Parschandata. Raschi und seine Zeit
von Daniel Krochmalnik

Vor 900 Jahren starb Rabbi Schlomo ben Jizchak, der nach den Anfangsbuchstaben seines Namens RaSCHI genannt wird, in seiner Heimatstadt Troyes in der Champagne. Er war der jüdische Kommentator schlechthin und hat fast die ganze Bibel und den ganzen Talmud erklärt. In seinem unverwechselbaren Lapidarstil gibt er so präzise wie möglich den einfachen Wortsinn (Pschat) der schwierigsten biblischen Stellen und kniffligsten rabbinischen Debatten an und behilft sich dabei gelegentlich auch mit insgesamt ca. 5000 altfranzösischen Übersetzungen.1 Für gläubige Juden ist es bis heute undenkbar, die Bibel oder den Talmud anders als durch die Brille Raschis zu lesen. Für die enorme Wertschätzung Raschis spricht, dass der erste datierte hebräische Druck überhaupt gerade sein Kommentar zum Pentateuch war - ohne den kommentierten Text (Reggio di Calabria 1475).

Der erste Raschi
Der Kommentar beginnt mit folgender einleitenden Erklärung: "R. Jizchak sagte, die Tora hätte erst bei dem 12. Kapitel des 2. Buches Mose: ‚Dieser Monat sei der Anfang eurer Monate; der erste sei er euch unter den Monaten des Jahres' zu beginnen brauchen, weil dieses das erste Gebot enthält, das Israel aufgetragen wurde. Warum aber fängt sie mit der Schöpfung an? Weil der Herr, wie es im Psalm heißt, ,seiner Werke Kraft seinem Volk erzählt, um ihm das Erbe der Völker zu geben' (111, 6). Wenn denn die Völker der Welt (Umot HaOlam) zu Israel sprechen sollten, ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben (kananäischen) Völker eingenommen, so werden (die Israeliten) ihnen antworteten: ,die ganze Erde gehört dem Heiligen, gelobt sei Er. Er hat sie erschaffen und er hat sie‚ dem gegeben, der recht schien in seinen Augen' (Jer 27,5); nach seinem Willen hat Er sie jenen gegeben und nach seinem Willen sie ihnen genommen und uns gegeben." Wer annimmt, dass für den mittelalterlichen Kommentator generell die Autorität des Autors unantastbar ist, wird hier eine erste Überraschung erleben. Raschi mäkelt schon am ersten Wort der Heiligen Schrift. Das Buch der Bücher hätte anders anfangen sollen - als mit der Genesis. Es wäre besser gewesen, gleich mit dem ersten allgemeinen Gesetz nach dem Exodus zu beginnen. Schließlich bedeutet "Tora", Weisung - und welche Anweisung sollen wir vorsintflutlichen Geschichten entnehmen? Ganz anders steht es in dieser Hinsicht mit der angeführten Alternative aus dem Buch Exodus. Es ist die Quelle des jüdischen Kalenders - "des" wie Rabbiner Samson Raphael Hirsch sagte "Juden Katechismus" (S. R. Hirsch, Ges. Schr., Bd. 1, S. 1 f.) - und setzt die Zeitrechnung nach der Revolution des Exodus fest. Und ist nicht auch nach der Genesis der Sinn von Sonne, Mond und Sternen die "Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren" (Gen 1,14). Warum also beginnt die Tora nicht mit der Revolution und der Revelation?

Lange Zeit war unbekannt, wer dieser R. Jizchak war, den Raschi mit seiner Frage zitiert. Inzwischen hat man seine rabbinische Quelle entdeckt (TanchB §11, Jalk §187). Wenn schon die Frage Raschis und seiner Quelle, wie Abraham Jehoschua Heschel meinte, "stärkster Ausdruck" eines legalistischen Judentums ist,2 so ist es die Antwort Raschis umso mehr. Die Genesis wird sozusagen auf ein Grundbuch reduziert, dass die Gebietsansprüche und Eigentümerrechte Israels im Rechtsstreit mit den Völkern festschreibt. Die Bibel beginne also nur deshalb nicht gleich mit der jüdischen Zeitrechnung, weil sie zuvor die jüdische Raumordnung absichern wolle. Man kann sich kaum eine nüchternere Erklärung für das grandiose Sechstagewerk vorstellen. Liegt in dieser Erklärung nicht eine ungeheuerliche nationalistische Engführung des universalistischen Textes? Oder fragen wir ganz unbefangen, warum hat Raschi seinen Torakommentar gerade unter ein solches Motto gestellt?

