Parschandata. Raschi und seine Zeit
von Daniel Krochmalnik
Vor 900 Jahren starb Rabbi Schlomo ben Jizchak, der nach
den Anfangsbuchstaben seines Namens RaSCHI genannt wird, in seiner Heimatstadt
Troyes in der Champagne. Er war der jüdische Kommentator schlechthin
und hat fast die ganze Bibel und den ganzen Talmud erklärt. In seinem
unverwechselbaren Lapidarstil gibt er so präzise wie möglich
den einfachen Wortsinn (Pschat) der schwierigsten biblischen Stellen und
kniffligsten rabbinischen Debatten an und behilft sich dabei gelegentlich
auch mit insgesamt ca. 5000 altfranzösischen Übersetzungen.1
Für gläubige Juden ist es bis heute undenkbar, die Bibel oder
den Talmud anders als durch die Brille Raschis zu lesen. Für die
enorme Wertschätzung Raschis spricht, dass der erste datierte hebräische
Druck überhaupt gerade sein Kommentar zum Pentateuch war - ohne den
kommentierten Text (Reggio di Calabria 1475).
Der erste Raschi
Der Kommentar beginnt mit folgender einleitenden Erklärung: "R.
Jizchak sagte, die Tora hätte erst bei dem 12. Kapitel des 2. Buches
Mose: Dieser Monat sei der Anfang eurer Monate; der erste sei er
euch unter den Monaten des Jahres' zu beginnen brauchen, weil dieses das
erste Gebot enthält, das Israel aufgetragen wurde. Warum aber fängt
sie mit der Schöpfung an? Weil der Herr, wie es im Psalm heißt,
,seiner Werke Kraft seinem Volk erzählt, um ihm das Erbe der Völker
zu geben' (111, 6). Wenn denn die Völker der Welt (Umot HaOlam) zu
Israel sprechen sollten, ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder
der sieben (kananäischen) Völker eingenommen, so werden (die
Israeliten) ihnen antworteten: ,die ganze Erde gehört dem Heiligen,
gelobt sei Er. Er hat sie erschaffen und er hat sie dem gegeben,
der recht schien in seinen Augen' (Jer 27,5); nach seinem Willen hat Er
sie jenen gegeben und nach seinem Willen sie ihnen genommen und uns gegeben."
Wer annimmt, dass für den mittelalterlichen Kommentator generell
die Autorität des Autors unantastbar ist, wird hier eine erste Überraschung
erleben. Raschi mäkelt schon am ersten Wort der Heiligen Schrift.
Das Buch der Bücher hätte anders anfangen sollen - als mit der
Genesis. Es wäre besser gewesen, gleich mit dem ersten allgemeinen
Gesetz nach dem Exodus zu beginnen. Schließlich bedeutet "Tora",
Weisung - und welche Anweisung sollen wir vorsintflutlichen Geschichten
entnehmen? Ganz anders steht es in dieser Hinsicht mit der angeführten
Alternative aus dem Buch Exodus. Es ist die Quelle des jüdischen
Kalenders - "des" wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch sagte "Juden
Katechismus" (S. R. Hirsch, Ges. Schr., Bd. 1, S. 1 f.) - und setzt
die Zeitrechnung nach der Revolution des Exodus fest. Und ist nicht auch
nach der Genesis der Sinn von Sonne, Mond und Sternen die "Bestimmung
von Festzeiten, von Tagen und Jahren" (Gen 1,14). Warum also beginnt
die Tora nicht mit der Revolution und der Revelation?
Lange Zeit war unbekannt, wer dieser R. Jizchak war, den
Raschi mit seiner Frage zitiert. Inzwischen hat man seine rabbinische
Quelle entdeckt (TanchB §11, Jalk §187). Wenn schon die Frage
Raschis und seiner Quelle, wie Abraham Jehoschua Heschel meinte, "stärkster
Ausdruck" eines legalistischen Judentums ist,2 so ist es die Antwort
Raschis umso mehr. Die Genesis wird sozusagen auf ein Grundbuch reduziert,
dass die Gebietsansprüche und Eigentümerrechte Israels im Rechtsstreit
mit den Völkern festschreibt. Die Bibel beginne also nur deshalb
nicht gleich mit der jüdischen Zeitrechnung, weil sie zuvor die jüdische
Raumordnung absichern wolle. Man kann sich kaum eine nüchternere
Erklärung für das grandiose Sechstagewerk vorstellen. Liegt
in dieser Erklärung nicht eine ungeheuerliche nationalistische Engführung
des universalistischen Textes? Oder fragen wir ganz unbefangen, warum
hat Raschi seinen Torakommentar gerade unter ein solches Motto gestellt?
Das Diktum R. Jizchaks bricht mit dem Psalmzitat ab, das
folgende Streitgespräch zwischen Israel und den Völkern über
das Erbe des heiligen Landes stammt aus einer anderen rabbinischen Quelle
(rGen 1,2), die von Raschi verallgemeinert wird.3 Der Streit um das heilige
Land war zu seiner Zeit in der Tat höchst aktuell. Raschi war vermutlich
55 Jahre alt als sein christlicher Landsmann, Papst Urban II., den 1.
Kreuzzug ausrief. Der Graf der Champagne übernahm das Kommando der
regulären Kreuzheere. Große Haufen von Irregulären fielen
unterdessen auf dem Weg nach Osten über die jüdischen Gemeinden
im Rheinland her und zerstörten die Hochburgen des Talmudstudiums
in Mainz und Worms, wo auch Raschi seine Lehrjahre verbracht hatte. Vier
Jahre später eroberten die Kreuzheere Jerusalem und trieben auch
hier alle Juden in eine Synagoge und brannten sie nieder.4 Dies war der
apokalyptische Hintergrund, vor dem Raschi schrieb. Unbeeindruckt von
Endsieg- und Endzeitlaune der Christenheit erinnert Raschi daran, dass
nur der Lehnsherr der ganzen Erde das Recht auf das Heilige Land verleihen
könne. Gegen diesen Gegenwartsbezug spricht zwar die allgemeine Gelehrtenmeinung,
wonach Raschi seinen Kommentar schon vor dem 1. Kreuzzug vollendet haben
soll. Aber erstens ist bekannt, dass er ihn stets aktualisierte (mahadura
kama, mahadura batra) und zweitens gehörten die Kreuzzugspläne
mindestens seit 1074 zum offiziellen Programm des Reformpapsttums - ein
Projekt, das von Anfang an mit Massakern an Juden in Europa verbunden
war. Es macht also einen guten Sinn, dass Raschi seinen Kommentar mit
der Behauptung des Vorrechts der gedemütigten und geschlagenen Vaterreligion
mitten im Kampf der Tochterreligionen um die Vorherrschaft im Heiligen
Land eröffnet.5 Dabei geht es aber nicht nur um eine Art Gegenkreuzzugspropaganda
"als Antwort für die Christen" (LeTschuwat HaMinim), sein
Anliegen ist vielmehr zeitlos und aktuell.
Das zeigt schon der bis heute anhaltende Protest der Umot
HaOlam (heutige Abkürzung: UNO). Vordergründig geht es dabei
um politische Vorherrschaft, doch eigentlich um die Erdung des Himmels.
Das Wort Gottes soll jedenfalls nicht im Himmel bleiben, es soll auf Erden
Wurzeln schlagen. Die Erde hat umgekehrt nur soviel moralische Existenzberechtigung,
als das Wort Gottes auf ihr gedeiht - deshalb stellt sich von allem Anfang
die territoriale Frage. Wenn das erste Wort des Pentateuch "Am Anfang"
lautet, so sein letztes: "Israel" (Deut 34,12) - und damit ist
angesichts des vorausgehenden Panoramas des Landes zu Füßen
des Propheten (Deut 34,1-5) auch "Erez Israel" gemeint -, ja,
das allerletzte Wort der ganzen hebräischen Bibel lautet WaJa'al,
Und er ziehe hinauf (2 Chr 36,23), also Alija nach Erez Jisrael! Diesen
Zusammenhang von Anfang und Ziel haben Raschi und seine rabbinischen Quellen
im Auge. Zum ersten Wort der Schrift "BeReschit", "Im Anfang
schuf er" lautet der erste Kommentar Raschis: "Dieser Vers sagt:
Erkläre mich!' (Darscheni, weil das hebräische Wort Bereschit
eigentlich eine Genitivergänzung verlangt), so wie ihn unsere Lehrer
erklärt haben (TanB 3, rLev 36,4): für (Be-) die Tora, die (nach
Spr 8,22) das erste (- reschit -) seines Weges (Darko)' genannt wird,
(schuf er Himmel und Erde), für (Be-) Israel, das (nach Jer 2,3)das
erste (- reschit -) seines Ertrages (Tewuato), genannt wird, (schuf er
Himmel und Erde)". Doch Raschi reichen solche erbaulichen Erklärungen
nicht, er will sich an den Wortsinn der Schrift halten: "Ich aber",
meint er ungewohnt unbescheiden, "komme nur, den einfachen Sinn des
Verses (WaAni Lo Wati Ela LiFschuto Schel Mikra) (...) zu bringen (Kom
zu Gen 3, 8). Doch seine eigene "einfache", aber keineswegs
simple Erklärung zum ersten Wort der Bibel liefert nur noch eine
weitere Begründung für seine politische Programmatik.
