geht ganz rasch, wachsen sie uns über den Kopf. Es ist ein Versinken,
ein Wegtauchen ins Ungewohnte. Von Ferne sehen wir noch den Bus fahren,
doch wir hören ihn nicht mehr. Die Steine machen taub, sie schlucken
das Alltägliche. Die Stadt da draußen ist nur noch dumpfes
Brodeln. Nun gelten die Regeln der Stadt hier drinnen.
Und die sind weit weniger beschaulich, als von außen
angenommen. Nicht dass dies ein babylonisches Dickicht wäre. Im Gegenteil,
es herrscht die reine Geometrie. Wie Mannheim, wie Manhattan wird auch
diese Stelenstadt von einem Schneisenraster durchzogen, und so kann niemand
verloren gehen. Rechts oder links, vorn und hinten, immer bleibt der Blick
auf die Bauten ringsum in Ausschnitten frei. Dennoch fühlt man sich
schnell seekrank hier unten, anlehnungsbedürftig und haltlos. Immer
tiefer zieht es einen hinein in die Mulde (bis auf 2,4 Meter unter Straßenniveau),
und immer höher wachsen die Betonscheiben (bis auf fast 5 Meter).
Auch sie sind ganz streng und klarkantig, sind exakt so schmal wie die
Schneisen (95 Zentimeter) und von stabiler Länge (238 Zentimeter).
Und doch kippen einige aus der Ordnung, ganz sanft, nur ein paar Grad.
Genug aber, um uns zu bedrängen und unser Normbewusstsein anzukratzen.
Vorsichtig, jeden Schritt wägend, gehen wir voran - oder geht es
mit uns?
Der Boden bringt das Gewohnte vollends aus dem Lot, er
schlägt Wellen und buckelt, strebt aufwärts, dann gleich wieder
in die Seitenlage. Auch wenn alles sorgsam, aseptisch fast, gepflastert
ist, bewegen wir uns wie auf kabbeliger See und können uns nicht
mal aneinander festhalten, dafür sind die Wege zu schmal. Hier bleibt
jedem nur der Alleingang, jeder muss für sich entscheiden, um welche
Ecke er biegt, welche Richtung er wählt. Ein Ziel ist nicht auszumachen,
es zählt allein der nächste Schritt. Die reinste Kontemplation,
könnte man meinen, doch Irrtum. Immer wieder müssen wir uns
an anderen vorbeihangeln, wie in einem überfüllten Zug. Und
weil wir weit sehen, aber nichts überblicken, scheint hinter jeder
Ecke die Gefahr des Zusammenpralls zu lauern.
Unweigerlich kommt irgendwann die Frage, was das Ganze
bloß soll. Und warum überhaupt diese Betonblöcke hier
herumstehen. Skeptisch umstreichen wir sie, versuchen ihnen etwas zu entlocken.
Vergeblich. Sie sind so glatt, so edel vergütet, dass ihnen kein
Sinn anhaften will. Manchen erinnern sie womöglich an die Megalithkultur
mit ihren Steinstumpen, etwa in der Bretagne. Andere denken an den mit
Quadern übersäten Friedhof am Ölberg in Jerusalem. Doch
wollen solche Kurzschlüsse zu der industriellen Perfektion der Stelen
nicht passen und verlieren sich in ihrer unüberschaubaren Vielzahl
und peniblen Reihung. Nein, ein Zeichen mögen sie nicht sein. Höchstens
ein Nicht-Zeichen, ein Hinweis darauf, dass hier, wo doch von Vergangenheit
die Rede sein müsste, über das Vergangene nichts zu erfahren
ist. Dass nicht Geschichte gegenwärtig wird, sondern Gegenwart. Keine
Erinnerungslandschaft entstanden ist, sondern Erfahrungslandschaft.
In dieser werden wir nicht auf ein Drittes verwiesen,
sondern in lauter Paradoxien verwickelt: werden durch Sicherheit verunsichert,
bedrängt durch Weite, verwirrt durch Klarheit. So sind wir dankbar,
am Ende dem Steinmeer zu entsteigen, die Aufsicht zurückzugewinnen.
