"Ich war ein Nichts"
Der amerikanische Architekt Peter Eisenman über seine jüdischen Wurzeln, die Angst vor dem Bauen und die therapeutischen Wirkungen seines Holocaust-Mahnmals

DIE ZEIT: Nun steht das Mahnmal, nach langen Debatten und viel Streit. War es das alles wert?

Peter Eisenman: Na, hoffentlich wird es noch viel mehr Streit und Debatten geben. Wenn plötzlich alle froh und glücklich über das Mahnmal wären, hätte ich ja etwas falsch gemacht.

ZEIT: Sie wollen uns aufstacheln?

Eisenman: Aufstacheln nicht, aber beunruhigen. Vielleicht so wie uns ein Bild von Caspar David Friedrich beunruhigen kann. Es ist schön, doch zugleich hat diese Schönheit auch etwas Sonderbares. Man kann sich darin verlieren und ein Gefühl des Alleinseins haben. Eben diese Erfahrung birgt auch das Mahnmal. Wer das Stelenfeld durchwandert, verliert Richtung und Ziel und vielleicht auch seine Gewissheiten. Verstehen Sie, in unseren Köpfen schwirren lauter Fotos und Filme über den Holocaust herum. Das Mahnmal versucht, die Macht dieser Medienbilder zu brechen. Es versucht, die Hegemonie des Visuellen zu überwinden, es setzt auf primäre körperliche Erfahrung, auf Affekte.

ZEIT: Liegt nicht gerade darin eine Gefahr? Dass man sich im Mahnmal fühlt wie in einem x-beliebigen Irrgarten oder gar wie in einer Geisterbahn?

Eisenman: Ich glaube nicht. Aber ich kann es auch nicht ausschließen. Die Erfahrung des Mahnmals wird etwas Unvorhersehbares sein, das macht seine Stärke aus.

ZEIT: Wäre es nicht noch stärker, wenn es weniger abstrakt daherkäme?

Eisenman: Es wäre falsch, wenn die Schrecken des Holocausts zu einem erkennbaren Symbol erstarren würden, zu etwas, das wir verstehen und in unsere Psyche einordnen können. Es gibt da keine Wahrheit zu verkünden, keinen Sinn zu verschreiben. Wir können das, was geschehen ist, nicht begreifen. Es macht uns hilflos. Und von dieser Hilflosigkeit lässt sich im Mahnmal etwas erfahren.

ZEIT: Wie plant man so etwas - eine Architektur ohne Zeichen, ohne Symbole, ohne Sinn?

Eisenman: Da hat uns der Computer wunderbar geholfen. Wir haben ein paar Grunddaten eingegeben, und dann hat er zwei unterschiedliche und ganz zufällig geformte Flächen ausgespuckt. Diese beiden Flächen haben wir übereinander gelegt und sie durch die Stelen miteinander verbunden. Die eine Fläche wurde so zum Boden des Mahnmals, die andere markiert die Oberkante der Stelen.

ZEIT: Das heißt, Sie haben beim Entwerfen viel Kontrolle an den Computer abgeben. Sie haben den Zufall zum Prinzip gemacht.

Eisenman: Ja, es ist eine Möglichkeit, den herkömmlichen Vorstellungen von Architektur zu entkommen und etwas ganz anderes entstehen zu lassen. Verstehen Sie, es ist die Andersartigkeit, die Differenz, auf die es mir ankommt.

ZEIT: Nach diesem Anderen suchen Sie in vielen Ihrer Entwürfe. Stets wollen Sie alle Erwartungen enttäuschen und etwas Unbenennbares bauen. Sie graben ihre Häuser ein, sie lassen Figur und Fläche ineinanderlaufen, setzen auf Verstörung - alles ganz ähnlich wie beim Mahnmal. Fast könnte man meinen, es sei für Sie ein ganz normales Bauwerk.

Eisenman: Ja und? Meinen Sie, das sei unangemessen angesichts des Themas Holocaust?

ZEIT: Das könnte es zumindest sein.