Die drei ersten Verse der Bibel, die fast jeder gebildete
Mensch auswendig kennt, lauten:
"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde ("Punkt, neue
Zeile", sagte André Neher).
Und die Erde war wüst und leer und es war Finsternis auf der Tiefe,
und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es war Licht."
So hat auch die jüdische Schrifttradition den biblischen
Konsonantentext gelesen, der bekanntlich ohne Punkt und Koma dahin fließt
- und durchaus auch anders versifiziert werden könnte. Das Wort "Am
Anfang" verlangt, wie gesagt, nach einer Ergänzung, die angibt
wessen oder wovon der Anfang ausgesagt wird. Die Bibel lässt uns
aber ohne Antwort auf diese Frage, es sei denn, wir lesen mit Raschi,
die drei Verse gegen die geheiligte Schrifttradition in einem Zug und
ordnen die beiden ersten Verse als Nebensätze dem dritten unter.
Dann kommt etwa folgende Satzkonstruktion heraus: "Am Anfang von
Gottes Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch wüst und
leer war (...), da sprach Gott, es werde Licht (...)". Was für
einen Unterschied macht das? Gewöhnlich nehmen wir an, dass die Reihenfolge
der Verse die Reihenfolge der Schöpfungsschritte wiedergibt, als
ob das erste Wort der Schrift nicht BeReschit, sondern BaRischona wäre:
1. Anfang, 2. Chaos, 3. Ordnung. Es irritiert nur ein wenig, dass sich
nach dieser Version zwischen der Erschaffung von Himmel und Erde und der
Erschaffung des Lichts noch einmal ein tiefer Abgrund auftut und alles
zwischenzeitlich ins sprichwörtliche Tohuwabohu der Wasserwelten
zurückfällt. Nach Raschis Version fängt hingegen alles
schön mit dem Wort Gottes und dem Licht an; das urzeitliche Chaos
ist von vornherein überwunden und der Blick richtet sich gleich auf
die vertraute Ordnung der Dinge. Raschi entmythisiert und entmystifiziert
die Genesis und befreit die ersten Verse der Schrift vom ganzen Ballast
dunkler mythischer und mystischer, metaphysischer und kosmologischer Spekulationen,
die an ihnen sonst haften: die Genesis verbreitet sich nicht über
den Kampf gegen den vorzeitlichen Chaosdrachen, sie unterhält uns
nicht über verborgene erste Ursachen, sie macht den Weg gleich frei
für menschliche, geschichtliche, politische Fragen, die Raschi dann
auch sofort anschneidet. Gewiß, die jüdische Philosophie und
Mystik, haben diese ersten Verse der Genesis weiterhin arg strapaziert
- aber der Kommentar von Raschi wirkte wie eine Ausnüchterungszelle
gegen den spekulativen Überschwang.
Raschis Humanismus
Seit fast 900 Jahren wandern die Augen jüdischer Leser mit der Frage
unruhig zwischen dem Bibeltext und dem Raschikommentar hin und her: "Was
sagt Raschi dazu?" Man kann sich fragen, weshalb sich ausgerechnet
dieser Kommentar bis heute behauptet hat. Das hat sicher etwas mit seiner
Entstehungszeit zu tun, die die Historiker die "Renaissance des 12.
Jahrhunderts" nennen und auf das letzte Drittel des 11. Jh. zurückdatieren.6
Die Basis für diese Renaissance war ein demographischer, technischer
und wirtschaftlicher Aufschwung, der vom Bürgertum der Städte
getragen wurde, insbesondere auch von jüdischen Kaufleuten und Finanzagenten.7
Die neue Urbanität, Diversität, Mobilität und Internationalität
erfasste die Heimatstadt Raschis, Troyes in der Champagne,8 und mehr noch
die Rheinmetropolen Mainz und Worms, wo er studiert hatte. Damit hängt
ein Realismus zusammen, eine wache Neugier für die großen und
kleinen Dinge dieser Welt, die uns in den Kommentaren Raschis auf Schritt
und Tritt begegnen. Etwa sein nachhaltiges Interesse für Chronologie
und Geographie, für Sprachen und Bräuche, für humane und
politische Motive, für handwerkliche und wirtschaftliche Techniken.9
Die literalistische Schrifterklärung beschränkt sich allerdings
nicht auf biblische und talmudische Realia, sie kann auch, wie Raschi
in der Einleitung zu seinem Hohelied-Kommentar sagt, einen poetischen
Text allegorisch erklären, aber ohne Zweifel fördert sie dabei
eine Vorliebe für sprachliche Formen, materielle Bedingungen, lebensnahe
Bedeutungen. Mit diesem Realismus hängt ein nie erlahmender Rationalismus
zusammen, der jedes unbekannte Wort, jeden undurchsichtigen Sachverhalt,
jede intrikate Diskussion der biblischen und talmudischen Literatur restlos
aufklären und verständlich machen will. Gewiss, dieser Rationalismus
begehrt nicht gegen die Autorität der rabbinischen Tradition oder
gegen die althergebrachte Ordnung der Gebote auf, aber er wählt in
der Masse der Überlieferungen die plausibelsten Erklärungen
aus und sucht die Quellen vernünftig zu durchdringen. Damit hängt
schließlich ein pädagogischer Optimismus zusammen, der für
sich alleine schon die große Karriere Raschis in der Schule begründen
würde. Der ältere traditionelle Lernbegriff kommt sehr gut in
einer rabbinischen Lehre über die Urüberlieferung zum Ausdruck:
Moses, heißt es da, lernte (lamad) im Begegnungszelt von Gott, dann
trat sein Bruder Aron ein und Moses wiederholte (shana) für ihn das
Empfangene. Aron setzte sich, seine Söhne traten ein und Moses wiederholte
(shana) zum zweiten Mal. Sie setzten sich, die Ältesten traten und
Moses wiederholte (shana) zum dritten Mal. Die Ältesten setzten sich,
das Volk trat ein, und Moses wiederholte (shana) zum vierten Mal. So hörte
Aron viermal, seine Söhne dreimal, die Ältesten zweimal und
das ganze Volk einmal. Daraufhin verließ Moses das Begegnungszelt
und Aron wiederholte (shana) noch einmal, dann ging Aron und seine Söhne
wiederholten (shanu), dann gingen sie und die Ältesten wiederholten
(shanu) - so hörten ihn alle viermal (bEr 54b). Dieses Verfahren
soll auch Modell für den Schulunterricht sein: alles vier Mal wiederholen!
Dass aber das mechanische Pauken nicht alles ist, zeigt schon die Intervention
R. Akiwas: "Woher kommt es, dass man dem Schüler die Lehren
begründen muss (LeHarot lo panim)? Es heißt nämlich in
der Schrift: Das sind die Rechtssatzungen, die du ihnen vorlegen
sollst'" (Ex 21,1). In seinem Talmudkommentar zur Stelle führt
Raschi aus: "Um (den Lehrer) zu lehren, seinen Wörtern soviel
Bedeutung wie möglich zu geben und, dass er (zum Schüler) nicht
sage, so habe ich es überliefert bekommen, nun begreife selber die
Bedeutung". In seinem Pentateuchkommentar zur angeführten Stelle
(Ex 21,1) steht es noch deutlicher: "Der Heilige sagte zu Moses,
du sollst nicht denken, ich lerne mit ihnen den Abschnitt und das Gesetz
zwei- oder dreimal bis sie in ihrem Munde gleich der Mischna geläufig
sind, und muss mich nicht bemühen, sie die Gründe (te'amim)
und die Erklärung (perush) der Sache begreiflich zu machen; darum
heißt es, dass du ihnen vorlegen sollst, gleich einem gedeckten
Tisch (Shulchan HeAruch), der vor dem Menschen zum Essen bereit steht"
(Mech. z. St.). Nicht umsonst hat Raschi später den Ehrentitel Parschandata
(ironisch nach Est 9,7), "Erklärer des Gesetzes" bekommen.