Das Diktum R. Jizchaks bricht mit dem Psalmzitat ab, das folgende Streitgespräch zwischen Israel und den Völkern über das Erbe des heiligen Landes stammt aus einer anderen rabbinischen Quelle (rGen 1,2), die von Raschi verallgemeinert wird.3 Der Streit um das heilige Land war zu seiner Zeit in der Tat höchst aktuell. Raschi war vermutlich 55 Jahre alt als sein christlicher Landsmann, Papst Urban II., den 1. Kreuzzug ausrief. Der Graf der Champagne übernahm das Kommando der regulären Kreuzheere. Große Haufen von Irregulären fielen unterdessen auf dem Weg nach Osten über die jüdischen Gemeinden im Rheinland her und zerstörten die Hochburgen des Talmudstudiums in Mainz und Worms, wo auch Raschi seine Lehrjahre verbracht hatte. Vier Jahre später eroberten die Kreuzheere Jerusalem und trieben auch hier alle Juden in eine Synagoge und brannten sie nieder.4 Dies war der apokalyptische Hintergrund, vor dem Raschi schrieb. Unbeeindruckt von Endsieg- und Endzeitlaune der Christenheit erinnert Raschi daran, dass nur der Lehnsherr der ganzen Erde das Recht auf das Heilige Land verleihen könne. Gegen diesen Gegenwartsbezug spricht zwar die allgemeine Gelehrtenmeinung, wonach Raschi seinen Kommentar schon vor dem 1. Kreuzzug vollendet haben soll. Aber erstens ist bekannt, dass er ihn stets aktualisierte (mahadura kama, mahadura batra) und zweitens gehörten die Kreuzzugspläne mindestens seit 1074 zum offiziellen Programm des Reformpapsttums - ein Projekt, das von Anfang an mit Massakern an Juden in Europa verbunden war. Es macht also einen guten Sinn, dass Raschi seinen Kommentar mit der Behauptung des Vorrechts der gedemütigten und geschlagenen Vaterreligion mitten im Kampf der Tochterreligionen um die Vorherrschaft im Heiligen Land eröffnet.5 Dabei geht es aber nicht nur um eine Art Gegenkreuzzugspropaganda "als Antwort für die Christen" (LeTschuwat HaMinim), sein Anliegen ist vielmehr zeitlos und aktuell.

Das zeigt schon der bis heute anhaltende Protest der Umot HaOlam (heutige Abkürzung: UNO). Vordergründig geht es dabei um politische Vorherrschaft, doch eigentlich um die Erdung des Himmels. Das Wort Gottes soll jedenfalls nicht im Himmel bleiben, es soll auf Erden Wurzeln schlagen. Die Erde hat umgekehrt nur soviel moralische Existenzberechtigung, als das Wort Gottes auf ihr gedeiht - deshalb stellt sich von allem Anfang die territoriale Frage. Wenn das erste Wort des Pentateuch "Am Anfang" lautet, so sein letztes: "Israel" (Deut 34,12) - und damit ist angesichts des vorausgehenden Panoramas des Landes zu Füßen des Propheten (Deut 34,1-5) auch "Erez Israel" gemeint -, ja, das allerletzte Wort der ganzen hebräischen Bibel lautet WaJa'al, Und er ziehe hinauf (2 Chr 36,23), also Alija nach Erez Jisrael! Diesen Zusammenhang von Anfang und Ziel haben Raschi und seine rabbinischen Quellen im Auge. Zum ersten Wort der Schrift "BeReschit", "Im Anfang schuf er" lautet der erste Kommentar Raschis: "Dieser Vers sagt: ‚Erkläre mich!' (Darscheni, weil das hebräische Wort Bereschit eigentlich eine Genitivergänzung verlangt), so wie ihn unsere Lehrer erklärt haben (TanB 3, rLev 36,4): für (Be-) die Tora, die (nach Spr 8,22) das erste (- reschit -) seines Weges (Darko)' genannt wird, (schuf er Himmel und Erde), für (Be-) Israel, das (nach Jer 2,3)‚das erste (- reschit -) seines Ertrages (Tewuato), genannt wird, (schuf er Himmel und Erde)". Doch Raschi reichen solche erbaulichen Erklärungen nicht, er will sich an den Wortsinn der Schrift halten: "Ich aber", meint er ungewohnt unbescheiden, "komme nur, den einfachen Sinn des Verses (WaAni Lo Wati Ela LiFschuto Schel Mikra) (...) zu bringen (Kom zu Gen 3, 8). Doch seine eigene "einfache", aber keineswegs simple Erklärung zum ersten Wort der Bibel liefert nur noch eine weitere Begründung für seine politische Programmatik.

Die drei ersten Verse der Bibel, die fast jeder gebildete Mensch auswendig kennt, lauten:
"Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde ("Punkt, neue Zeile", sagte André Neher).
Und die Erde war wüst und leer und es war Finsternis auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.
Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es war Licht."