Eisenman: Sie glauben, meine Suche nach dem Andersartigen sei eine Art Fetisch. Aber da täuschen Sie sich. Meine Prinzipien sind zwar meist dieselben, ich versuche, die üblichen Typologien zu sprengen und will mit der Vorstellung aufräumen, ein Haus müsse immer vier Wände haben. Dennoch sehen alle meine Bauten anders aus und erzeugen auch andere Erfahrungen. So ist für mich auch das Mahnmal ein ganz unverwechselbares Projekt, schon allein aus biografischen Gründen.

ZEIT: Weil Sie aus einer jüdischen Familie stammen.

Eisenman: Ja, und diese Abstammung ist mir durch das Mahnmal erst so richtig bewusst geworden. In meinen Jugendjahren fühlte ich mich nicht als Jude, meine Eltern waren assimiliert. Wir sind nie in den Tempel gegangen, und natürlich gab es bei uns zu Weihnachten einen Tannenbaum. Dennoch spüre ich so etwas wie eine jüdische Empfindsamkeit. Und die hat sich durch meine Erfahrung mit diesem Projekt noch gesteigert.

ZEIT: Was meinen Sie damit?

Eisenman: Ich fühle mich oft fremd in meiner Stadt und in meinem Land, so als lebte ich in einer Art Diaspora. Ich fühle mich nirgendwo mehr daheim. Und ich mag dieses Gefühl.

ZEIT: Aber woher rührt dieses Gefühl, wenn Sie nicht als Jude erzogen wurden?

Eisenman: Ach, es gab genug Leute, die mich meine Herkunft haben spüren lassen. Während der dreißiger Jahre war der Antisemitismus in den USA sehr stark, vor allem in der Mittelschicht. 1942, da war ich in der vierten Klasse, teilte mir mein bester Freund mit, ich dürfe ihn nicht mehr zu Hause besuchen, weil ich ja jüdisch sei. Wir waren dann noch acht Jahre lang zusammen in derselben Klasse, aber ich habe nie wieder mit ihm gesprochen. Ich war so verletzt. Er hat sich nie entschuldigt. Tja, was soll ich sagen, natürlich beeinflussen mich solche Erfahrungen bis heute.

ZEIT: Sie meinen, in Ihrer Suche nach dem Andersartigen, dem Differenten?

Eisenman: Damals wollte ich natürlich so sein wie alle anderen. Es war mir furchtbar peinlich, als meine Eltern einen 52er Studebaker mit der neuen Form von Raymond Loewy kauften, denn die Eltern meiner Freunde fuhren alle Buick. Auch sonst versuchte ich, nicht aufzufallen. Ich war ein Nichts. In der Schule gab ich falsche Antworten, sodass niemand sagen konnte, ich sei ein schlauer Jude.

ZEIT: Dennoch sind Sie später Architekt geworden, jemand, der sich exponiert.

Eisenman: Ja, das war aber eher ein Unfall. An der Uni hatte ich Chemiekurse belegt, weil mein Vater Chemiker war. Was ich selbst wollte, wusste ich lange Zeit überhaupt nicht. Eines Tages lernte ich dann jemanden im Studentenheim kennen, der Architekt werden wollte. Bis dahin hatte ich noch nicht mal das Wort Architektur gehört. Ich war ungeheuer begeistert von den Modellen und Zeichnungen, an so etwas hatte ich als Junge immer meine Freude gehabt. Also ging ich zu meinen Eltern und sagte: Passt auf, ich werde Architekt. Sie sahen mich an, als wäre ich verrückt. Und mein Vater meinte, das sei doch wieder einer meiner Tricks. Aber ich sagte, nein, ich werde Architekt. Es war die erste wichtige Entscheidung meines Lebens. Von dem Moment an war ich ein anderer Mensch.

ZEIT: Also kein Unfall, eher ein Glücksfall.

Eisenman: Ja, die Architektur hat mir zu einem starken Ich verholfen, wenn man so will.

ZEIT: Allerdings haben Sie lange Zeit nichts gebaut, sondern sich zum Theoretiker und Architektur-Organisator entwickelt. Warum eigentlich?

Eisenman: Ich habe von Anfang an gebaut, nur ist da ziemlich viel schief gelaufen. Als ich 1956 beim Militär in Korea war, durfte ich ein Kasino planen. Ausgerechnet bei der Eröffnung - sogar der General war gekommen - blies dann ein fürchterlicher Monsun. Das Dach stürzte in sich zusammen. 1959 habe ich für die Cornell-Universität eine Wohnungsanlage entworfen, musste aber feststellen, dass der Entwurf doppelt so teuer wurde wie vorgesehen. Ich habe New York verlassen und bin nach Cambridge gezogen.

