Antisemitismus, was ist das?
Ein Thesenpapier des Vorstands von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V.

Im November 2004 hat der Vorstand von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Thesen zum Thema Antisemitismus beschlossen. Diese Thesen sind verbunden mit einer Diskussionshilfe, die es Kirchengemeinden erleichtern soll, sich zu dem Thema zu verständigen und aktiv zu werden. Ausgehend von einer verstärkten Besorgnis unserer jüdischen Partner im In- und Ausland über die zunehmenden verbalen und körperlichen Übergriffe insbesondere in Europa, möchte der Vorstand damit einen Beitrag zur Handlungsfähigkeit der Gemeinden leisten.

Oft wird in Diskussionen über die gegenwärtigen Formen des Antisemitismus auf "Israels Politik" gegenüber den Palästinensern verwiesen, welche die je eigene Reserviertheit oder Aggression gegen Juden rechtfertigen soll. Dies gilt zunehmend auch für Diskussionen in christlichen Gemeinden, die sich mit dem Thema christlicher Schuld gegenüber den Juden und deren theologische Konsequenzen auseinandersetzen wollen. Deshalb bittet der ASF-Vorstand die Gemeinden, Judenfeindschaft kritisch zu besprechen und sich offensiv gegen Antisemitismus zu stellen.

Dabei ist deutlich, dass die Unsicherheit groß ist , wie Antisemitismus zu definieren sei, und eine Verständigung darüber fehlt, wann etwas als antisemitische Formulierung zu kritisieren wäre. Deshalb beginnt das im Folgende dokumentierte Papier des Vorstands auch mit der Frage:

Was ist Antisemitismus?
Die Versuche, Antisemitismus zu definieren , sind so zahlreich wie die Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Geschichte. Antisemitismus ist mehr als ein "Vorurteil ", er hat immer auch soziale und politische Folgen für die Betroffenen. Feindliche Gefühle gegenüber Juden und ihre Diskriminierungen sind Bestandteil unserer westlichen Zivilisation seit der Antike. Antisemitismus ist religiös motiviert entstanden, ist aber auch nach und durch die Aufklärung weiterentwickelt und getragen worden.

Christliche Judenfeindschaft
Im Christentum entstand eine Judenfeindschaft, weil die ersten nicht-jüdischen Christen nicht verstehen konnten, dass "die Juden " sich nicht zu Christus bekennen. Sie wurden als Verstockte und als Bedrohung für den eigenen Glauben bekämpft. Auch Martin Luther sieht in den Juden Unbelehrbare, die am Ende mit Gewalt von ihrem Glauben abzubringen seien. Hier zeigt sich ein wichtiges irrationales Motiv der christlichen Judenfeindschaft. Dass es Juden überhaupt noch gibt, wird als Angriff auf die eigene Existenz als Christen empfunden. Um diese Feindschaft zu begründen, wurden alle möglichen Schandtaten den Juden zugeschrieben wie Brunnenvergiftung, Kindermord und Abendmahlsschändungen, die nachweislich erfunden waren, aber Wellen von Gewalt gegen Juden zur Folge hatten.

Säkularisierter Antisemitismus
Im 18., 19. und 20. Jahrhundert wird die christliche Judenfeindschaft aufgenommen und mit biologistischen Begründungen ergänzt. Nach dieser Sicht bleibt man Jude auf ewig, auch wenn man schon seit Generationen konfessionslos oder christlich ist.

Im Zuge des Aufkommens der Nationalstaatsidee sind die Juden auch vielen Menschen suspekt, die theoretisch für gleiche Menschenrechte für alle Bürger eintreten. In dieser Phase fürchten, beziehungsweise beschwören relevante Teile der säkularen Gesellschaft die Illoyalität der Juden zur Nation und dichten ihnen alles Schlechte an. So wird ihnen auch hier das Zersetzende zugeschrieben. Angeblich zersetzen sie die Familie, die Nation, die Gesellschaft, weil sie ja nirgends zu Hause sind, sondern in vielen europäischen Nationen leben.

Judenfeindschaft gab und gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Insofern ist der Satz von August Bebel: "Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerle" auch eine Verniedlichung, die den Antisemitismus auf Bildungsnotstand und Armut zurückführen möchte, der vergeht, wenn es dem Antisemiten ökonomisch gut geht. Diese These ist nicht nur durch die Weimarer Zeit widerlegt, in der auch gut situierte Kreise Träger des Antisemitismus waren.

Im Nationalsozialismus war die Unterstützung für den Antisemitismus der NS-Politik dann auch Schichten übergreifend.