Die humanistischen Charakterzüge des Werkes Raschis: Literalismus,
Realismus, Rationalismus und pädagogischer Optimismus finden sich
auch in der zeitgenössischen christlichen Bibelwissenschaft wieder.10
Juden wie Christen atmeten die gleiche Atmosphäre der "Renaissance
des 12. Jahrhunderts", was bisher undenkbare starke christlich-jüdische
Wechselwirkungen in der Exegese ermöglicht hat.
Vom Apostel Paulus stammt der Gegensatz der Juden als
Knechte des toten Buchstabens und der Christen als Diener des lebendigen
und freien Geistes (2 Kor 3, 6). Wenn Juden die Bücher Mose lesen,
sagt er in seinem zweiten Brief an die Korinther, dann ist ihr Herz verhangen
(2 Kor 3,14 f.) und sie können den geheimen christlichen Geist des
Buchstabens ihrer Gesetze nicht durchschauen. Deshalb wurde die Synagoge
etwa am Portal des Doms von Worms als eine gebrochene Dame mit verbundenen
Augen dargestellt. Nach dem heiligen Augustin erschöpft sich der
Lebenssinn der blinden Synagoge darin, die unverstandenen Schriften in
alle Ecken und Enden der Welt zu verbreiten und wider Willen für
die Wahrheit des Christentums zu zeugen (Vom Gottesstaat XVIII, 46). Das
jüdische Volk, schreibt er einmal, ist "der Archivar der Christen,
der das Gesetz und die Propheten bewahrt zum Zeugnis der Befreiung der
Kirche, damit wir im Mysterium das ehren, was es durch den Buchstaben
ankündigt" (Contra Faustum 12,13). Aber auch hier spielt die
Herr-Knecht-Dialektik auf Dauer gegen den Herren. Der freie und geistvolle
Herr ist mit der Zeit immer mehr auf seinen emsigen Buchstabenknecht angewiesen
- um den wahren hebräischen Urtext, die hebraica veritas zu verstehen,
wie sie der heilige Hieronymus gegen Augustinus respektvoll nannte. Paulus,
der ja zunächst einmal der eifrige Pharisäer Saulus war, wusste
übrigens sehr gut, dass sich die Juden auch alle möglichen Freiheiten
mit der Schrift nahmen. Es gibt zwar das rabbinische Prinzip: "Kein
Schriftvers verliert die einfache Bedeutung seines Wortlauts (Ejn Mikra
Joze Midei Pschuto, bSchab 63a)", aber an der Stelle im Talmud, wo
es aufgestellt wird, kommt sofort der bezeichnende Einwand: "Mit
achtzehn Jahren hatte ich den ganzen Talmud durchstudiert, und wusste
bis jetzt nicht, dass der Schriftvers nicht die einfache Bedeutung seines
Wortlautes verliert." Im Mittelalter machte sich aber eine Strömung
der jüdischen Schriftauslegung den Schlachtruf: "Zurück
zum Wortsinn (Pschuto Schel Mikra)!" ausdrücklich zur Devise
und ihr wichtigster Vorkämpfer war zunächst Raschi. Damit hat
er gerade auf die Augustiner Hugo von Sankt-Viktor (1097-1141) und Andreas
von Sankt-Viktor (+1175) und auf die Viktoriner Peter Comestor aus Troyes
(+1178) und Herbert von Bosham großen Eindruck gemacht. Der größte
christliche Schriftausleger aus dem 13. Jh., Nikolaus von Lyra (1270 bis
1349), zitiert Raschi in seiner weitverbreiteten Worterklärung zur
ganzen Bibel, der Postilla literalis, fast auf jeder Seite. Er wolle sich,
wie er im zweiten Prolog sagt, nicht nur die Schriften der katholischen
Doktoren, sondern auch der hebräischen, "insbesondere des Rabbi
Salomo, der unter den hebräischen Doktoren besonders verehrt ist",
bedienen.11 Es ging in der Reformation der Spruch um: "Si Lyra non
lyrasset, Lutherus non saltasset" (Wenn Lyra nicht aufgespielt hätte,
hätte Luther nicht getanzt). Tatsächlich hat Luther Lyras Postille
ausgiebig herangezogen und so ist seine Devise: "Das Wort sie sollen
lassen stahn!" auch indirekt ein Echo von Raschis: "Zurück
zum Wortsinn (Pschuto Schel Mikra)! Aber kehren wir von der Reformation
des 16. Jahrhunderts noch einmal zur "Renaissance des 12. Jahrhunderts"
zurück.
Philosophisch kommen in dieser Zeit die Vernunft, die
Natur und der Mensch gegenüber dem Glauben, dem Wunder und Gott und
- dem Teufel wieder zu ihrem Recht. Berengar von Tours (-1088) verteidigt
im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts seine logische Widerlegung der
Verwandlung von Brot und Wein damit, dass der Mensch nur Kraft der Vernunft
Ebenbild Gottes sei (Gen 1,27); unwiderlegliche Vernunftschlüsse
zurückweisen, sei daher mit der Verneinung dieser göttlichen
Bestimmung des Menschen gleichbedeutend. Auch für Raschi beruht die
von der Bibel behauptete Ähnlichkeit des Menschen mit Gott auf seiner
Verstandes- und Vernunfttätigkeit (LeHawin ULHaskil, Kom zu Gen 1,27).
Aber nicht nur der Ketzer Berengar, auch der heilige Anselm (1033-1109)
fordert zur gleichen Zeit einen "Glauben, der die Vernunft sucht"
(fides querens intellectum) und begründet die Vernunft des Glaubens
(ratio fidei) etwa an Gott rein rational (sola ratione) aus dem Denken
(s. seinen ontologischen Gottesbeweis). In seinem Papst Urban II. gewidmeten
Werk, Warum Gott Menschen geworden (Cur Deus homo ca. 1097), stellt er
den Menschen in den Mittelpunkt des christlichen Erlösungsdramas,
das er rational und feudal als Wiedergutmachung der verletzten Ehre Gottes
deutet - und verdammt den Teufel zu einer Nebenrolle (I,7; II, 19-20):
"Vom Menschen" schreibt er "fordere Gott den Sieg über
den Teufel".
Sehen wir uns zum Vergleich einmal an, welche Rolle der
Teufel in Raschis Auslegung des Sündenfalls spielt. Schon in der
biblischen Erzählung wirkt die Schlange nicht mit ihrem Gift, sondern
überlistet mit geschickten Argumenten. Was dem älteren Zeitgenossen
Raschis und unversöhnlichen Feind aller Rede- und Beweiskunst, Petrus
Damiani (1007-1072) in seinem Traktat Über die heilige Einfalt die
Spitze erlaubt, der Teufel sei der Vater aller Rabulisten und Rationalisten.
Der Talmud setzt die Entmythologisierung der Bibel fort und lehrt: "Nicht
die Schlange, die Sünde tötet!" (bBer 33a). Freilich fabulieren
auch Rabbinen gerne über den zwölfflügeligen Erzteufel
Samael, der sich der einst kamelförmigen Schlange bemächtigte
und seine Angriffe auf das Urpaar ritt. Aber auch in dieser, Rabbi Elieser
zugeschriebenen, märchenhaften Nacherzählung der Paradiesgeschichte
aus dem 9. Jh. n., werden nur menschliche, allzumenschliche Motive unterstellt
und der Sündenfall unter dem Spruch der Synagogenväter gestellt:
"Die Eifersucht (Kina), die Gier (Ta'awa) und der Ehrgeiz (Kawod)
bringen den Menschen zu Fall" (mAw 4,28, Pirke DeRabbi Elieser, 13).
Aus Eifersucht verschworen sich nämlich die Engel gegen die Menschen;
beredt weckt der Oberteufel die Gier der Menschen, indem er ihnen weismacht,
der Genuss des verbotenen Baumes verleihe göttliche Kraft (Gen 3,5
u.22); aus Ehrgeiz greift die Frau nach der Frucht und gibt sogleich ihrem
Manne, damit der nicht etwa überlebe und eine andere Frau nehme.
Nach dieser rabbinischen Nacherzählung war also der Neid aller auf
alle der tiefere Grund für die Vertreibung aus dem Paradies.