So hat auch die jüdische Schrifttradition den biblischen Konsonantentext gelesen, der bekanntlich ohne Punkt und Koma dahin fließt - und durchaus auch anders versifiziert werden könnte. Das Wort "Am Anfang" verlangt, wie gesagt, nach einer Ergänzung, die angibt wessen oder wovon der Anfang ausgesagt wird. Die Bibel lässt uns aber ohne Antwort auf diese Frage, es sei denn, wir lesen mit Raschi, die drei Verse gegen die geheiligte Schrifttradition in einem Zug und ordnen die beiden ersten Verse als Nebensätze dem dritten unter. Dann kommt etwa folgende Satzkonstruktion heraus: "Am Anfang von Gottes Erschaffung von Himmel und Erde, als die Erde noch wüst und leer war (...), da sprach Gott, es werde Licht (...)". Was für einen Unterschied macht das? Gewöhnlich nehmen wir an, dass die Reihenfolge der Verse die Reihenfolge der Schöpfungsschritte wiedergibt, als ob das erste Wort der Schrift nicht BeReschit, sondern BaRischona wäre: 1. Anfang, 2. Chaos, 3. Ordnung. Es irritiert nur ein wenig, dass sich nach dieser Version zwischen der Erschaffung von Himmel und Erde und der Erschaffung des Lichts noch einmal ein tiefer Abgrund auftut und alles zwischenzeitlich ins sprichwörtliche Tohuwabohu der Wasserwelten zurückfällt. Nach Raschis Version fängt hingegen alles schön mit dem Wort Gottes und dem Licht an; das urzeitliche Chaos ist von vornherein überwunden und der Blick richtet sich gleich auf die vertraute Ordnung der Dinge. Raschi entmythisiert und entmystifiziert die Genesis und befreit die ersten Verse der Schrift vom ganzen Ballast dunkler mythischer und mystischer, metaphysischer und kosmologischer Spekulationen, die an ihnen sonst haften: die Genesis verbreitet sich nicht über den Kampf gegen den vorzeitlichen Chaosdrachen, sie unterhält uns nicht über verborgene erste Ursachen, sie macht den Weg gleich frei für menschliche, geschichtliche, politische Fragen, die Raschi dann auch sofort anschneidet. Gewiß, die jüdische Philosophie und Mystik, haben diese ersten Verse der Genesis weiterhin arg strapaziert - aber der Kommentar von Raschi wirkte wie eine Ausnüchterungszelle gegen den spekulativen Überschwang.

