Waren die israelischen Siedlungen ein historischer Irrtum?

Pro
von Reiner Bernstein

Am Anfang stand das Manifest der Bewegung für das ganze Land Israel. Zu seinen Unterzeichnern gehörten Jitzhak Tabenkin von der Kibbuz-Bewegung, die Witwe des zweiten Staatspräsidenten Rachel Janai Ben-Zvi sowie Schriftsteller wie Josef "Shai" Agnon und Nathan Alterman. Das Argument von den territorialen Faustpfändern, die für den Friedensschluß der arabischen Staaten eingetauscht würden, verflüchtigte sich. "Zum ersten Mal seit der Zerstörung des Zweiten Tempels ist das Land Israel in unserer Hand. Seither sind der Staat und das Land eine Einheit", schrieb Alterman in einem Beitrag für Maariv. Er sei die Stimme, und wir sind ihr Echo, spendete Mosche Dajan Beifall.

Die "Erlösung" wurde zur Scheidemünze in der Gesellschaft. Eljakim Haetzni berief sich später auf sie, als er den Unterschied zwischen der Niederlassung in Galiläa und in Hebron auf die Machtpolitik zurückführte. Damals seien die Juden wie Diebe in der Nacht gekommen, hätten die Araber an der Nase herumgeführt und einen Dunam nach dem anderen gekauft. "Dagegen sind wir jetzt nach Hebron und in andere Orte in Judäa, Samaria und Gasa gleichsam wie nach Hause gekommen." Damit flammte die alte Kontroverse wieder auf, ob es im Judentum eine Autonomie des Politischen geben könne. Hatten manche Zionisten geglaubt, Gott in den Himmel verbannen zu können, so stellte sich heraus, daß die Legitimation der Ansiedlung im Lande Israel auf religiöse Traditionen angewiesen ist.

Schimon Peres versorgte als Verteidigungsminister die Siedlungen mit Aufträgen und bescheinigte ihren Bewohnern tiefe religiöse Leidenschaft und zionistischen Pioniergeist. Der Begriff "Neo-Zionismus" machte die Runde, bevor er vom "Jeschiwa-Nationalismus" abgelöst wurde.

Rabbiner Zvi Yehuda Kook, der spirituelle Führer der aktivistischen Siedlerbewegung "Gush Emunim", warnte Jitzchak Rabin, wer sich um das Land nicht kümmere, um den kümmere sich das Land nicht. Die Regierungen trauten sich immer weniger, der Siedlerbewegung verbindliche Rechtsnormen zu setzen, so daß sich ihr gewaltbereiter Kern zu verselbständigen begann. Mitte der achtziger Jahre agierte er als "jüdischer Untergrund", heute versucht er die Öffentlichkeit gegen die Abkoppelungspläne vom Gasastreifen und von nördlichen Teilen der West-Bank zu mobilisieren. Dort lebende Israelis führten schon Klage darüber, daß sie von Landsleuten als Siedler ("Mitnachalim") und nicht als Bewohner ("Mitjaschwim") bezeichnet würden. Es zeichnet sich die Gefahr ab, daß jüdischer und islamischer Extremismus mit charismatischen Führern an der Spitze den Konflikt in einen Krieg zweier Religionen verwandelt, der die unerträgliche Mißachtung von grundlegenden Menschenrechten normativ billigt. Nicht die Politik bedient sich der Religion, sondern ihre Institutionen treiben die Politik vor sich her.

Wenn Schimon Peres die Siedlungen nun als historischen Irrtum bezeichnet, hat der vielfache Außenminister recht. Um so unverständlicher, daß Peres die "Genfer Initiative" ablehnt, die versucht, diesen Fehler grundsätzlich anzuerkennen und rückgängig zu machen. Am 1. Dezember 2003 hatten namhafte Israelis und Palästinenser mit ihr eine fundamentale Absage an die Macht einer vorgeblich göttlich inspirierten Rationalität präsentiert. Die "Genfer Initiative" steht für eine Zweistaatenregelung entlang der "Grünen Linie", die Etablierung Jerusalems als Doppelhauptstadt, die differenzierte Regelung der palästinensischen Flüchtlingsfrage sowie die Klärung von Sicherheitsbelangen. Der Friedensplan widerspricht der Prophezeiung vom "Volk, das allein wohnt" (3. Buch Moses 23,9) und ist ein Bekenntnis zum pluralen und demokratischen Staat Israel als Teil der Völkergemeinschaft. Richtige interimistische Pläne wie der Verzicht auf einzelne Siedlungen machen nur dann Sinn, wenn sie vom Willen zu einer Gesamtregelung getragen werden, die Feindbilder überwindet.

Contra
von Eljakim Haetzni

Tekoa ist heute ein jüdisches Dorf in Judäa. Aus Tekoa kam der Prophet Amos, und mit ihm der Anlaß, diese "Siedlung" zu gründen. "Zur selben Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten … sie sollen die wüsten Städte bauen und bewohnen …, denn ich will sie in ihr Land pflanzen, daß sie nicht mehr aus ihrem Lande ausgerottet werden, das ich ihnen gegeben habe, spricht der Herr, dein Gott" (Amos, 9-11,14).