Raschi knüpft an diese Nacherzählung an, aber
der Teufel wird aus der Fabel ganz gestrichen. Was bleibt sind auch hier
die bekannten menschlichen oder animalischen Beweggründe: Eifersucht,
Gier, Ehrgeiz. Bei Raschi ist es die naive Freizügigkeit der Ureltern,
die das ganze Eifersuchtsdrama provoziert. In der Bibel heißt es:
"Sie waren beide nackt (...) und schämten sich nicht" (Gen
2,25), was Raschi mit älteren Quellen so kommentiert: "Die Schlange
sah sie nackt und vor dem Auge aller dem ehelichen Verkehr hingegeben,
da erwachte ihre Begierde auf Eva" (rGen 18,6). Geschickt erregt
nun die Eifersüchtige den Verdacht, dass Gott mit dem Konsumverbot
nur unliebsame Konkurrenz ausschalten wollte. Die biblische Aussage der
Schlange: "Denn Gott weiß, dass ihr am Tage, da ihr davon esset
(...) Gott gleich werdet (Wihjitem KElohim)" (3,5) ergänzt Raschi
so: "Jeder Handwerker hasst seine Zunftgenossen, (denn) vom Baum
der Erkenntnis hat (Gott) gegessen und die Welt erschaffen". Damit
ist der scheele Blick und die böse Zunge in der Welt und vergiften
unwiderruflich die paradiesische Atmosphäre. Die biblischen Strafen
für den Sündenfall: Kampf zwischen Gott und Mensch, Mann und
Frau, Mutter und Kind, Mensch und Tier, Bauer und Acker (Gen 3,15-19)
sind nur noch die logische Konsequenz.
Interessant ist, wie Raschi die Sünde beschreibt.
Zum Vers: "Als nun die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen"
(3,6), meint er mit älteren Quellen, dass hier die Frau den Baum
bereits mit den Augen der Schlange sah und er ergänzt: "sie
billigte die Worte der Schlange, sie gefielen ihr, und sie glaubte ihr"
(rGen 19,4). Wenn die Frau dann feststellt, "dass der Baum gut sei",
meine sie nicht mehr "gut zu essen", sondern gut für den
in Aussicht gestellten Zweck, "um wie Gott zu werden". Wie seinem
jüngeren Zeitgenossen Peter Abaelard (1079-1142) kommt es Raschi
offenbar nicht auf die Übertretung des Speiseverbots an sich, sondern
auf die innere Sünde vor der äußeren Sünde, auf die
böse Gesinnung an. Abaelard hat in seinem Erkenne Dich selbst! gesagt,
dass die Einwilligung alleine Sünde ist, nicht aber wenn jemand "fremde
Früchte zu begehren beginnt, es aber nicht zur Einwilligung kommen
lässt".12
Raschis Kommentar besteht fast nur aus kurzen Zwischenbemerkungen,
die meist aus Versatzstücken aus der älteren Überlieferung
zusammengesetzt sind, doch in diesem Mosaik erscheint die naive biblische
Fabel wie ein zutiefst menschliches Eifersuchtsdrama. Nach welchen Kriterien
er dabei aus der Masse des Überlieferten auswählt, sagt er selbst
etwas weiter unten in seinem Kommentar zum Vers Gen 3,8: "Und sie
hörten (nach dem Sündenfall) die Stimme Gottes (...)".
"(Dazu) gibt es viele aggadische Midraschim, und unsere Lehrer haben
sie bereits an ihrer Stelle in Genesis Rabba und anderen Sammlungen eingereiht,
ich aber komme nur den einfachen Sinn des Verses und solche erbauliche
Erklärungen (Aggada) zu bringen, welche die Worte des Verses erklärt,
das sich jedes Wort sinngemäß dem Zusammenhang einfügt".
Damit ist der natürliche Sinnzusammenhang der Erzählung gemeint,
der durchaus auch übernatürliche Sachverhalte betreffen kann.
Aber zweifellos befördert die Erforschung des natürlichen Sinnzusammenhangs
auch das Interesse an den, wie Abaelard sie nannte,13 "natürlichen
Ursachen" (naturales causae) und leistet damit in diesem Fall der
Entdämonisierung des Erzählstoffes Vorschub. Diese naturalistische
Tendenz wirkt in der Parschanut des Enkel Raschis und dessen Schüler
R. Schmuel ben Meir (RaSCHbaM), Elieser von Beaugency, Josef Bechor Schor
noch verstärkend. Vermutlich war es diese humanistische Tendenz,
die den Kommentar von Raschi für alle Zeiten fit machte.
Aber wir dürfen den tiefen Graben nicht vergessen,
den die inhumanen Judenverfolgungen während der Kreuzzüge zwischen
Juden und Christen aufgerissen haben. Entsprechend legt sich über
der optimistischen, humanistischen Schicht in Raschis Kommentaren zum
Pentateuch, zu den Propheten und Psalmen mit zunehmender Schärfe
eine apokalyptische, antihumanistische Schicht. Das lässt sich besonders
deutlich am Symbol Edom ablesen.
Edom = Rom = Kirche = Synagoge
Als der verstorbene Papst am 13. April 1986 die große Synagoge in
Rom besuchte, da sagte er zu den Juden: "Ihr seid unsere bevorzugten
Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere
älteren Brüder". In diesem Kompliment steckt eine Ironie,
die dem Papst in diesem Moment sicher nicht bewusst war. Beim Ausdruck
"ältere Brüder" klingt der Spruch für die schwangere
Erzmutter Rebbeka an, die sich über die Unruhe in ihrem Bauch erkundigte:
"Zwei Völker", lautete der Spruch "sind in deinem
Leibe, zwei Reiche scheiden sich aus deinem Schosse. Ein Reich wird stärker
als das andere, der Große wird dem Kleinen dienen" (Raw Ja'awod
Zair, Gen 25,23). Die folgende Geschichte der feindlichen Zwillinge Jakob
und Esau erfüllt sogleich den Rebekka-Spruch. Der jüngere Jakob
bringt den Erstgeborenen Esau mit List um den väterlichen Segen.
Der Zwist zwischen den Zwillingen setzt sich auch in der Geschichte der
Völker Israel und Edom fort, die von Jakob und Esau abstammen (Deut
23,7). Die Edomiter siedelten dieseits und jenseits der Senke zwischen
Totem und Rotem Meer. Zwar wurde Edom noch vor Israel zum Königreich
(Gen 36,31), doch schließlich unterwarfen es die Könige Israels:
Saul, David und Salomon - und bestätigten somit noch einmal den Rebekka-Spruch.
Erst nach dem Untergang des jüdischen Staates und der babylonischen
Gefangenschaft konnten die Edomiter wieder triumphieren. Dafür drohten
ihnen die biblischen Propheten Jeremia (49, 7-22, KL 4,21f.), Owadja (1,
21) und Joel (4, 19) mit endgültiger Vergeltung. Owadjas Prophezeiung
endet mit der Verheißung: "Und es ziehen hinauf die Sieger
auf den Berg Zion, zu richten den Berg Esau, und des Ewigen wird sein
das Königtum" (1,21). In der römischen Zeit wurde der Idumäer
Herodes durch die Gunst Cäsars zum Herrscher über die Juden,
ebenso berühmt durch seine politische List und Grausamkeit wie seine
orientalische Hofhaltung und seine prachtvollen Bauten. Er restaurierte
den Tempel in Jerusalem und errichtete die römische Stadt Cäsarea
am Mittelmeer. Deshalb identifizierten die Prediger der beiden jüdischen
Kriege gegen Rom den ewigen Widersacher Edom mit dem römischen Reich.
Nun begannen die alten Orakel aus der Genesis neu zu sprechen. Die Aussage
des Rebekka-Spruchs: "Ein Reich wird stärker als das andere"
oder auch "- vom anderen" bedeutete in Bezug auf die Gegenwart,
dass Rom und Jerusalem in dieser Welt nicht friedlich koexistieren könnten:
"Cäsarea" - der Sitz des römischen Statthalters -
"und Jerusalem" - der Sitz Gottes -, sagt der Talmud, "wenn
dir jemand sagt: beide sind zerstört, glaube es nicht; beide sind
bewohnt, glaube es nicht. Cäsarea ist zerstört und Jerusalem
ist bewohnt, Jerusalem ist zerstört und Cäsarea bewohnt, glaube
es" (bMeg 6a). Der Schluss des Rebekka-Spruchs: "der Große
wird dem Kleinen dienen" nährte die Hoffnung, dass das große
römische Reich schließlich vom messianischen Reich überwunden
werden wird. Dass es noch nicht soweit ist, hänge einzig von Israel
ab, denn wenn Israel es verdiene "diene (Jaawod) der Große
dem Kleinen", wenn nicht "mache der Große den Kleinen
dienstbar" (Jeawed, rGen 63,7). Auch die Geburtsgeschichte Jakobs
machte Hoffnung. Bekanntlich hielt der Jüngere bei der Geburt die
Ferse Esaus (Akew Esaw) fest (23,26), das sahen die Rabbinen als ein Zeichen,
"dass Esau nicht Zeit haben werde, seine Herrschaft zu vollenden,
da werde sich schon Jakob erheben und sie ihm nehmen" (rGen 63,9,
PRE 32). Israel ist Rom gleichsam dicht auf den Fersen und in der Nacht
der Fremdherrschaft kündigt sich bereits die Morgenröte der
Befreiung an (rGen 6,3). Nach der Christianisierung des Römischen
Reiches und der Verschärfung der antijüdischen Gesetze übertrugen
die Rabbinen den negativen Esau-Typus einfach auf das Christentum und
erwarteten weiterhin die Erfüllung des Rebekka-Spruchs. Die um den
väterlichen Segen rivalisierenden Brüder passten auch bestens
auf die um den göttlichen Segen konkurrierende Synagoge und Kirche.14
Doch der neue Widersacher zahlte diesmal mit gleicher Münze heim.