Raschis Humanismus
Seit fast 900 Jahren wandern die Augen jüdischer Leser mit der Frage unruhig zwischen dem Bibeltext und dem Raschikommentar hin und her: "Was sagt Raschi dazu?" Man kann sich fragen, weshalb sich ausgerechnet dieser Kommentar bis heute behauptet hat. Das hat sicher etwas mit seiner Entstehungszeit zu tun, die die Historiker die "Renaissance des 12. Jahrhunderts" nennen und auf das letzte Drittel des 11. Jh. zurückdatieren.6 Die Basis für diese Renaissance war ein demographischer, technischer und wirtschaftlicher Aufschwung, der vom Bürgertum der Städte getragen wurde, insbesondere auch von jüdischen Kaufleuten und Finanzagenten.7 Die neue Urbanität, Diversität, Mobilität und Internationalität erfasste die Heimatstadt Raschis, Troyes in der Champagne,8 und mehr noch die Rheinmetropolen Mainz und Worms, wo er studiert hatte. Damit hängt ein Realismus zusammen, eine wache Neugier für die großen und kleinen Dinge dieser Welt, die uns in den Kommentaren Raschis auf Schritt und Tritt begegnen. Etwa sein nachhaltiges Interesse für Chronologie und Geographie, für Sprachen und Bräuche, für humane und politische Motive, für handwerkliche und wirtschaftliche Techniken.9 Die literalistische Schrifterklärung beschränkt sich allerdings nicht auf biblische und talmudische Realia, sie kann auch, wie Raschi in der Einleitung zu seinem Hohelied-Kommentar sagt, einen poetischen Text allegorisch erklären, aber ohne Zweifel fördert sie dabei eine Vorliebe für sprachliche Formen, materielle Bedingungen, lebensnahe Bedeutungen. Mit diesem Realismus hängt ein nie erlahmender Rationalismus zusammen, der jedes unbekannte Wort, jeden undurchsichtigen Sachverhalt, jede intrikate Diskussion der biblischen und talmudischen Literatur restlos aufklären und verständlich machen will. Gewiss, dieser Rationalismus begehrt nicht gegen die Autorität der rabbinischen Tradition oder gegen die althergebrachte Ordnung der Gebote auf, aber er wählt in der Masse der Überlieferungen die plausibelsten Erklärungen aus und sucht die Quellen vernünftig zu durchdringen. Damit hängt schließlich ein pädagogischer Optimismus zusammen, der für sich alleine schon die große Karriere Raschis in der Schule begründen würde. Der ältere traditionelle Lernbegriff kommt sehr gut in einer rabbinischen Lehre über die Urüberlieferung zum Ausdruck: Moses, heißt es da, lernte (lamad) im Begegnungszelt von Gott, dann trat sein Bruder Aron ein und Moses wiederholte (shana) für ihn das Empfangene. Aron setzte sich, seine Söhne traten ein und Moses wiederholte (shana) zum zweiten Mal. Sie setzten sich, die Ältesten traten und Moses wiederholte (shana) zum dritten Mal. Die Ältesten setzten sich, das Volk trat ein, und Moses wiederholte (shana) zum vierten Mal. So hörte Aron viermal, seine Söhne dreimal, die Ältesten zweimal und das ganze Volk einmal. Daraufhin verließ Moses das Begegnungszelt und Aron wiederholte (shana) noch einmal, dann ging Aron und seine Söhne wiederholten (shanu), dann gingen sie und die Ältesten wiederholten (shanu) - so hörten ihn alle viermal (bEr 54b). Dieses Verfahren soll auch Modell für den Schulunterricht sein: alles vier Mal wiederholen! Dass aber das mechanische Pauken nicht alles ist, zeigt schon die Intervention R. Akiwas: "Woher kommt es, dass man dem Schüler die Lehren begründen muss (LeHarot lo panim)? Es heißt nämlich in der Schrift: ‚Das sind die Rechtssatzungen, die du ihnen vorlegen sollst'" (Ex 21,1). In seinem Talmudkommentar zur Stelle führt Raschi aus: "Um (den Lehrer) zu lehren, seinen Wörtern soviel Bedeutung wie möglich zu geben und, dass er (zum Schüler) nicht sage, so habe ich es überliefert bekommen, nun begreife selber die Bedeutung". In seinem Pentateuchkommentar zur angeführten Stelle (Ex 21,1) steht es noch deutlicher: "Der Heilige sagte zu Moses, du sollst nicht denken, ich lerne mit ihnen den Abschnitt und das Gesetz zwei- oder dreimal bis sie in ihrem Munde gleich der Mischna geläufig sind, und muss mich nicht bemühen, sie die Gründe (te'amim) und die Erklärung (perush) der Sache begreiflich zu machen; darum heißt es, dass du ihnen vorlegen sollst, gleich einem gedeckten Tisch (Shulchan HeAruch), der vor dem Menschen zum Essen bereit steht" (Mech. z. St.). Nicht umsonst hat Raschi später den Ehrentitel Parschandata (ironisch nach Est 9,7), "Erklärer des Gesetzes" bekommen. Die humanistischen Charakterzüge des Werkes Raschis: Literalismus, Realismus, Rationalismus und pädagogischer Optimismus finden sich auch in der zeitgenössischen christlichen Bibelwissenschaft wieder.10 Juden wie Christen atmeten die gleiche Atmosphäre der "Renaissance des 12. Jahrhunderts", was bisher undenkbare starke christlich-jüdische Wechselwirkungen in der Exegese ermöglicht hat.