Das "Mandat für Palästina", am 24. Juli 1922 vom Völkerbund ratifiziert, greift auf Amos mit diesen Worten zurück: "Hierdurch werden die historische Bindung des jüdischen Volkes mit Palästina und der Grund fur den Wiederaufbau seiner nationalen Heimstätte in diesem Lande anerkannt." Hier: "Wiederaufbau", dort: "wieder aufrichten". Weiterhin garantiert das Mandat dem jüdischen Volk "intensive Ansiedlung von Juden auf dem Boden, Staatsländereien inbegriffen …"

Wegen der proarabischen Politik der Mandatsmacht Großbritannien konnte das jüdische Volk dieses Versprechen erst nach dem Sechstagekrieg, und zwar mit eigenen Händen, verwirklichen. Seitdem wurden etwa dreihundert Städte und Dörfer "wieder aufgerichtet", unter ihnen Tekoa. Die Auffassung des Herrn Peres, daß dies ein "historischer Irrtum" sei, erschüttert die Grundfesten des Zionismus, dessen Raison d'être die Rückkehr in das Land Israel ist. Sie erschüttert aber auch die religiös-gläubig wie die säkular-historisch einmalige Bindung des modernen Staates Israel an die Bibel als moralische Daseinsberechtigung und ideologisches Fundament. Wenn Tekoa ein historischer Irrtum ist, dann sind auch die Tage Tel Avivs gezählt.

Darüber hinaus schuldet Peres seinem Volk und der Welt eine Antwort, warum gerade Judäa das einzige "judenreine" Land in der Welt werden soll? Warum dürfen in Israel 1,2 Millionen Araber als Bürger leben, aber in "Falastin" kein einziger Jude? Ferner: Wo liegt der Unterschied zwischen der von Peres angestrebten Vertreibung der Juden aus Gasa und Nord- Samaria und den "ethnischen Säuberungen" im Kosovo, die als Verbrechen gegen die Menschheit gelten? Treten nicht die Herren Scharon und Peres in die Fußstapfen eines Slobodan Milosevic?

Den fatalsten historischen Fehler in der Geschichte des jüdischen Staates beging Peres selbst, mit seinem messianischen Friedenswahn, der uns in der Form von Oslo seit 1993 schon fast tausendfünfhundert Todesopfer gekostet hat. Von Peres' "neuem Mittleren Osten" ist nur unendlicher Stoff für Stand-up-Komiker übriggeblieben.

Peres weigert sich, wie das gesamte "Friedenslager", die Tatsachen realistisch wahrzunehmen und die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Wenn alle sogenannten Siedlungen zerstört sind, und Jerusalem wieder geteilt wird, wird die "Karte des Friedens", die Peres als vollendete Tatsache ausgibt, tatsächlich immer nur eine Illusion bleiben. Ein klassischer Beleg für diese traurige Tatsache stammt vom Knessetabgeordneten Asmi Beschara, Universitätsprofessor, Araber und Christ: "Den palästinensischen Kon flikt muß man zu seinen Wurzeln zurückbringen - die Flüchtlinge des Jahres 1948. Die PLO wurde 1964 in Jerusalem gegründet, welches sich damals unter arabischer, nicht zionistischer, Herrschaft befand. Die PLO wurde für die Rechte der Flüchtlinge gegründet. Diese Rechte haben Vorrang gegenüber dem (palästinensischen) Staat. Ein Staat ohne das Recht auf Rückkehr interessiert uns nicht." Auch in einer Rede von Machmud Abbas, Arafats Nachfolger, erscheinen "die Rechte der Flüchtlinge" prominent als absolute Vorbedingung. Mit diesen "Rechten" aber ist keineswegs Absorption im neuen "Falastin" gemeint, sondern ausschließlich innerhalb der Grenzen Israels vor 1967 - was die sichere sofortige Zerstörung des jüdischen Staates bedeutet.

Mit der Verfolgung der "Siedlungen" sucht Peres nach dem verlorenen Groschen unter der Laterne, weil dort am meisten Licht ist - hingefallen ist der Groschen aber ganz woanders.

Reiner Bernstein ist Publizist. Er war Gründungsmitglied des "Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten" und vertritt die "Genfer Initiative" im deutschsprachigen Raum. Eljakim Haetzni ist Anwalt und stammt aus Deutschland. Er saß für die rechtsnationale Tehiya- Partei in der Knesset und ist führendes Mitglied im "Rat der Jüdischen Städte und Dörfer in Judäa, Samaria und Gasa"

"Historischer Irrtum" In einem Interview mit der französischen Zeitung "Le Figaro" im Dezember 2004 hat der Chef der israelischen Arbeitspartei, Schimon Peres, den Bau jüdischer Siedlungen in den Palästinensergebieten als historischen Irrtum bezeichnet. "Man kann die Karte der Siedlungen unmöglich in die Karte des Friedens einbeziehen", sagte Peres. Bisher hatten auch linke Politiker den Siedlungsbau meist als legitim angesehen, unter anderem weil sich die arabischen Staaten nach dem Sechstagekrieg 1967 weigerten, im Gegenzug für die Rückgabe der besetzten Gebiete Israels Sicherheit zu garantieren.

Jüdische Allgemeine Wochenzeitung, 6. 1. 2005

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