Die Welt zerfällt nicht länger in links und rechts, wir können
den Blick schweifen lassen, die Perspektive frei wählen.
Eine solche Inszenierung mag einem banal vorkommen, dem
Holocaust-Gedenken völlig unangemessen. Doch muss man Eisenman zugute
halten, dass er mit seiner Performance-Kunstlandschaft, die stark an die
Wahrnehmungsexperimente der sechziger und siebziger Jahre erinnert, in
keine der Klischee- und Moralfallen getappt ist. Nur zu leicht gerät
ja das Erinnern zum hohlen Ritual, zumal die Geschichte des "Dritten
Reichs" uns stark entrückt. Dem setzt Eisenman den Versuch einer
neuen Unmittelbarkeit entgegen. Erinnerung, das ist für ihn eine
Wanderung mit offenem Ausgang, eine körperliche Erfahrung, in der
wir uns selbst und damit der Geschichte wieder nahe kommen.
Gewiss, da schwingt die eher vage Hoffnung mit, Kunst
könne Zeiten überbrücken und Menschen umkrempeln. Aber
auch für den, der diesem Glauben nicht anhängt, bilden sich
im Gehen, Tasten, Sehen ungeahnte Eindrücke. Und vielleicht werden
sie für manche am Ende zur lebendigen historischen Metapher: Dass
Menschen vor unseren Augen im Unentwirrbaren abtauchen. Dass Harmlosigkeit
umschlägt ins Bedrohliche. Dass auch das Rationale einen irrationalen
Unterstrom hat.
So ist das mit Eisenman, er mutet uns die Offenheit der
Kunst zu. Und nimmt es dafür in Kauf, dass vielleicht manche ihre
Stelenwanderung missverstehen und glauben, hier werde die dunkle jüdische
Erfahrung nachgestellt und sie dürften sich selbst als Opfer fühlen.
Einige werden schauerromantisch angerührt sein, andere Eisenmans
System- und Vernunftkritik loben; alle aber werden gezwungen sein, eine
eigene Form der Annäherung zu suchen, im realen wie im übertragenen
Sinne. Wir müssen selbst entscheiden, wie weit wir uns in diese Stelen-
und Seelenlandschaft vorwagen und für welche Lesart wir uns entscheiden.
Und so wird wohl aus dem vermeintlichen Sinnbild ein Selbstbild der Deutschen
werden. Wie unter einem Brennglas kann sich zeigen, wie wir uns der Geschichte
nähern. Ob sie uns kalt lässt, uns ergreift oder ob die Erlebnis-
und Sportgesellschaft siegt und die Stelen fürs Picknick herhalten
müssen oder um von einem Quader zum nächsten zu hüpfen.
Ganz allerdings ist die Erinnerung doch nicht ins Belieben
gestellt. Schließlich gibt es den Ort der Information, und der führt
uns den Holocaust sehr bildlich vor Augen. Auch hier ist das Wogen des
Irrationalen noch zu spüren, die Decke wellt sich, und die Stelen
der Oberwelt wachsen in die Unterwelt hinab. Doch der hermetische Beton
bricht hier auf und wird zum Schaukasten, zeigt vernichtete Familien,
verlorene Namen. Ohne dies Aufklärende unten wäre das Ungeklärte
oben nur ein Mythenfeld. Störend wirken allein die sechs Treppen,
die alle in die Stelenlandschaft münden und mit ihren Gittern das
minmalistische Spiel der Schneisen unterbrechen. Ebenso wie der Fahrstuhlturm,
der dem Ungerichteten so etwas wie Richtung gibt.
Doch ist das kein großer Schaden. Eisenmans steinernes
Gefilde wird auch so ein Eigenleben führen. Viele Fragen, viele Bedenken
können aus ihm aufsteigen. Und mit Glück wird es wirklich unfertig
bleiben, eine Baustelle deutschen Erinnerns.
DIE ZEIT, 9.12.2004
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