Raschi und die Synagoge in Worms
von Miriam Magall

Geboren wurde Salomo ben Isaak oder Rabbi Schlomo Jizchaki, wie sein hebräischer Name lautet, im Jahr 1040 in Troyes (Champagne)/Frankreich und dort ist Raschi, das ist sein weithin bekanntes Akronym, 1105 gestorben. Er studierte in Worms und in Mainz.

Was war das für eine Synagoge, in der der Raschi betete? Was war das für eine jüdische Gemeinde, deren Synagoge und Lehrhaus nicht nur Raschi, sondern auch zahlreiche andere namhafte jüdische Gelehrte anzog? Welchen Rang nahm die Stadt im mittel-alterlichen Aschkenas ein? Darauf kann die Antwort nur lauten: Einen hohen, denn zusammen mit den Städten Speyer und Mainz ist Worms unter der Bezeichnung SCHUM-Gemeinden ruhmreich in die jüdische Geschichte eingegangen.

Die Anfänge
Alle drei Städte gehören zu den frühen jüdischen Ansiedlungen in Aschkenas, damit sind Deutschland und Nordfrankreich gemeint, und sie entwickelten sich im 11. und 12. Jahrhundert zu Zentren der jüdischen Gelehrsamkeit. Mit ihren eigenen Ordnungen, Riten und Gebräuchen trugen sie wesentlich zur Entstehung eines neuen jüdischen Traditionskreises, dem der Aschkenasim, d.h. den Bewohnern von Aschkenas, bei. Bereits im Mittelalter strahlte dieser neue Traditionskreis weit über die Grenzen des Rheinlands aus bis nach Ungarn und Polen, Litauen und Norditalien. Alle drei Gemeinden schufen im Laufe der Zeit ihre eigenen Einrichtungen, zu denen traditionell Synagoge, Ritualbad und Friedhof gehören.

Als Erstes wird eine Synagoge im Rheinland in Worms erwähnt: Bereits seit 1034 ist in dieser Stadt eine Synagoge belegt. An die Erbauer dieser ersten Synagoge erinnern noch heute mehrere Grabsteine auf dem Alten Jüdischen Friedhof von Worms. Auf die Herkunft dieser Einwanderer aus Italien oder Spanien verweisen die immer wieder auf den Grabsteinen anzutreffenden romanischen Namen wie Bella, Bona, Senior, Speranza u.ä.

Der Synagogenkomplex
Ist von Synagoge die Rede, denkt man zumeist an einen einzigen Bau wie bei einer Kirche. Aber so wie eine Kirche oft eine ganze Reihe von Anbauten und Nebengebäuden hat, umfasst auch der Synagogenkomplex in Worms mehrere Elemente.

Das reich gegliederte Nordportal, das in die Männersynagoge führt, zeugt von der Leistungsfähigkeit der Wormser Dombauschule, denn Handwerker dieser Schule dürften für den Bau sowohl des Doms von Worms (1181 vollendet) als auch der Synagoge zuständig gewesen sein. Allerdings litt die Gemeinde während des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen während des ersten (1096) und des zweiten Kreuzzugs (1146), unter Geldmangel, denn die anscheinend großzügig geplante Dekoration der Portalarchivolte wurde niemals vollendet. Nur einer der Archivoltensteine im rechten Drittel hat den vorgesehenen Schmuck erhalten. Dagegen wurden die Kämpfer des Portals vollendet und sie weisen, wie die Kämpfer der beiden Kapitelle im Gebetssaal, das für die zeitgenössische Wormser Dombauschule typische Palmettenband auf.