Die altkirchlichen Schriftsteller drehten die Jakob/Esau - Israel/Edom
-Typologie einfach um. Im ersten erhaltenen Traktat Wider die Juden von
Tertullian heißt es dazu: "Da also das Volk oder der Stamm
der Juden zeitlich früher und durch die Gnade des ersten Ranges im
Gesetz älter ist, und da tatsächlich erkannt wird, dass das
unsere jüngeren Alters im Zeitverlauf ist, (...), so muss ohne Zweifel
nach der Verfügung des göttlichen Spruchs das frühere und
ältere Volk, also das jüdische, dem jüngeren dienen; das
jüngere Volk aber, also das christliche, muss das ältere übertreffen"
(Adversus Judaeos 1,4-8, CCL 2, S. 1340 f.). Nun waren also die Juden
flugs zum älteren Bruder Esau und die Kirche zum wahren Israel (verus
Israel) geworden - jener diesem dienstbar. Aus der homiletischen Figur
wurde bald bittere politische Realität. Die Knechtschaft der Juden
als servi camerae wurde im mittelalterlichen Judenrecht buchstäblich
festgeschrieben.
Die Juden hielten freilich an ihrer Israel-Identität
fest. In der Zeit des 1. Kreuzzuges, der auch ein Entscheidungskampf zwischen
den drei abrahamitischen Religionen war, meinte Raschi, zum Rebekka-Spruch:
"Zwei Reiche scheiden sich aus deinem Schoße", dass die
Reiche des Guten und des Bösen radikal und apokalyptisch entgegengesetzt
sind; über die Fortsetzung "ein Reich wird stärker als
das andere" wiederholt Raschi die angeführte rabbinische Auslegung,
dass die Kapitale beider Reiche nur eine auf Kosten der anderen leben
könne; Jakob auf den Fersen Esaus (Akew Esaw), schließlich
ist ihm wie seiner rabbinischen Quelle eine Zusicherung des Aufstiegs
Israels vor dem Untergang Edoms, er hört mit anderen Worten schon
in der Nacht der Verfolgung die Fußstapfen des siegreichen Messias
(Ikwata DeMeschicha). Kein Zweifel, Raschi hatte bei diesen Zitaten aus
der rabbinischen Literatur die Verhältnisse seiner Zeit vor Augen
und bekräftigte gegen die christliche Umkehrung die alte rabbinische
Jakob/Esau - Israel/Edom-Typologie. Wo die Bibel ein nuanciertes Bild
der feindlichen Zwillinge zeichnet, bemüht sich der Kommentator mit
seinen Quellen alle Zweideutigkeiten zu beseitigen und bis zum Widersinn,
Jakob zu entlasten und Esau zu belasten. Die holzschnittartige Vereinfachung
der guten und bösen Charaktere dient hier der Propaganda.15 Dazu
zwei Beispiele: Zur Geburtsgeschichte Esaus: "Und der Erste kam heraus,
rötlich, am ganzen Körper wie ein härener Mantel, und sie
nannten ihn Esau" (Gen 25,25), heißt es bei Raschi nach den
rabbinischen Quellen folgendermaßen: "Rot, das war ein Zeichen,
dass er Blut vergießen würde (rBer 63,8). Wie ein härener
Mantel, voll Haar, wie ein wollenes Tuch (KeTalit Schel Zemer); auf altfranzösisch:
pelukida (peluche, Wollsamt).
Man nannte ihn Esau, alle nannten ihn so, weil er vollständig
entwickelt (Na'asse WeNigmar) und mit seinem Haar ausgestattet war wie
einer, der viele Jahre alt ist". Der brutale Charakter Esaus liegt
nach dieser Erklärung schon bei der Geburt unabänderlich fest,
er ist von Anfang an zum Blutvergießer prädestiniert, inhuman,
ohne Aussichten auf Besserung. Das härene Gewand ist für Raschi
vielleicht auch ein Hinweis auf die Kutte der Mönche. Zur Hochzeitsgeschichte
Esaus: "Als Esau vierzig Jahre alt war, nahm er zur Frau Jehudith,
die Tochter Elons, des Chetiten, und Basemat, die Tochter Be'eris, der
Chetiten. Und sie waren ein Herzeleid für Isaak und Rebekka"
(Gen 26, 34-35) heißt es bei Raschi nach den rabbinischen Quellen:
"Vierzig Jahre alt, Esau war einer Sau gleich; so heißt es
(Ps. 80, 14), es knickt sie nieder die Sau des Waldes; wenn die Sau sich
hinlegt, streckt sie ihre (gespaltenen) Klauen aus, um zu sagen, seht,
ich bin rein; so raubten und vergewaltigten auch diese und stellten sich
fromm dabei; die ganzen vierzig Jahre hatte Esau Frauen ihren Männern
abgejagt und vergewaltigt; als er nun vierzig Jahre alt war, sagte er,
mein Vater hat mit vierzig Jahren geheiratet, so werde ich auch so tun."16
Die Sau galt allgemein als Sinnbild der Ausschweifung (luxuria) und Schlemmerei
(gula), doch hier betrifft der Vorwurf gegen Esau seine Scheinheiligkeit.
Die Sau besitzt immerhin eines der beiden Merkmale der reinen Tiere (gespaltene
Hufe) - und zwar das äußere und täuscht über das
Fehlen des inneren Merkmals (Wiederkäuen) hinweg (rGen 68,1; rLev
13,5, auf jiddisch heißt das: "a koscher chaserfissl").
Ebenso gibt sich hier der Schürzenjäger als guter Sohn aus.
Am Wechsel von der Einzahl in die Mehrzahl kann man erkennen, dass es
Raschi nicht wie seiner Quelle nur um den Charakter des biblischen Esaus
geht, sondern auch um seine zeitgenössischen Ebenbilder, die sich
als fromme Christen ausgaben, aber mordend, raubend und vergewaltigend
durch die Lande zogen. Das christliche Judenbild war genau spiegelverkehrt.
Die asketischen Christen haben alle Fleischlichkeit dieser Welt auf die
Juden projiziert und an ihnen verfolgt. Für den Typus des Juden haben
sie genau das gleiche Bild verwendet, die sogenannte "Judensau".
Das Exemplar der Stadtpfarrkirche zu Wittenberg (1320) hat noch Luther
kommentiert und eine verwitterte Judensau kann man noch heute am Dom zu
Regensburg besichtigen.17 Der Ausgang dieses Kampfes um Israel und Edom
ist für Raschi ganz unzweifelhaft. Das zitierte Schlusswort des Propheten
Owadja kommentiert er bezeichnenderweise wie folgt (wir schalten den Raschi-Kommentar
im fett gedruckten Bibelvers ein): "Und es ziehen die Fürsten
Israels hinauf als Sieger auf den Berg Zion, zu richten, um Esau zu bestrafen,
für das, was er Israel angetan hat, den Berg Esau, nach der aramäischen
Übersetzung: die große Stadt Esaus, d. i. - nach dem Raschi-Manuskript
- Rom, und des Ewigen wird sein das Königtum, um dich zu lehren,
dass sein Reich erst vollendet sein wird, wenn er die Bosheit Esaus (im
Druck: Amaleks) bestraft haben wird" (1,21). Den Kirchenbehörden
ist diese verschlüsselte jüdische Polemik nicht verborgen geblieben.
In den Pariser Kontroversen, die in der Mitte des 13. Jh. zur Verdammung
des Talmud führten, wird unter vielen anderen auch diese Auslegung
des "tief in der Hölle" schmorenden Raschi zitiert und
die Übersetzer fügen zu "Berg Esau" erklärend
die Entschlüsselung: "die Kirche" und "Rom",
zur Bestrafung "Esaus" - "der Christenheit" hinzu.18
Edom schlug gnadenlos zurück und verbrannte das gesamte rabbinische
Schrifttum Frankreichs. Damit endete abrupt die unvergleichliche Renaissance
des rabbinischen Judentums in Nordfrankreich. Die apokalyptische Chiffre
für die zunehmend desolate Lage der Juden in der Christenheit hat
auch Raschi geprägt.
