Durch die Wüste nach Fulda
Moritz Neumanns Roman über die Geschichte seines Vaters
von Klaus Staat
Lässig lehnt der Soldat an seinem Militär- Lastwagen,
die Zigarette zwischen den Fingern. Eine Siegerpose. Ist der Mann ein
Sieger? Er hat überlebt. Das ist sein Sieg. Das Bild zeigt ihn gegen
Ende einer abenteuerlichen Emigranten-Karriere, in deren Verlauf er mehr
Opfer als Sieger war. Es ist ein Stück Emigrationsgeschichte deutscher
Juden, das bislang weitgehend unbekannt war. Der Vorsitzende der Jüdischen
Gemeinde Darmstadt und Mitglied des Direktoriums des Zentralrats der Juden
in Deutschland, Moritz Neumann, hat diese Geschichte einem Roman verarbeitet
und nun erstmals in seiner Heimatstadt öffentlich vorgestellt. Es
ist die Geschichte seines Vaters Hans Neumann.
Es ist aber auch die Geschichte eines nach Krieg und Verfolgung
mit allen Zweifeln nach Deutschland zurückgekehrten Juden. Im Zweifel
nach Deutschland ist der Titel dieses Buches, dessen Erscheinen der Verlag
zu Klampen für März 2005 ankündigt. Bereits im Februar
wird der Hessische Rundfunk eine dreizehnteilige Leseserie des Textes
ausstrahlen, die auch als Hörbuch auf den Markt kommt. Hans Sarkowicz
vom HR hat als erster die zeitgeschichtliche Besonderheit dieses nicht
sehr bekannten Themas gespürt.
Breslau, 1935. Hans Neumann, Sozialdemokrat und Reichsbannermann,
steht plötzlich einem alten Jugendfreund gegenüber. Schon lange
ist der kein Freund mehr, weil er zur Gestapo gegangen ist. Jetzt klingelt
er an der Haustür. "Du hast zwei Stunden. Pack' Deine Sachen
und hau' Mehr kann ich nicht tun." Neumann flieht Hals über
Kopf nach Prag, wo sein Vater Geschäftsfreunde hat. Hier trifft er
andere Emigranten und hört 1936 vom spanischen Bürgerkrieg.
In Paris werden Freiwillige für die Internationalen Brigaden angeworben.
Hans Neumann macht sich auf den Weg. Zwei Jahre kämpft der Mann aus
Schlesien am Ebro gegen die Soldaten des faschistischen Umstürzlers
Franco - und dies stets im Streit mit den kommunistischen Polit-Kommissaren
in den Brigaden. Der Bruder der Reporterlegende Egon Erwin Kisch, ein
Militärarzt, flickt ihm den von Granatsplittern aufgerissenen Nacken
zusammen. 1939 stürzt Franco mit Hilfe Hitlers und Mussolinis die
gewählte republikanische Regierung in Spanien.
Neumann schlägt sich, stets in Gefahr interniert
zu werden, über Frankreich nach Holland durch, wo er sich sicher
wähnt. Bis deutsche Wehrmacht das kleine Land besetzt. Erst versteckt
man ihn auf dem Dachboden eines Bordells in Amsterdam, dann flieht er
erneut nach Frankreich. Wieder läßt er sich in Paris anwerben.
Diesmal von der französischen Fremdenlegion.
Dieser Teil der jüdischen Emigration, die Flucht
in die Fremdenlegion, ist bislang zeithistorisch noch wenig erforscht.
Sohn und Autor Moritz Neumann recherchiert mühsam, mit Hilfe des
Internets und des französischen Verteidigungsministeriums, historische
und geographische Details, die über die Erinnerungen an die Berichte
des 1972 gestorbenen Vaters hinausgehen. In Frankreich spricht man über
diesen Teil der Geschichte selbst heute noch nicht gern.
Hans Neumann wird mit den anderen in die Legion geflohenen
Juden schon bald wieder verfolgt. Außerhalb des von den Deutschen
besetzten Frankreich regiert nun von Vichy aus der Marschall und Faschist
Philippe Pétain das sogenannte freie Frankreich. Sogleich werden
alle Juden in der Fremdenlegion in einer Strafkompanie in der Sahara zusammengefaßt.