ZEIT: Sind Sie in die Architekturtheorie geflüchtet?

Eisenman: In England wurde mir bewusst, dass Architektur eben nicht nur eine praktische Kunst ist, sondern dahinter immer eine Ideenwelt steckt.

ZEIT: Dennoch hätten Sie natürlich weiterhin bauen können, was Sie nicht taten.

Eisenman: Vielleicht hatte ich Angst vor dem Scheitern. Vielleicht fühlte ich mich noch nicht bereit für das Bauen. Ich musste erst verstehen, was ich da eigentlich machte.

ZEIT: Hilft denn die Theorie beim Entwerfen?

Eisenman: Überhaupt nicht. Das geht eher intuitiv. Manche Ideen fallen mir unter der Dusche ein oder sonstwo. Natürlich spielen bestimmte theoretische Überlegungen mit hinein, aber wenn die Theorie nicht funktioniert, werfen wir sie raus.

ZEIT: Das heißt, Ihre Bücher haben mit Ihren Häusern nur wenig zu tun?

Eisenman: Ich schreibe, weil ich während des Schreibens viel über meine Arbeit lerne. Genauso ist es mit der Lehre: Ich spreche mit meinen Studenten, und plötzlich kommt eine neue theoretische Idee aus mir heraus. Ich setzte mich also nicht bewusst hin, um mir etwas Theoretisches auszudenken. Vielmehr lasse ich es einfach fließen. Ich bin das, was C. G. Jung einen intuitiven Denker-Typus nennt. Das unterscheidet mich auch von vielen anderen Architekten, von Gehry zum Beispiel. Ich bin kein Stararchitekt.

ZEIT: Aber Sie werden doch als solcher gehandelt.

Eisenman: Ich bin aber anders, nicht besser. Weiß auch nicht, warum. Ich bin in jedem Fall anders als Koolhaas, Hadid oder Libeskind.

ZEIT: Inwiefern?

Eisenman: Na, schauen Sie sich doch hier im Büro einmal um. Es ist klein und bescheiden mit vielen Büchern und Magazinen.

ZEIT: Ihre Bücher heben Sie ab von Ihren Kollegen?

Eisenman: Wenn Palladio nicht seine berühmten Bücher geschrieben hätte, würden wir wohl nichts mehr von ihm wissen. Wenn es von Corbusier nicht Vers une architecture gäbe, würde kein Mensch seine kleinen weißen Häuschen zur Kenntnis nehmen. So etwas haben ja damals viele gebaut. Alle großen Architekten sind groß dank ihrer Bücher, sogar Mies van der Rohe hatte ein Magazin. Ich schreibe, um Teil einer künftigen Kultur zu sein.

ZEIT: Also um erinnert zu werden?

Eisenman: Ein Teil der Geschichte zu sein ist mir wichtig. Das ist für mich wie bei Faust und dem Teufel. Der Teufel kann einem Reichtum, Liebe und Macht geben, er kann sie aber auch wegnehmen. Die Geschichte aber kann einem keiner wegnehmen. Und zu dieser Geschichte gehört eben auch das Schreiben. Ich glaube, wer als Architekt nicht schreibt, ist kein großer Architekt.

ZEIT: Was ist das für Sie, ein großer Architekt?

Eisenman: Große Architekten haben immer mit den gegebenen Verhältnissen gebrochen. Bramante hat mit Alberti gebrochen und Palladio mit Bramante. Mies hat mit dem 19. Jahrhundert gebrochen und so weiter. Immer gab es radikale Momente der Veränderung, Momente, in denen etwas anderes sichtbar wird.

ZEIT: Ist diese Vorstellung vom Radikalen und Andersartigen nicht überholt? Heute versucht jeder normale Büroturm anders und ungewöhnlich zu sein, und jeder Architekt will eine Ikone bauen.

Eisenman: Denken Sie wirklich? Für mich sieht das meiste um uns herum absolut gleich und ziemlich fade aus. Vielleicht liegt das auch daran, dass die meisten Bauten nicht wirklich an die Autonomie der Architektur glauben.