Israel, der Gottesknecht
Eine der umstrittensten biblischen Weissagungen ist das sogenannte vierte
Gottesknechtlied (Ewed H', Jes 52,13-53). Der zweite Jesaja, dem es zugeschrieben
wird, spricht zu den gefangenen Juden im babylonischen Exil, besser gesagt,
er bläst ihnen vor dem Szenario des Untergangs des babylonischen
Reiches den Marsch zum Exodus in die Heimat Juda und Jerusalem. Seine
atemlosen Zukunftsvisionen gipfeln im Lied vom unerhörten Aufstieg
des "Gottesknechts" aus tiefster Erniedrigung zur höchsten
Anerkennung (Jes 52,13-15). Alle dachten, der Knecht habe sein Unglück
verdient, nun angesichts seines Erfolges erkennen sie ihren Irrtum und
bekennen ihre Verblendung und Schuld: "3Er wurde verachtet und von
den Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, an Krankheit gewohnt, einer
vor dem man wegschaut - auch wir schätzten ihn nicht. 4Aber gerade
er hat unsere Krankheit getragen, und unsere Schmerzen ertragen. Wir glaubten,
er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und erniedrigt. 5Doch er
wurde durchbohrt von (Mi) unseren Verbrechen, zermalmt von (Mi) unseren
Sünden, zu unserem Heil wurde er gezüchtigt, durch seine Wunden
sind wir geheilt. 6Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging
für sich seinen Weg, doch der Herr ließ auf ihn treffen die
Schuld von uns allen." Der Prophet bestätigt dieses Bekenntnis
und malt die Verfolgung des Knechts in noch grelleren Farben: 7Er wurde
misshandelt, aber er schwieg, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt
wird und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, so öffnete
auch er nicht seinen Mund. 8Durch Haft und Gericht wurde er geschleppt,
doch wen von seinen Zeitgenossen kümmerte es? Er wurde abgeschnitten
aus dem Land der Lebenden, und wegen der Verbrechen meines Volkes kam
die Plage über sie. 9Bei den Bösen gab man ihm sein Grab, unter
Übeltätern sein Grabmal, obwohl er keine Gewalt geübt und
kein trügerisches Wort gesprochen hat. 10Doch der Herr fand gefallen
an dem mit Krankheit Zerschlagenen, wenn er sein Leben zum Schuldopfer
(Ascham) gebracht, wird er Nachkommen sehen und lange Leben (...)"
Die verfolgte Unschuld, die verblendeten Schuldiger, das stellvertretende
Leiden, die Grablegung und Auferstehung - Christen erinnerte das alles
unwiderstehlich an die Passion Christi und die Evangelien sind denn auch
voller Anspielungen auf dieses Lied. In der älteren christlichen
Bibelexegese hieß es einfach: Passio Domini nostri Jesu Christi
secundum Isaiam. Auch die ältere jüdische Bibelexegese identifizierte
mitunter die mysteriöse Figur des Gottesknechts mit dem leidenden
und triumphierenden Messias (z. B. Targum Jonathan ben Usiel). Doch Raschi
schlägt eine andere Deutung vor, die sehr gut zur Bildersprache des
zweiten Jesaja passt. Der Gottesknecht sei eine Allegorie Israels und
in seinem Schicksal spiegele sich das Los des jüdischen Volkes unter
den Völkern wieder. "So ist es die Art der Propheten",
erklärt er, "er erwähnt das gesamte Israel als einen einzigen
Menschen (Kol Jisrael KeIsch Echad) und so spricht er auch hier über
das Haus Israel" (Kom zu Jes 53, 3). Insbesondere passt das Knechtsschicksal
buchstäblich auf die hochmittelalterliche conditio judaica, die servitudo
judaeorum. Das Bekenntnis: "Wir glaubten, er sei von Gott geschlagen"
(Jes 53, 4), die Raschi mit: "Wir waren überzeugt, dass (Israel)
Gott verhasst war" wiedergibt, hätte in der Tat auch von einem
reuigen mittelalterlichen Theologen gesprochen werden können, der
seit den Tagen der Apostel und Wüstenväter der felsenfesten
Überzeugung war, dass Gott die Juden verworfen hätte. Raschis
Auslegungen der Verfolgung des Knechts spielt direkt auf die zeitgenössische
Judenverfolgung an. Von den Kreuzfahrern vor die Wahl Tod oder Taufe gestellt,
wählten viele Juden lieber den kollektiven Freitod oder die Massenhinrichtung.
Jesajas schwieriger Vers 9: "Bei den Bösen gab man ihm sein
Grab, unter Übeltätern (Aschir, eigentlich Reicher) sein Grabmal,
obwohl er keine Gewalt geübt und kein trügerisches Wort gesprochen
hat", gibt Raschi mit einigen sprachlichen Dehnübungen so wieder:
"Er gab sich entsprechend dem Urteil der Bösen sein Grab und
dem Urteile des Reichen entsprechend waren seine Todesarten, obwohl er
keine Gewalt geübt und kein trügerisches Wort gesprochen hat"
und kommentiert seine Zeit fest im Blick: "Er lieferte sich jedem
Begräbnis aus, das die Bösen der Völker über ihn verhängten,
denn sie bestraften sie mit dem Tod und dem Begräbnis von Eseln in
Gedärmen von Hunden. Entsprechend dem Urteil der Bösen: Er willigte
ein, dem Urteil der Bösen entsprechend begraben zu werden und verleugnete
nicht den lebendigen Gott. Und nach dem Urteil des Reichen: Entsprechend
dem Urteil des Herrschenden lieferte er sich selber allen möglichen
Todesarten aus, die dieser über ihn verhängte, weil er nicht
abtrünnig werden und das Schlechte und Gewalt üben wollte, wie
die Völker in deren Mitte er wohnte. Kein trügerisches Wort
gesprochen hat: nämlich in der Anerkennung des Götzendienstes".
Eine philologische Notwendigkeit die Verse so zu kommentieren, gibt es
nicht, wohl aber eine psychologische. Hier macht sich das von Jakob Katz
aus den zeitgenössischen Quellen so eindrucksvoll beschriebene unbedingte
moralische Überlegenheitsgefühl der jüdischen Opfer gegenüber
den christlichen Peinigern Luft: besser als Jude Unrecht leiden, denn
als Christ Unrecht tun, besser ein toter, unbestatteter Jude als ein judenverfolgender
Christ.19 Für Raschi präfiguriert das Gottesknechtlied jedenfalls
nicht die Passion Jesu Christi unter Kaiser Tiberius, sondern die Passion
des jüdischen Volkes in der Christenheit unter Papst Urban II.
Aber hier geht es nicht, wie Joel E. Rembaum20 und Amos
Funkenstein meinten,21 um die Vertauschung der Rollen und Vorzeichen,
wie z. B. Marc Chagall den Gekreuzigten während des Holocaust mit
Gebetsschal und Gebetsriemen malte, als Symbol des ausgemordeten jüdischen
Volkes. Die Behauptung, Raschi hätte das "Dogma vom stellvertretenden
Leiden zur Erlösung anderer" vom Christentum übernommen
und gegen das Christentum gekehrt, hält einer sorgfältigen Lektüre
seines Kommentars nicht stand. Er unterscheidet zwei grundverschiedene
Leidensdeutungen, die von Israel und die von den Völkern. Wenn Raschi
die biblische Aussage der Völker, "er hat unsere Krankheit getragen",
damit kommentiert, dass "alle Völker durch die Züchtigungen
Israels gesühnt werden" (Mitkaperim Bissurin Schel Jisrael,
Kom zu 53,4), "damit in der ganzen Welt Friede sei" (zu 5) und
"Gott die Welt nicht vernichtet" (zu 6), dann zitiert er eine
fremde, nach seinem Gegenwartsbezug christliche Deutung der Judennot ("so
werden die Völker zueinander sprechen", Kom zu 53,2; 6, 8).