Nach Auschwitz
Für die Zeit nach 1945 wird oft der Terminus "sekundärer Antisemitismus " verwandt. Er beschreibt die Tatsache, dass nun den Juden die Schuld dafür gegeben wird, dass "wir" diese Geschichte immer wieder erinnern müssen und "nicht mal Schluss ist mit der Mahnung bezogen auf die Schuld des deutschen Volkes". Wie immer man diese Art der Judenfeindschaft beschreibt, ist doch hier wieder ein klassisches Motiv aus den Jahrhunderten vorher gegenwärtig: Die Juden, die das Eigene zersetzen und "mies machen".

Islamischer Antisemitismus
Neu in der bundesdeutschen Diskussion ist die Frage nach einem Antisemitismus in vom Islam geprägten Ländern und Denkwelten. Hier gibt es zwei unterschiedliche Ansätze der Erklärung. Eine besagt, dass der Antisemitismus in den Islam aus dem Europa des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, die andere, dass der Islam ein eigenständiges Potenzial an antisemitischen Vorstellungen entwickelt hat. Dies ist hier von uns nicht zu entscheiden. Fest steht, dass insbesondere in der arabischen Welt die Vorstellungen von einer jüdischen Weltverschwörung, die zur Gründung Israels geführt hat, und auch die Leugnung des Holocaust beängstigende Formen annimmt. Dabei ist zu beachten, dass es hier nicht um "die Muslime" geht. Es gibt auch Initiativen, wie die "MigrantInnen gegen Antisemitismus", die sich dem entgegenstellen.

Insgesamt liegt dem Antisemitismus ein komplizierter, aber deshalb umso schwieriger zu bekämpfender Mechanismus zugrunde. Sind doch die Bilder, mit denen die Juden belegt werden, oft genug "Eigenschaften", die man selbst gerne hätte oder an sich kennt, aber nicht schätzt. Wer kennt nicht je unterschiedlich starke Glaubenszweifel, die dann aber als "völlig unverständlicher und aller Logik widersprechender" Unglauben "dem Juden" angedichtet werden: So konnte man seinen eigenen Zweifel an der Heilstat Gottes in Jesus Christus am "Juden " bekämpfen.

Deshalb ist der Antisemitismus oder die Judenfeindschaft auch nicht das Problem der Juden, sondern das Problem der Antisemiten. Es liegt nicht an der Absonderung oder der Fremdheit "der Juden", sondern an den tiefen Verunsicherungen, Phantasien und Wünschen, wenn "die Juden" zu Weltherrschern, Kindermördern oder Christusmördern gemacht werden.

Im Weiteren wird nach Kriterien einer Qualifizierung von Israelkritik als antisemitischer Einstellung gefragt. Am Ende stellt der Vorstand die Grenzen der rein faktenmäßigen Aufklärung über Antisemitismus als Instrument seiner Bekämpfung fest.

Schon in dem zitierten Teil der Thesen wird deutlich gemacht, dass diese Aufklärungsresistenz besteht. Jeder Nachweis, dass "die Juden" nicht Berlin, nicht die USA und nicht die Welt regieren, wird durch Ver- schwörungshinweise außer Kraft gesetzt. Nun ist der Vorwurf des Weltherrschaftsstrebens gegen Juden in Deutschland nicht mehr ganz so verbreitet, wie in der arabischen Welt, aber es gibt ihn auch hier. Die Projektionsstruktur, die dem aber zugrunde liegt, die die eigene Ohnmacht, die eigenen Glaubenszweifel oder die nach wie vor vorhandenen eigenen Schuldgefühle, auf komplexe Weise auf "die Juden" überträgt, zeigt sich in allen antisemitischen Figuren hier und anderswo. Das macht es nötig Lernerfahrungen anzubieten, wo diese Projektion durch eine - im besten Falle - selbstreflexive Denkungsart ersetzt wird. Eine solche Lernerfahrung, so schließt das Papier des Vorstands von ASF, muss mehr als den Kopf ansprechen. Dabei verweist er zu Recht auf die jeweils lebensprägenden Erfahrungen der ASF-Freiwilligen, die durch eine begleitete Praxiserfahrung in die Lage versetzt werden, eine solche intellektuelle, wie auch emotionale Lernerfahrung zu machen. Dabei lernen sie zu bedenken, wie ihre Geschichte sie und ihre Urteile über andere geprägt hat und lernen sich darüber miteinander und den jeweils anderen auszutauschen. Diese Lernerfahrung gilt es in die sicher kommenden Debatten über "Antisemitismusbekämpfung " offensiv einzubringen.

Quelle: www.asf-ev.de

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