Vom Apostel Paulus stammt der Gegensatz der Juden als Knechte des toten Buchstabens und der Christen als Diener des lebendigen und freien Geistes (2 Kor 3, 6). Wenn Juden die Bücher Mose lesen, sagt er in seinem zweiten Brief an die Korinther, dann ist ihr Herz verhangen (2 Kor 3,14 f.) und sie können den geheimen christlichen Geist des Buchstabens ihrer Gesetze nicht durchschauen. Deshalb wurde die Synagoge etwa am Portal des Doms von Worms als eine gebrochene Dame mit verbundenen Augen dargestellt. Nach dem heiligen Augustin erschöpft sich der Lebenssinn der blinden Synagoge darin, die unverstandenen Schriften in alle Ecken und Enden der Welt zu verbreiten und wider Willen für die Wahrheit des Christentums zu zeugen (Vom Gottesstaat XVIII, 46). Das jüdische Volk, schreibt er einmal, ist "der Archivar der Christen, der das Gesetz und die Propheten bewahrt zum Zeugnis der Befreiung der Kirche, damit wir im Mysterium das ehren, was es durch den Buchstaben ankündigt" (Contra Faustum 12,13). Aber auch hier spielt die Herr-Knecht-Dialektik auf Dauer gegen den Herren. Der freie und geistvolle Herr ist mit der Zeit immer mehr auf seinen emsigen Buchstabenknecht angewiesen - um den wahren hebräischen Urtext, die hebraica veritas zu verstehen, wie sie der heilige Hieronymus gegen Augustinus respektvoll nannte. Paulus, der ja zunächst einmal der eifrige Pharisäer Saulus war, wusste übrigens sehr gut, dass sich die Juden auch alle möglichen Freiheiten mit der Schrift nahmen. Es gibt zwar das rabbinische Prinzip: "Kein Schriftvers verliert die einfache Bedeutung seines Wortlauts (Ejn Mikra Joze Midei Pschuto, bSchab 63a)", aber an der Stelle im Talmud, wo es aufgestellt wird, kommt sofort der bezeichnende Einwand: "Mit achtzehn Jahren hatte ich den ganzen Talmud durchstudiert, und wusste bis jetzt nicht, dass der Schriftvers nicht die einfache Bedeutung seines Wortlautes verliert." Im Mittelalter machte sich aber eine Strömung der jüdischen Schriftauslegung den Schlachtruf: "Zurück zum Wortsinn (Pschuto Schel Mikra)!" ausdrücklich zur Devise und ihr wichtigster Vorkämpfer war zunächst Raschi. Damit hat er gerade auf die Augustiner Hugo von Sankt-Viktor (1097-1141) und Andreas von Sankt-Viktor (+1175) und auf die Viktoriner Peter Comestor aus Troyes (+1178) und Herbert von Bosham großen Eindruck gemacht. Der größte christliche Schriftausleger aus dem 13. Jh., Nikolaus von Lyra (1270 bis 1349), zitiert Raschi in seiner weitverbreiteten Worterklärung zur ganzen Bibel, der Postilla literalis, fast auf jeder Seite. Er wolle sich, wie er im zweiten Prolog sagt, nicht nur die Schriften der katholischen Doktoren, sondern auch der hebräischen, "insbesondere des Rabbi Salomo, der unter den hebräischen Doktoren besonders verehrt ist", bedienen.11 Es ging in der Reformation der Spruch um: "Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset" (Wenn Lyra nicht aufgespielt hätte, hätte Luther nicht getanzt). Tatsächlich hat Luther Lyras Postille ausgiebig herangezogen und so ist seine Devise: "Das Wort sie sollen lassen stahn!" auch indirekt ein Echo von Raschis: "Zurück zum Wortsinn (Pschuto Schel Mikra)! Aber kehren wir von der Reformation des 16. Jahrhunderts noch einmal zur "Renaissance des 12. Jahrhunderts" zurück.

Philosophisch kommen in dieser Zeit die Vernunft, die Natur und der Mensch gegenüber dem Glauben, dem Wunder und Gott und - dem Teufel wieder zu ihrem Recht. Berengar von Tours (-1088) verteidigt im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts seine logische Widerlegung der Verwandlung von Brot und Wein damit, dass der Mensch nur Kraft der Vernunft Ebenbild Gottes sei (Gen 1,27); unwiderlegliche Vernunftschlüsse zurückweisen, sei daher mit der Verneinung dieser göttlichen Bestimmung des Menschen gleichbedeutend. Auch für Raschi beruht die von der Bibel behauptete Ähnlichkeit des Menschen mit Gott auf seiner Verstandes- und Vernunfttätigkeit (LeHawin ULHaskil, Kom zu Gen 1,27). Aber nicht nur der Ketzer Berengar, auch der heilige Anselm (1033-1109) fordert zur gleichen Zeit einen "Glauben, der die Vernunft sucht" (fides querens intellectum) und begründet die Vernunft des Glaubens (ratio fidei) etwa an Gott rein rational (sola ratione) aus dem Denken (s. seinen ontologischen Gottesbeweis). In seinem Papst Urban II. gewidmeten Werk, Warum Gott Menschen geworden (Cur Deus homo ca. 1097), stellt er den Menschen in den Mittelpunkt des christlichen Erlösungsdramas, das er rational und feudal als Wiedergutmachung der verletzten Ehre Gottes deutet - und verdammt den Teufel zu einer Nebenrolle (I,7; II, 19-20): "Vom Menschen" schreibt er "fordere Gott den Sieg über den Teufel".

Sehen wir uns zum Vergleich einmal an, welche Rolle der Teufel in Raschis Auslegung des Sündenfalls spielt. Schon in der biblischen Erzählung wirkt die Schlange nicht mit ihrem Gift, sondern überlistet mit geschickten Argumenten. Was dem älteren Zeitgenossen Raschis und unversöhnlichen Feind aller Rede- und Beweiskunst, Petrus Damiani (1007-1072) in seinem Traktat Über die heilige Einfalt die Spitze erlaubt, der Teufel sei der Vater aller Rabulisten und Rationalisten. Der Talmud setzt die Entmythologisierung der Bibel fort und lehrt: "Nicht die Schlange, die Sünde tötet!" (bBer 33a). Freilich fabulieren auch Rabbinen gerne über den zwölfflügeligen Erzteufel Samael, der sich der einst kamelförmigen Schlange bemächtigte und seine Angriffe auf das Urpaar ritt. Aber auch in dieser, Rabbi Elieser zugeschriebenen, märchenhaften Nacherzählung der Paradiesgeschichte aus dem 9. Jh. n., werden nur menschliche, allzumenschliche Motive unterstellt und der Sündenfall unter dem Spruch der Synagogenväter gestellt: "Die Eifersucht (Kina), die Gier (Ta'awa) und der Ehrgeiz (Kawod) bringen den Menschen zu Fall" (mAw 4,28, Pirke DeRabbi Elieser, 13). Aus Eifersucht verschworen sich nämlich die Engel gegen die Menschen; beredt weckt der Oberteufel die Gier der Menschen, indem er ihnen weismacht, der Genuss des verbotenen Baumes verleihe göttliche Kraft (Gen 3,5 u.22); aus Ehrgeiz greift die Frau nach der Frucht und gibt sogleich ihrem Manne, damit der nicht etwa überlebe und eine andere Frau nehme. Nach dieser rabbinischen Nacherzählung war also der Neid aller auf alle der tiefere Grund für die Vertreibung aus dem Paradies.