Zwei Säulen teilen den Synagogenraum in der Mittelachse in zwei gleich lange Schiffe mit insgesamt sechs Kreuzgratgewölben. Akanthusblätter zieren die Kapitelle der Säulen, die auf wulstigen Plinthen ruhen und diese ihrerseits auf quadratischen, hohen dreiteiligen, sich nach oben verjüngenden Basen. Der Tora-Schrein steht in einer nach außen vorspringenden Nische. Drei Stufen führen zum Schrein, einer Ädikula, hinauf, deren geschmückter Architrav auf vierkantigen Pfeilern ruht - vermutlich eine Erinnerung an die beiden Säulen Boas und Jachin, die König Salomo vor seinem Tempel in Jerusalem aufstellen ließ. Das Architrav trägt ein Giebelfeld, das von einem in der Mitte gesprengten Dreieck und vier Kronen - der Krone des Priestertums, der Krone der Tora und der Krone des Königtums, überhöht von einer vierten, größeren Krone, der "Krone des guten Namens" - bekrönt wird. Dass diese Ädikula eher barock wirkt, verdankt sie der Tatsache, dass der Wiederaufbau auf die Zeit um 1700 zurückgeht, als die 1699 aus Worms geflüchteten Juden wieder in die Stadt zurückkehren durften. Ein Parochet, ein Vorhang, auch er erinnert an Salomos Tempel, genauer, an den Vorhang, der das Dwir, das "Allerheiligste", vom Hejchal, dem "Heiligen", trennte, verdeckte und verdeckt auch heute wieder die Türen des Tora-Schreins.

Gemäß aschkenasischem Brauch stand die Bima in der Mitte des Gebetssaals zwischen den beiden Säulen. Auf einen kaiserlichen Erlass hin wurde die ganze Anlage 1616 umfassend restauriert; 1620 wurde auch die Bima, eine großzügige Stiftung von David Oppenheim, neu gebaut. Zu diesem Zeitpunkt erhielt sie wohl auch die Gestalt, wie sie uns dank eines Aquarells von Heinrich Hoffmann von 1840, also noch vor dem Umbau der Männersynagoge 1842 entstanden, überliefert wurde. Es zeigt sie als einen jeweils drei Meter hohen, langen und breiten Kubus, ähnlich wie man ihn für die Synagoge in Speyer rekonstruiert hat. Reiches spätgotisches Maßwerk über zwei Reihen von Balustern schmückten ihn auf allen vier Seiten. Für die Gesimse der Bima wurde ein Ornament aus Trauben und Weinlaub verwendet - genau wie für den Tora-Schrein aus derselben Zeit. In der heutigen, rekonstruierten Synagoge dient dagegen lediglich ein einfaches Pult mit einer Decke darauf zwischen den beiden Säulen auf einem um eine Stufe erhöhten Podest als Bima.

Während eines umfangreichen Umbaus der Synagoge in den Jahren 1841 und 1842 wurde die aufwändige Bima entfernt und eine Öffnung für die Tür zwischen Frauenschul und Männersynagoge in die Wand gebrochen. Ansonsten behielt die Synagoge ihre barocke Ausstattung.

Die Sitzbänke für die Beter standen in der alten Synagoge in Reihen entlang den Längsseiten des Betraums, sodass der Blick frei zwischen den beiden Polen der Synagoge, Bima und Tora-Schrein, wandern konnte. In der rekonstruierten Synagoge sind sie dagegen im rechten Winkel dazu wie in einer Kirche zu beiden Seiten der zentralen Bima angeordnet und blicken auf den Tora-Schrein in der Ostwand.

Die Synagoge von 1174/75, die die 1034 erbaute ersetzte, besaß allem Anschein nach rundbogige romanische Fenster. Die so genannte "Frauenschul", der Gebetsaal für Frauen, die, wie eine Inschrift besagt, 1212/13 dazukam, wies Zeichen des Übergangs zu gotischen Formen auf: Die Fenster im Osten besaßen romanische Bögen, die im Westen gotische.