ZEIT: Autonomie? Ist Architektur denn Bildhauerei, frei von jeder Art Aufgabe?

Eisenman: Für mich beginnt Architektur erst jenseits aller Aufgabenerfüllung. Dort, wo sie als einzigartige Kulturform spürbar wird. Sie ermöglicht uns Erfahrungen, die weder Film noch Literatur liefern können.

ZEIT: Was für Erfahrungen meinen Sie?

Eisenman: Zum Beispiel die Erfahrung, sich verloren zu fühlen.

ZEIT: Da muss ich aber doch nur auf den Alexanderplatz in Berlin gehen, um mich verloren zu fühlen. Und selbst den neokonservativen Bauten eines Hans Kollhoff wohnt etwas Verunsicherndes inne, so fremdartig wie sie sind.

Eisenman: Aber Kollhoff geht es doch nicht um Andersartigkeit, sondern darum, Berlin wieder ins Altvertraute zu befördern, zurück ins 19. Jahrhundert. Ideologisch zielt er nicht auf das Fremdartige, selbst wenn man sich in seinen Bauten vielleicht fremd fühlt.

ZEIT: Muss denn der Betrachter wissen, was der Architekt sich gedacht hat, um dessen Architektur richtig erfahren zu können?

Eisenman: Nicht unbedingt. Sie müssen aber schon berücksichtigen, dass Architektur sehr viel mit Kultur zu tun hat. Also auch damit, feine Unterschiede erkennen zu können. Stellen Sie sich vor, wir würden alle immer Pepsi trinken, dann wüssten wir nicht, was einen guten Wein eigentlich ausmacht. Natürlich muss man erst die Fähigkeit entwickeln, einen solchen Wein würdigen zu können und den Unterschied zu schmecken. So ist das auch mit der Architektur, auch dort kommt es auf die Unterscheidungsfähigkeit an.

ZEIT: Das klingt für mich so, als sei Architektur etwas Elitäres, etwas für Kenner.

Eisenman: Zum Glück ist nicht alles Architektur. Das wäre ja auch nicht auszudenken. So, als wenn Sie jeden Abend ein Drei-Sterne-Menü äßen. Sie würden das Besondere nicht mehr wahrnehmen. Ich will deshalb auch nicht in Architektur leben. Ich will ein normales Leben. Nur wenn es so etwas wie Normalität gibt, hat das Außergewöhnliche seinen Wert.

ZEIT: Viele Architekten aber inflationieren das Außergewöhnliche. Sie doch auch.

Eisenman: Das betrifft doch nur einen Bruchteil dessen, was gebaut wird. Von Architekten wie mir gibt es nur ganz wenige Bauten, und das ist auch gut so. Dennoch sind auch Gebäude wichtig, die sich abheben und im Vordergrund stehen, wie das Brandenburger Tor oder das Jüdische Museum von Libeskind. Wir begnügen uns ja auch nicht damit, immerzu nur Fahrstuhlmusik zu hören. Wir leisten uns die Oper als eine komplexere Form der Kultur.

ZEIT: Nur kann ich der Komplexität einer Oper noch am selben Abend entkommen. In der Architektur hingegen ist jede Art von ästhetischem Experiment auf Dauer gestellt.

Eisenman: Niemand ist gezwungen, mich als Architekten zu engagieren. Zudem glaube ich nicht, dass die Geschichte sich groß darum kümmert, ob die Leute in Borrominis Kirchen glücklich waren.

ZEIT: Die Architektur ist ihnen wichtiger als Ihre Auftraggeber?

Eisenman: Wenn ein Architekt nur die Wünsche seiner Auftraggeber erfüllt, dann ist er bestimmt kein großer Architekt. Dennoch bauen wir natürlich auch Kompromisse. Nicht alle Gebäude eignen sich dafür, etwas über die Möglichkeiten der Architektur auszudrücken. Ich wäre ja auch schön dumm, einen 400-Millionen-Euro-Auftrag abzulehnen. So puristisch bin ich nicht. Auch Shakespeare hat nicht nur gute Gedichte geschrieben, Bacon hat nicht nur gute Bilder gemalt. Selbst von Eisenman existieren reichlich schlechte Bauten.