Hier müssen sie unter mörderischen Bedingungen einen Schienenweg
quer durch die Wüste bauen. Zweieinhalb Jahre lang dauert die Schinderei,
dann wird die Einheit von der Exilarmee des Generals de Gaulle befreit,
den Pétain in Abwesenheit zum Tod verurteilt hat.
Aber wo sollen die Befreiten hin? In Deutschland und nun
auch im vollständig besetzten Frankreich regiert noch immer Hitler.
So schließt sich Neumann mit vielen seiner Kameraden de Gaulle an.
In der Uniform des freien Frankreich landet er im Juli 1944, vier Wochen
nach der Invasion der Normandie, an der Côte d'Azur, um die Provence
von deutscher Besatzung zu befreien. Das Bild am Lastwagen entsteht in
dieser Zeit, im Stützpunkt Hyères, heute ein beliebtes Touristenziel
westlich von Cannes. Wenig später marschiert Neumann im Gefolge de
Gaulles und der Amerikaner in Paris ein.
Er hätte französischer Staatsbürger werden
können. Doch nach Kriegsende zieht es ihn zurück nach Deutschland,
zu forschen, was aus seiner Familie geworden ist. Erst hier erfährt
er vom Ausmaß des Völkermords. Seine Eltern sind noch vor dem
Krieg gestorben, ein Bruder und eine Schwester in Auschwitz ermordet.
Nur eine Schwester konnte nach Shanghai entkommen. In Fulda lernt Hans
Neumann Frania Broner kennen, eine polnische Jü-din, die Auschwitz
überlebt hat. In der osthessischen Bischofsstadt hat die Odyssee
der beiden Verfolgten ein Ende. Sie heiraten, 1948 kommt der Sohn Moritz
zu Welt, dessen Buch mit seiner eigenen Geburt endet.
Im Zweifel nach Deutschland - der Zweifel hat viele Juden
nie ganz verlassen, ob sie im Land der Täter, noch unmittelbar unter
den Tätern, eine neue Existenz würden aufbauen können,
aufbauen wollen. Hans Neumann entscheidet sich gegen seine Zweifel, auch
mit Hilfe der Umstände. Denn noch eine ganze Zeit sitzt er auf gepackten
Koffern. Australien, die neue Heimat seines Schwagers, ist das Ziel der
jungen Familie. Doch das Land duldet nur gesunde Einwanderer. Neumann
ist seit der Strafkompanie in der Wüste herzkrank. So bleibt er in
Fulda und wird wieder deutscher Staatsbürger. Zu seinem Sohn sagt
er später: "Wenn alle Anständigen im Ausland geblieben
wären, wer hätte das bessere Deutschland aufbauen sollen?"
Moritz Neumann wächst in diesem besseren Deutschland
auf. Ohne Gefühl für Fahne und Hymne und Nation, spät geprägt
von der Zeit der Staatenlosigkeit des Vaters. Aber auch ohne dessen Gefühl
der Entwurzelung. Der Begriff Heimat ist Moritz Neumann nicht so recht
vertraut. Er spricht von "zu Hause" und meint damit Darmstadt,
wo er seit 1970 lebt. Der Staat Bundesrepublik ist ein steter Adressat
seiner kritischen Bemerkungen. Und doch ist er sich in einem sicher: Es
ist ein Staat, "dessen Entwicklung es wert ist, daß man ihn
schützt, ihn verteidigt". Ist Hans Neumanns Sohn ein Verfassungspatriot?
Moritz Neumann verzieht das Gesicht. "Eher ein Verfassungsdemokrat".
Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 23.12.2004
Moritz Neumann liest aus seinem Buch am Mittwoch, 20.04.05,
um 19.30 Uhr, im Martin-Buber-Haus, Heppenheim, Werléstraße
2
Moritz Neumann, Im Zweifel nach Deutschland. Geschichte
einer Flucht und Rückkehr, 400 Seiten, 24 Euro, ISBN 3-934920-57-8
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