Anstelle von der in sefardischen Gemeinden üblichen Frauenempore schuf man im Mittelalter in Aschkenas getrennte Beträume für die Frauen, entweder als Anbauten an die Männersynagoge oder sogar darunter in einer Art Keller. Von Anfang an war die Frauenschul in Worms nicht als selbständige Synagoge konzipiert, sondern lediglich als Anbau an die Männersynagoge; daher enthielt sie weder einen Tora-Schrein, noch eine Bima. Es war ein von einer Mittelsäule getragener Raum mit vier Kreuzgratgewölben. Das ursprüngliche Würfelkapitell des Mittelpfeilers musste um 1620 einem toskanischen Rundpfeiler weichen. Ursprünglich war die Frauenschul nur durch fünf kleine Fenster mit der Männersynagoge verbunden. Dort stand eine Vorbeterin, die den Gottesdienst der Männer verfolgte und so den Frauen das Mitsprechen der Gebete ermöglichte. Diese Fenster wurden bei der Restaurierung 1841 und 1842 durch spitzbogige Öffnungen ersetzt, außerdem kam die Tür zwischen Frauenschul und Männersynagoge dazu; gleichzeitig wurden an ihrem Nordende eine neue Vorhalle und darüber ein Versammlungssaal angebaut. Aber schon davor, beim gotischen Wiederaufbau nach 1355 wurden spitzbogige Fenster und Okuli in beiden Gebäuden eingesetzt. Und diese hat man beim Wiederaufbau des Komplexes 1959 ebenfalls wieder hergestellt.

1186 konnte dank der großzügigen Spende eines Privatmannes namens Joseph an der südwestlichen Ecke der Männersynagoge eine unterirdische Mikwe, ein Ritualbad, eingerichtet werden. Von dem Vorraum mit seiner winzigen Umkleidenische führt eine halbkreisförmig geschwungene Treppe zum Badeschacht. Sein Grundwasserspiegel liegt etwa sieben Meter unter der heutigen Erdoberfläche. Die letzten Treppenstufen werden bereits von Wasser bedeckt, sodass der Vorschrift, für die Mikwe hauptsächlich majim chajim, d.h. "lebendiges Wasser" zu verwenden, Genüge getan wird. Die Würfelkapitelle der beiden Säulen, die einst den Eingang zur Treppe hinunter ins Bad flankierten, weisen auch die Mikwe als das Werk der Wormser Bauschule aus. Allem Anschein nach lehnt sich die Mikwe in Worms eng an das romanische Tauchbad in Speyer an.

1624 wurde dann dank einer weiteren großzügigen Spende, diesmal von David ben Josua Joseph Oppenheim, an der Westwand der Männersynagoge die so genannte Raschi Jeschiwa angebaut. Dieser einschiffige, mit einer Apsis abschließende zweijochige Bau ersetzte einen größeren Hörsaal, der sich bis 1615 im Erdgeschoss der Jeschiwa südlich hinter der Männersynagoge befunden hatte. In jenem Saal, nicht in der Raschi Jeschiwa, studierte Raschi. Dabei soll er auf dem heute so genannten Raschi-Stuhl später auch gelehrt haben, wie die Legende berichtet. Allerdings dürfte dieser Stuhl aufgrund seiner Ornamentik nicht älter sein als der ganze neue Anbau selbst.

Zerstörungen und Restaurierungen
Die Zeit, in der der Raschi in Worms studierte, darf als eine relativ friedliche Periode für die Juden in Aschkenas gelten. Er hätte es sich wohl nicht vorstellen können, welches Leid noch zu seinen Lebzeiten über die jüdische Gemeinde in Worms hereinbrechen sollte. Kreuzfahrer stellten 1096 die Wormser Juden vor die Wahl, sich entweder zu bekehren oder zu sterben. Am 18. Mai 1096 wurden achthundert jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet oder in den Tod getrieben. Auch die erste Wormser Synagoge erlitt schwerste Beschädigungen. Der Zweite Kreuzzug (1146) ging ebenfalls nicht ohne Schaden an Leib und Leben an den Wormser Juden vorbei. Über fünfundzwanzig Jahre lang behalf man sich, nachdem das Leben in Worms für Juden wieder sicherer geworden war, mit notdürftig eingerichteten Beträumen. Erst im Jahr 1175 wurde der Neubau vollendet. Das Entstehungsdatum dieses Neubaus - im Jahr 4035 nach dem hebräischen Kalender - kann anhand des Zahlenwerts der Buchstaben einer hebräischen Inschrift (einem Zitat aus 1. Kön. 7,40-49 entnommen) errechnet werden, die in das Kapitell einer Säule gemeißelt ist.