ZEIT: Gibt es denn Aufträge, die Sie in jedem Fall ablehnen würden?

Eisenman: Ich mag keine Spektakelbauten. Ich glaube, das Zeitalter des Spektakels ist zu Ende. Die Zeit der Gehrys, Hadids und Calatravas ist abgelaufen. Angesichts des Terrors und der ungeheuren Fernsehbilder, die er produziert, kann die Architektur nicht länger ebenfalls auf Bilder setzen. In diesem Wettstreit wird sie nicht mithalten können.

ZEIT: Was also bleibt ihr?

Eisenman: Wir müssen nach einer neuen Synthese Ausschau halten. Nach einem neuen Geist, einem Geist, der anders ist, als der, der uns die letzten 400 Jahre beherrscht hat und uns letztlich zu Auschwitz, Hiroshima und jetzt in den globalen Terror führte. Der Niedergang des Westens, von dem Spengler sprach, ist leider sehr real. Und da können wir auch in der Architektur nicht einfach so weitermachen wie bisher.

ZEIT: Was aber wäre für Sie eine Alternative?

Eisenman: Mich interessiert Piranesi sehr, die Schattenwelt seiner Gefängnisbilder. Mich interessiert das Dunkle, das Unbewusste, eine Architektur, die nicht überwältigt, sondern unterwältigt. Durch meine zwanzigjährige Psychoanalyse hat sich dieses Interesse deutlich verstärkt. Ich suche nach Formen, in denen sich das Unbewusste ausdrücken kann. Ich will es nicht unterdrücken.

ZEIT: Durch Ihre Analyse hat sich Ihre Architektur tatsächlich verändert?

Eisenman: Ja, früher habe ich nur weiße, rationale, streng geometrische Bauten entworfen. Als ich mit meiner Analyse begann, entdeckte ich auch für meine Häuser den Untergrund. Ich wollte das Präsente zurücktreten lassen, um Raum für das Absente zu schaffen. Kennen Sie die Geschichte von Narziss, der sein Spiegelbild im Teich sieht? Er sieht aber nicht nur sein Spiegelbild, er sieht auch in die Tiefe, und das heißt, er sieht ins Unbewusste. Ähnliches ist mir auch in meinen Bauten wichtig, um den Menschen begreifen zu können.

ZEIT: Aber wie können Sie ihn begreifen, wenn Sie Ihre Architektur zersplittern, zerlegen, zerbrechen?

Eisenman: Ich glaube, dass die Philosophie des Dekonstruktionismus eine moralische Verpflichtung ist. Ich glaube, dass ich ein moralischer Architekt bin, weil ich durch meine Architektur die Psyche des Menschen für das Unbewusste und Verdrängte öffne. So wie Wagner das in seinem Ring des Nibelungen getan hat, mit dem er die deutsche Seele für das Unbewusste öffnete. Mich fasziniert Wagner. Und vielleicht gelingt ja dem Mahnmal etwas Ähnliches wie seinen Opern. Dass möglicherweise die Dunkelheit hervorkommt, sodass das deutsche Volk mit der Verdrängung des Holocausts besser umgehen kann. Ich glaube, möglich wäre es.

ZEIT: Ist das nicht eine Art Metaphysik? Das ist Ihnen doch sonst immer so suspekt.

Eisenman: Ja, das ist Metaphysik. Ich sage ja auch nicht, dass wir eine solche Idee ganz ausklammern. Ich sage nur, dass wir die übliche Metaphysik fallen lassen müssen, um ins Dunkle zu gelangen. Das ist es, was das Mahnmal versucht: Es schweigt, so wie ein Psychoanalytiker schweigt - auf dass wir in diesem Schweigen, in dieser Erhabenheit uns selbst als Fremde begegnen können. Das Mahnmal erlaubt uns, wieder über die verdrängten Dinge sprechen zu können. Zumindest hoffe ich das.

ZEIT: Ist für Sie der Seelenforscher Jung am Ende genauso wichtig wie der Ideenforscher Derrida?

Eisenman: Ja, aber erst am Ende.

Das Gespräch führte Hanno Rauterberg
DIE ZEIT, 9.12.2004

zur Titelseite

zum Seitenanfang


Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606