Man könnte diese Leidensdeutung eine soziale oder mit Funkenstein
eine "soteriologische" nennen.22 Sie besteht in der Einsicht:
"Das Leid hat die Falschen getroffen und damit die richtigen - nämlich
die Bekenner - verschont." Auf subtile Weise ist dieses Bekenntnis
aber auch eine Entlastung, denn indem es die sakrifizielle Funktion der
Opfer (sacrifice) für das Heil und den Frieden aller unterstreicht,
unterschlägt es zugleich die viktimologische Funktion der Opfer (victim)
als Sündenböcke. Die Aussage der Völker "er wurde
durchbohrt von (Mi) unseren Verbrechen" wird aus christlicher Voreingenommenheit
im Sinne einer Stellvertretung des unschuldigen Opfers für Schuldige
mit: "er wurde durchbohrt für un-sere Verbrechen" übersetzt,
doch schon die Bibel sagt deutlich, dass damit nicht irgendwelche Verbrechen,
sondern die am Gottesknecht selbst verübten, in der Deutung Raschis
also, die antijüdischen Verbrechen gemeint sind. Und genauso hat
es Raschi gedeutet, wenn er die Züchtigungen der Buße für
die Völker der Welt (Kom 53,4) im Kommentar zu Jes 53, 8 mit den
Züchtigungen des Gottesknechts durch die Völker der Welt gleichsetzt
und vom "Druck, indem er von ihnen gehalten worden war", vom
"Gericht der Züchtigungen, die er bisher hatte ertragen müssen"
spricht.
Davon unterscheidet sich die jüdische Leidensdeutung,
die man die legale oder mit Funkenstein die "kathartische" nennen
könnte und die in der liturgischen Formel zum Ausdruck kommt: "Um
unserer Sünden willen sind wir aus unserem Land verbannt worden"
(Mipnei Chataenu Galinu MeArzenu). Nach dieser Deutung, die Raschi aus
dem Part des Propheten im Lied bezieht, hat das Exil der Juden einen genau
definierten Straf- und Sühnesinn: die Nachkommen büßen
für die Vorfahren und opfern sich für die Nachfahren. Gewiss,
auch hier spielt die Stellvertretung der Gerechten für die Sünder
eine wichtige Rolle; sie übernehmen wie die Hohepriester Verantwortung
für die Frevler (Raschi verweist im Kom zu 53,11 auf Num 18,1, vgl.
auch ebd. Kom v. Raschi), sie ersetzen wie das "Schuldopfer"
(Ascham 53,10) oder das Sühnegeld (amende, franz. im Kom. Raschis)
den Schaden. Doch hier büßt das Kollektiv nur seine eigenen,
nicht fremde Sünden - und schon gar nicht die Sünden, die andere
an ihm verbrochen haben. Dafür verlangt der Gottesknecht vielmehr
nachdrücklich Rechenschaft. Die Aussage über den Gottesknecht
"So wird er viele Völker zerstreuen" (Jes 52,15) kommentiert
Raschi im Sinne der retributiven göttlichen Gerechtigkeit wie folgt:
"so wird auch jetzt seine Hand stark sein, und Israel wird
die Hörner der Götzendiener, die sie verstreut haben, niederwerfen"
(frei nach Sacharja 2,4).
Doch diese innerjüdische Leidensdeutung ist den christlichen
Zeitgenossen unbekannt, denn der Knecht "schwieg", "öffnete
auch nicht seinen Mund". Und außerdem: "Wen von seinen
Zeitgenossen kümmerte es denn?" Den Vers "Wen von seinen
Zeitgenossen kümmerte es denn? Er wurde abgeschnitten aus dem Land
der Lebenden, und wegen der Verbrechen meines Volkes" (8) kommentiert
Raschi im Sinn der kathartischen Leidensdeutung wie folgt: "Wen von
seinen Zeitgenossen kümmerte es? nämlich die Mühsale, die
ihn betroffen, dass er von Anfang an abgeschnitten war aus dem Lande der
Lebenden, worunter Palästina zu verstehen ist, wohin wegen der Verbrechen
meines Volkes die Plage über die Gerechten, die unter ihnen waren
kamen." Beide Leidensdeutungen sind unvereinbar. Für die reuigen
Christen ist der jüdische Gottesknecht eine Art Atlas, dem die Schuld
der Welt auf die Schultern geladen wird, ein Blitzableiter inmitten des
göttlichen Zorngewitters, ein Sündenbock, der auch noch für
die Schuld seiner Peiniger einzustehen hat. Die Leiden haben aber für
die Juden einen ganz anderen Sinn. Der Gottesknecht ist die Verkörperung
der Verantwortungs- und Pflichtgemeinschaft, die ihre vergangene Schuld
abarbeitet und sich auf eine glänzende Zukunft vorbereitet. Die Juden
lassen ihre Leiden nicht kapern und zur Rechtfertigung ihrer Feinde missbrauchen.
Aber dem christlich-jüdischen Quidproquo, das Raschi hier zwischen
den Zeilen schildert, sitzen auch noch so vollendete Interpreten wie Amos
Funkenstein auf. Auch weil die Bilder von geschlagenen und ihre Gräber
grabenden Juden, von Bergen unbestatteter jüdischer Leichen, sich
seit dem 1. Kreuzzug häuften, hat sich Raschis Israeldeutung des
Gottesknechts in der klassischen Parschanut als die plausibelste durchgesetzt
(Abraham ibn Esra, David Kimchi, Don Isaac Abravanel) und sein Kommentar
zum Gottesknechtlied ist zum Ort der jüdischen Abrechnung mit einer
judenfeindlichen Christologie geworden.23
Wir dürfen nicht verschweigen, dass es wissenschaftlich
kontrovers ist, ob Raschi überhaupt auf die Ereignisse des 1. Kreuzzuges
reagiert hat. Simon Schwarzfuchs hat die radikale These vertreten, dass
es in seinen Kommentaren überhaupt keine nachweisbaren Spuren dieser
Ereignisse gäbe und daraus geschlossen, dass es sich um rein lokale
Ereignisse gehandelt haben muss, die den im 12. Jh. einsetzenden unvergleichlichen
Aufschwung der Talmudstudien in Nordfrankreich und des Chassidismus im
Rheinland nicht beeinträchtigt haben.24 Andererseits hat Avraham
Grossman in den Handschriften des Psalmenkommentars Raschis, eine bittere
antichristliche Polemik ausgemacht, die eindeutig auf diese Ereignisse
des Kreuzzuges alludieren.25 Die Bösewichter der Psalmen bezieht
er vornehmlich auf Esau und erinnert an die, "die sich freiwillig
der Metzelei hingaben und sich töten ließen für die Heiligung
des Namens" (ScheHitnadwu Azmam LaTewach ULJahareg Al Keduschat Schemo).26
Die von uns angeführten Kommentare Raschis zu Gen 1,1 und Jesaja
53 werden aber von den meisten Gelehrten als Reaktionen auf die Propaganda
und die Leiden des 1. Kreuzzuges verstanden.27 Zwei weitere Sorten von
Raschi-Texten werden meistens klaglos auf die jüdischen Kreuzzugsleiden
bezogen: zum einen einige seiner Rechtsentscheide und zum anderen seine
heilige Poesie (Pijjutim). Obwohl Raschi in seinem Kommentar zum Gottesknechtlied
und anderswo das Lob der Märtyrer anstimmt, hat er in seinen zukunftsweisenden
Rechtsentscheiden die Solidarität mit den Zwangsgetauften bekräftigt.28
Er wandte auf sie den Grundsatz an: "'Israel hat gesündigt'
(Jos 7, 11) bedeutet: obwohl er gesündigt hat, ist er (immer noch)
ein Jude" (bSan 44a), der ursprünglich gar nichts mit diesem
Fall zu tun, ja, überhaupt gar keine halachische Relevanz hatte.29
1941 veröffentlichte A. M. Habermann in Jerusalem die Pijjutim Raschis
und bezog sie auf den "Holocaust des 1. Kreuzzuges".30 In seinem
6. Pijjut an die "vollkommene Tora" (Tora HaTemima) zieht Raschi
einen Moment lang den Vorhang vor dem allzu vertrauten Bild des Pogroms
weg. Wir sehen, wie der gewalttätige Mob in die Synagoge einbricht,
die Schriftrollen schändet und die Gelehrten erschlägt. Der
gelehrte Dichter klagt der Tora:
"Bring deinen Trost, deine altbewährte Hilfe
Hülle dich in schwarzen Gewändern /
wie eine trauernde Witwe
Räche die Beleidigung deiner Märtyrer /
das Blutvergießen deiner Gelehrten
Deiner von den Abtrünnigen /
ausgerotteten Schüler,
Die auch deinen Vorhang zerrissen /
deine Buchstaben zertrampelten
und mit wütender Raserei /
deine Zelte verwüsteten"
(Nr. 6, 39-44, ebd. S. 23).