Raschi knüpft an diese Nacherzählung an, aber der Teufel wird aus der Fabel ganz gestrichen. Was bleibt sind auch hier die bekannten menschlichen oder animalischen Beweggründe: Eifersucht, Gier, Ehrgeiz. Bei Raschi ist es die naive Freizügigkeit der Ureltern, die das ganze Eifersuchtsdrama provoziert. In der Bibel heißt es: "Sie waren beide nackt (...) und schämten sich nicht" (Gen 2,25), was Raschi mit älteren Quellen so kommentiert: "Die Schlange sah sie nackt und vor dem Auge aller dem ehelichen Verkehr hingegeben, da erwachte ihre Begierde auf Eva" (rGen 18,6). Geschickt erregt nun die Eifersüchtige den Verdacht, dass Gott mit dem Konsumverbot nur unliebsame Konkurrenz ausschalten wollte. Die biblische Aussage der Schlange: "Denn Gott weiß, dass ihr am Tage, da ihr davon esset (...) Gott gleich werdet (Wihjitem KElohim)" (3,5) ergänzt Raschi so: "Jeder Handwerker hasst seine Zunftgenossen, (denn) vom Baum der Erkenntnis hat (Gott) gegessen und die Welt erschaffen". Damit ist der scheele Blick und die böse Zunge in der Welt und vergiften unwiderruflich die paradiesische Atmosphäre. Die biblischen Strafen für den Sündenfall: Kampf zwischen Gott und Mensch, Mann und Frau, Mutter und Kind, Mensch und Tier, Bauer und Acker (Gen 3,15-19) sind nur noch die logische Konsequenz.

Interessant ist, wie Raschi die Sünde beschreibt. Zum Vers: "Als nun die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen" (3,6), meint er mit älteren Quellen, dass hier die Frau den Baum bereits mit den Augen der Schlange sah und er ergänzt: "sie billigte die Worte der Schlange, sie gefielen ihr, und sie glaubte ihr" (rGen 19,4). Wenn die Frau dann feststellt, "dass der Baum gut sei", meine sie nicht mehr "gut zu essen", sondern gut für den in Aussicht gestellten Zweck, "um wie Gott zu werden". Wie seinem jüngeren Zeitgenossen Peter Abaelard (1079-1142) kommt es Raschi offenbar nicht auf die Übertretung des Speiseverbots an sich, sondern auf die innere Sünde vor der äußeren Sünde, auf die böse Gesinnung an. Abaelard hat in seinem Erkenne Dich selbst! gesagt, dass die Einwilligung alleine Sünde ist, nicht aber wenn jemand "fremde Früchte zu begehren beginnt, es aber nicht zur Einwilligung kommen lässt".12

Raschis Kommentar besteht fast nur aus kurzen Zwischenbemerkungen, die meist aus Versatzstücken aus der älteren Überlieferung zusammengesetzt sind, doch in diesem Mosaik erscheint die naive biblische Fabel wie ein zutiefst menschliches Eifersuchtsdrama. Nach welchen Kriterien er dabei aus der Masse des Überlieferten auswählt, sagt er selbst etwas weiter unten in seinem Kommentar zum Vers Gen 3,8: "Und sie hörten (nach dem Sündenfall) die Stimme Gottes (...)". "(Dazu) gibt es viele aggadische Midraschim, und unsere Lehrer haben sie bereits an ihrer Stelle in Genesis Rabba und anderen Sammlungen eingereiht, ich aber komme nur den einfachen Sinn des Verses und solche erbauliche Erklärungen (Aggada) zu bringen, welche die Worte des Verses erklärt, das sich jedes Wort sinngemäß dem Zusammenhang einfügt". Damit ist der natürliche Sinnzusammenhang der Erzählung gemeint, der durchaus auch übernatürliche Sachverhalte betreffen kann. Aber zweifellos befördert die Erforschung des natürlichen Sinnzusammenhangs auch das Interesse an den, wie Abaelard sie nannte,13 "natürlichen Ursachen" (naturales causae) und leistet damit in diesem Fall der Entdämonisierung des Erzählstoffes Vorschub. Diese naturalistische Tendenz wirkt in der Parschanut des Enkel Raschis und dessen Schüler R. Schmuel ben Meir (RaSCHbaM), Elieser von Beaugency, Josef Bechor Schor noch verstärkend. Vermutlich war es diese humanistische Tendenz, die den Kommentar von Raschi für alle Zeiten fit machte.