Nicht sehr viel besser erging es den Juden in Worms im Pestjahr 1348/49. Aufgebrachte Menschenmengen stürmten das jüdische Viertel, nachdem die Verleumdung verbreitet worden war, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Die Memorbücher verzeichnen die Namen von fast sechshundert ermordeten jüdischen Bewohnern in Worms. Die Häuser der Juden und die Synagoge wurden angezündet. Die Gewölbe von Männersynagoge und Frauenschul stürzten ein, ebenso wie große Teile der Umfassungsmauern. Erst 1355 kehrten die vertriebenen Juden wieder in die Stadt zurück. Wenig später begann der gotische Wiederaufbau.

Anfang des 17. Jahrhunderts brach erneut ein Pogrom gegen die Wormser Juden aus. Handwerker griffen sie an und vertrieben sie am 21. April 1615 ein weiteres Mal aus der Stadt. Wieder wurden Männersynagoge und Frauenschul zerstört, verschwand die Einrichtung für immer. Ein Jahr später kehrten die Juden nach und nach in ihre Heimatstadt zurück. Aber die verarmte Gemeinde war nicht dazu in der Lage, den Synagogenkomplex wieder aufzubauen. Es ist einzig großzügigen Spenden zu verdanken, dass die Männersynagoge schon im August 1620 wieder ein Dach hatte, dem schloss sich die Erneuerung der Frauenschul an.

Zusammen mit der ganzen Stadt mussten die Juden und mit ihnen ihre Synagoge im Jahr 1689 eine weitere Zerstörung, diesmal durch die Franzosen, über sich ergehen lassen. Alle Dachstühle brannten ab, außer dem der Vorhalle, die Gewölbe der Frauenschul stürzten ein. Einquartierte Soldaten ließen wertvolle Stücke der Inneneinrichtung mitgehen, die Männersynagoge diente als Pferdestall. Erst zehn Jahre später, 1699, wurde den geflüchteten Juden die Rückkehr gestattet, durften sie sich an den Wiederaufbau ihrer Häuser und ihrer Synagoge machen. Um 1700 erhält die Frauenschul neue Gewölbe, der neue Tora-Schrein in der Männersynagoge übernimmt die Struktur seines Vorgängers, wirkt aber eher barock im Aussehen.

Die Gestalt dieser renovierten Synagoge blieb, nebst den oben beschriebenen Nebengebäuden, bis zum Jahr 1938 praktisch unverändert. Dann jedoch wurde der gesamte Komplex in der Reichspogromnacht 1938 niedergebrannt, ihre Reste 1942 gesprengt. Ein großer Teil der wertvollen Gerätschaften, Inschriften und Architekturteile, die die Zerstörungen überstanden, wurden dank des Muts und der Umsicht des damaligen Stadtarchivars aus dem Schutt geborgen. Schon 1949 konnte das Portal des Männerbaus errichtet werden. 1957 begann die Enttrümmerung des Synagogenbezirks, 1958 die Wiederherstellung der sogenannten Raschi Jeschiwa. Der Wiederaufbau des Synagogenkomplexes wurde von der Bundesregierung, dem Land Rheinland-Pfalz und der Stadt Worms gemeinsam finanziert. Die Grundsteinlegung erfolgte am 27. September 1959, die Neueinweihung am 3. Dezember 1961, am 1. Chanukka-Tag des jüdischen Jahres 5722. Die Synagoge von Worms ist demnach so, wie man sie heute sieht, eine treue Rekonstruktion der alten Synagoge, für die Innenausstattung wurden zum Teil die alten barocken Elemente von der letzten Restaurierung von 1841/42, für die Frauenschul die spätromanische Säule mit dem Würfelkapitell von 1620 wiederverwendet.

Ein Gedenklicht, am Gewände der westlichen Öffnung zwischen Männer- und Frauensynagoge angebracht, erinnert an die im Dritten Reich ermordeten jüdischen Bürger von Worms. Im rechten Gewände des östlichen Durchgangs ist ein Stein aus Israel eingemauert: Er soll an die Verbindung der Juden in der Diaspora mit dem Gelobten Land erinnern. Der Raschi wäre mit diesem Neubau wohl zufrieden gewesen.

aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, April 2005

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