Diese Szenen haben sich vom 1. Kreuzzug an wiederholt.31
Während des zweiten Kreuzzugs drangen z. B. Kreuzfahrer in die Synagoge
von Ramerupt ein, zerrissen eine Torarolle und verletzten den Enkel Raschis,
Rabbenu Jakob Meir Tam, mit den charakteristischen Worten: "Du bist
ein Großer Israels, deshalb rächen wir an dir den Gekreuzigten
und werden dich so verletzen wie ihr unseren Gott verletzt habt, mit fünf
Verletzungen".32 Die jüdischen Erfahrung mit dem Holocaust haben
im Aschkenas 1000 Jahre vor dem Ereignis, das man als solches zu bezeichnen
pflegt, im Zeitalter Raschis angefangen - und keiner hat das aschkenasische
Judentum mehr als Raschi für dieses Kalvarium ausgerüstet.
Fußnoten
1 Menahem Banitt, Rashi Interpreter of the Biblical Letter, Tel Aviv 1985.
2 Ders., Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, 32,
S. 253 f.
3 Während dort jedenfalls in unserem Text Akum steht, heißt
es bei Raschi Umot HaOlam. Die Argumentation des Midrasch ist übrigens
ausführlicher. Es gibt kein Naturrecht eines Volkes auf ein Land
- alle Besitzer haben frühere Einwohner verdrängt. Über
derartige Streitgespräche vor Alexander d. Gr., vgl. bSan 91a.
4 Norman Golb, New Light on the Persecution of French Jews at the Time
of the first Crusade, AAJR, Bd34 (1966), S. 24.
5 Vgl. auch Raschis Responsum, Nr. 255, Ed. I. Elfenbein, S. 298 f.
6 Die sie bis ins letzte Drittel des 11. Jahrhunderts zurückdatierten,
Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, üb. v. E. Bohm, Ffm, Wien, Berlin
1982, S. 133. Der Raschikommentar ist vermutlich zwischen 1085-92/93 entstanden.
7 I. A. Agus, Rashi and his School, in: Cecil Roth (Hg.), The World History
of the Jewish People, Bd. 11: The Dark Ages. Jews in Christian Europe
711-1096, London 1966, S. 210-248.
8 Gérard Nahon, Les communautés juives de la Champagne médievale
(XIe-XIIe Siècles), in Rachi, Ouvrage Collectif, Paris 1974, S.
33-78.
9 Esra Shereshevsky, Rashi, the Man and His World, New York 1982, versucht
aufgrund solcher Stellen die Lebenswelt Raschis zu rekonstruieren, S.
153-239.
10 Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages (1964), 3.
Aufl. 1978, S. 149-156.
11 Vgl. Herman Heilperin, Nicolas de Lyra and Rashi: The minor Prophets,
American Academy for Jewish Research, Texts and Studies, Bd. 1, Rashis
Anniversary Volume, New York 1941, S. 115-147.
12 Ethica 3, S. 24, Oxford 1971, üb. v. K. Flasch.
13 Wir wissen freilich nicht, wieviel Kenntnisse wir Raschi in christlicher
Philosophie und Theologie unterstellen dürfen, und es gibt keinen
Beweis, dass er auch nur einen einzigen der von uns angeführten Namen
kannte, dass aber eine Teilnahme an der geistigen Bewegung und Beweglichkeit
der Zeit nicht unwahrscheinlich ist, kann man mit einem allgemeinen Argument
untermauern. Die zunehmende Abschließung gegen die christliche Umwelt
war erst eine Langzeitfolge des 1. Kreuzzuges. In der Zeit Raschis beweisen
die zahlreichen Adversus-Judaeus-Traktate, etwa der des Petrus Damiani,
dass die christliche Theologie, insbesondere hinsichtlich des Literalsinns
der Schrift, Juden gegenüber unter starkem Rechtfertigungsdruck stand
und Disputationen wohl auf der Tagesordnung standen. Die christliche Freude
an der Dialektik hatte ja einen unübersehbaren schaustellerischen
Charakter. So wissen wir z. B. vom Redeauftritt von Anselm von Besate
(11. Jhd.) in Mainz. Angesichts eines nur mäßigen Erfolges,
will er sein Auditorium zur Stellungnahme zwingen, denn nichts tun hieße
nichts tun, was unmöglich ist, Q. e. d.
14 Vgl. Gerson D. Cohen, Esau as Symbol in Early Medieval Thought, in:
Alexander Altmann (Hg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge,
Mass. 1967, S. 19-48.
15 Vgl. meinen Aufsatz: Die Aschkenasische Spiritualität, in: Peter
Dinzelbacher (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen
Raum, Bd. 2, Hoch- und Spätmittelalter, Schöningh Verlag, Paderborn
2000, S. 375-396 u. 481-488.
16 BerR 65, 1.
17 Vgl. Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur, München 1921, 201
ff.
18 Extractiones de talmut, Nationalbibliothek Paris, Ms. lat. 16558, zit.
bei Herman Hailperin, De l'utilisation par les chrétiens de l'uvre
de Rachi (1125-1300), in: Raschi. Ouvrage Collectif, Paris 1974, S. 191.
Zu Raschi vgl. Praefatio (97a-99b). Über die Verurteilung des Talmud,
vgl. Kurt Schubert, Das christlich-jüdische Religionsgespräch
im 12. und 13. Jahrhundert, in: Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal (Hg.),
Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien, Köln 1991, S.
223-250.
19 Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in
Medieval and Modern Times, Oxford 1961, Kap 7.
20 The Development of a Jewish Exegetical Tradition Regarding Isaiah 53,
in: Harvard Theological Review 75 (1982), S. 296 f.
21 Die Dialektik der Assimilation, in: Ulrich Raulff, Gary Smith (Hg.),
Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, Berlin 1999, S. 215
f.
22 Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen (1993),
dtsch. v. Christian Wiese, Ffm 1995, S. 137/138. Das Beispiel ist auch
hier wieder der einseitig gedeutete Raschi.
23 Vgl. Natan Hutterer aus Auschwitz, Die mittelalterlichen jüdischen
Kommentare zu den Ebed-JHWH-Liedern des Jesaja (Diss in Bern), Berlin
1938.
24 in: R. Bonfil, M. ben-Sasson, J. Hacker (Hg.), Tarbut WeChewra BeToldot
Israel BiMe HaBenajim, Jerusalem 1989, S. 259 f. Etwas nuancierter Robert
Chazan, European Jewry and the First Crusade, Berkeley, Los Angeles, London
1987.
25 Rashi's Commentary on the Psalms and the Jewish-Christian Disputation,
in: FS M. M. Ahrend, 1996, S. 59-74 (Hebr.); Ders., The Cultural and Social
Background of Jewish Martyrdom in Germany in 1096, in: A. Haverkamp (Hg.),
Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge (Arbeitskreis für
mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen, Bd. XLVII),
Sigmaringen 1999, S. 78/79.
26 Kom zu Ps 47,10: "Es versammelten sich (in seiner Stadt) die Fürsten
der Völker" (Nedive amim).
27 Abraham Berliner, Beiträge zur Geschichte der Raschi-Commentare,
Berlin 1903, S. 33/34 (lässt nur Kom zu Jes 53,9 als eine solche
Anspielung gelten); Marianne Awerbuch, Christlich-jüdische Begegenung
im Zeitalter der Frühscholastik, München 1980, S. 117-125 (zu
Jes 53); Gerard Nahon, Rashi en son temps, in: G. Sed-Rajna, Rashi 1040-1990,
Hommage à E. E. Urbach, Paris 1993, S. 57 (Kom. zu Gen 1,1); Eleazar
Touitou, L'uvre de Rashi. Exégèse biblique et éthique
juive, ebd., S. 27.
28 Hans-Georg von Mutius, Rechtsentscheide Raschis aus Troyes (1040-1105),
2 Halbbde. (J. Maier (Hg.), Judentum und Umwelt Bd. 15/I u. II), Ffm 1986/87,
z. B. 2. Halbbd., S. 125.
29 I. Elfenbein, Tschuwot Rashi, 173; V. Mutius, 2. Hlbbd., S. 62.
30 P'ticha, S. 7 u. Ders., The Beginning of Hebrew Poetry in Italy and
Northern Europe, 2, in: Cecil Roth, The World History of the Jewish People,
B. 11, op. cit, S. 272. Den Ausdruck "Holocaust of the First Crusade"
gebraucht Irving A. Agus bereits 1966 in dem angeführten Artikel
über Raschi und seine Schule, ebd. S. 212.
31 Für die Standardrechtfertigung, die sowohl in jüdischen wie
christlichen Chroniken auftaucht, vgl. die Autobiographie von Guibert
de Nogent, De vita sua II,5.
32 A. M. Habermann, Gezerot Aschkenaz WeZarfat, Jerusalem 1945, S. 121.
aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt
des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, April
2005
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