Aber wir dürfen den tiefen Graben nicht vergessen, den die inhumanen Judenverfolgungen während der Kreuzzüge zwischen Juden und Christen aufgerissen haben. Entsprechend legt sich über der optimistischen, humanistischen Schicht in Raschis Kommentaren zum Pentateuch, zu den Propheten und Psalmen mit zunehmender Schärfe eine apokalyptische, antihumanistische Schicht. Das lässt sich besonders deutlich am Symbol Edom ablesen.

Edom = Rom = Kirche = Synagoge
Als der verstorbene Papst am 13. April 1986 die große Synagoge in Rom besuchte, da sagte er zu den Juden: "Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder". In diesem Kompliment steckt eine Ironie, die dem Papst in diesem Moment sicher nicht bewusst war. Beim Ausdruck "ältere Brüder" klingt der Spruch für die schwangere Erzmutter Rebbeka an, die sich über die Unruhe in ihrem Bauch erkundigte: "Zwei Völker", lautete der Spruch "sind in deinem Leibe, zwei Reiche scheiden sich aus deinem Schosse. Ein Reich wird stärker als das andere, der Große wird dem Kleinen dienen" (Raw Ja'awod Zair, Gen 25,23). Die folgende Geschichte der feindlichen Zwillinge Jakob und Esau erfüllt sogleich den Rebekka-Spruch. Der jüngere Jakob bringt den Erstgeborenen Esau mit List um den väterlichen Segen. Der Zwist zwischen den Zwillingen setzt sich auch in der Geschichte der Völker Israel und Edom fort, die von Jakob und Esau abstammen (Deut 23,7). Die Edomiter siedelten dieseits und jenseits der Senke zwischen Totem und Rotem Meer. Zwar wurde Edom noch vor Israel zum Königreich (Gen 36,31), doch schließlich unterwarfen es die Könige Israels: Saul, David und Salomon - und bestätigten somit noch einmal den Rebekka-Spruch. Erst nach dem Untergang des jüdischen Staates und der babylonischen Gefangenschaft konnten die Edomiter wieder triumphieren. Dafür drohten ihnen die biblischen Propheten Jeremia (49, 7-22, KL 4,21f.), Owadja (1, 21) und Joel (4, 19) mit endgültiger Vergeltung. Owadjas Prophezeiung endet mit der Verheißung: "Und es ziehen hinauf die Sieger auf den Berg Zion, zu richten den Berg Esau, und des Ewigen wird sein das Königtum" (1,21). In der römischen Zeit wurde der Idumäer Herodes durch die Gunst Cäsars zum Herrscher über die Juden, ebenso berühmt durch seine politische List und Grausamkeit wie seine orientalische Hofhaltung und seine prachtvollen Bauten. Er restaurierte den Tempel in Jerusalem und errichtete die römische Stadt Cäsarea am Mittelmeer. Deshalb identifizierten die Prediger der beiden jüdischen Kriege gegen Rom den ewigen Widersacher Edom mit dem römischen Reich. Nun begannen die alten Orakel aus der Genesis neu zu sprechen. Die Aussage des Rebekka-Spruchs: "Ein Reich wird stärker als das andere" oder auch "- vom anderen" bedeutete in Bezug auf die Gegenwart, dass Rom und Jerusalem in dieser Welt nicht friedlich koexistieren könnten: "Cäsarea" - der Sitz des römischen Statthalters - "und Jerusalem" - der Sitz Gottes -, sagt der Talmud, "wenn dir jemand sagt: beide sind zerstört, glaube es nicht; beide sind bewohnt, glaube es nicht. Cäsarea ist zerstört und Jerusalem ist bewohnt, Jerusalem ist zerstört und Cäsarea bewohnt, glaube es" (bMeg 6a). Der Schluss des Rebekka-Spruchs: "der Große wird dem Kleinen dienen" nährte die Hoffnung, dass das große römische Reich schließlich vom messianischen Reich überwunden werden wird. Dass es noch nicht soweit ist, hänge einzig von Israel ab, denn wenn Israel es verdiene "diene (Jaawod) der Große dem Kleinen", wenn nicht "mache der Große den Kleinen dienstbar" (Jeawed, rGen 63,7). Auch die Geburtsgeschichte Jakobs machte Hoffnung. Bekanntlich hielt der Jüngere bei der Geburt die Ferse Esaus (Akew Esaw) fest (23,26), das sahen die Rabbinen als ein Zeichen, "dass Esau nicht Zeit haben werde, seine Herrschaft zu vollenden, da werde sich schon Jakob erheben und sie ihm nehmen" (rGen 63,9, PRE 32). Israel ist Rom gleichsam dicht auf den Fersen und in der Nacht der Fremdherrschaft kündigt sich bereits die Morgenröte der Befreiung an (rGen 6,3). Nach der Christianisierung des Römischen Reiches und der Verschärfung der antijüdischen Gesetze übertrugen die Rabbinen den negativen Esau-Typus einfach auf das Christentum und erwarteten weiterhin die Erfüllung des Rebekka-Spruchs. Die um den väterlichen Segen rivalisierenden Brüder passten auch bestens auf die um den göttlichen Segen konkurrierende Synagoge und Kirche.14 Doch der neue Widersacher zahlte diesmal mit gleicher Münze heim. Die altkirchlichen Schriftsteller drehten die Jakob/Esau - Israel/Edom -Typologie einfach um. Im ersten erhaltenen Traktat Wider die Juden von Tertullian heißt es dazu: "Da also das Volk oder der Stamm der Juden zeitlich früher und durch die Gnade des ersten Ranges im Gesetz älter ist, und da tatsächlich erkannt wird, dass das unsere jüngeren Alters im Zeitverlauf ist, (...), so muss ohne Zweifel nach der Verfügung des göttlichen Spruchs das frühere und ältere Volk, also das jüdische, dem jüngeren dienen; das jüngere Volk aber, also das christliche, muss das ältere übertreffen" (Adversus Judaeos 1,4-8, CCL 2, S. 1340 f.). Nun waren also die Juden flugs zum älteren Bruder Esau und die Kirche zum wahren Israel (verus Israel) geworden - jener diesem dienstbar. Aus der homiletischen Figur wurde bald bittere politische Realität. Die Knechtschaft der Juden als servi camerae wurde im mittelalterlichen Judenrecht buchstäblich festgeschrieben.

Die Juden hielten freilich an ihrer Israel-Identität fest. In der Zeit des 1. Kreuzzuges, der auch ein Entscheidungskampf zwischen den drei abrahamitischen Religionen war, meinte Raschi, zum Rebekka-Spruch: "Zwei Reiche scheiden sich aus deinem Schoße", dass die Reiche des Guten und des Bösen radikal und apokalyptisch entgegengesetzt sind; über die Fortsetzung "ein Reich wird stärker als das andere" wiederholt Raschi die angeführte rabbinische Auslegung, dass die Kapitale beider Reiche nur eine auf Kosten der anderen leben könne; Jakob auf den Fersen Esaus (Akew Esaw), schließlich ist ihm wie seiner rabbinischen Quelle eine Zusicherung des Aufstiegs Israels vor dem Untergang Edoms, er hört mit anderen Worten schon in der Nacht der Verfolgung die Fußstapfen des siegreichen Messias (Ikwata DeMeschicha). Kein Zweifel, Raschi hatte bei diesen Zitaten aus der rabbinischen Literatur die Verhältnisse seiner Zeit vor Augen und bekräftigte gegen die christliche Umkehrung die alte rabbinische Jakob/Esau - Israel/Edom-Typologie. Wo die Bibel ein nuanciertes Bild der feindlichen Zwillinge zeichnet, bemüht sich der Kommentator mit seinen Quellen alle Zweideutigkeiten zu beseitigen und bis zum Widersinn, Jakob zu entlasten und Esau zu belasten. Die holzschnittartige Vereinfachung der guten und bösen Charaktere dient hier der Propaganda.15 Dazu zwei Beispiele: Zur Geburtsgeschichte Esaus: "Und der Erste kam heraus, rötlich, am ganzen Körper wie ein härener Mantel, und sie nannten ihn Esau" (Gen 25,25), heißt es bei Raschi nach den rabbinischen Quellen folgendermaßen: "Rot, das war ein Zeichen, dass er Blut vergießen würde (rBer 63,8). Wie ein härener Mantel, voll Haar, wie ein wollenes Tuch (KeTalit Schel Zemer); auf altfranzösisch: pelukida (peluche, Wollsamt).

Man nannte ihn Esau, alle nannten ihn so, weil er vollständig entwickelt (Na'asse WeNigmar) und mit seinem Haar ausgestattet war wie einer, der viele Jahre alt ist". Der brutale Charakter Esaus liegt nach dieser Erklärung schon bei der Geburt unabänderlich fest, er ist von Anfang an zum Blutvergießer prädestiniert, inhuman, ohne Aussichten auf Besserung. Das härene Gewand ist für Raschi vielleicht auch ein Hinweis auf die Kutte der Mönche. Zur Hochzeitsgeschichte Esaus: "Als Esau vierzig Jahre alt war, nahm er zur Frau Jehudith, die Tochter Elons, des Chetiten, und Basemat, die Tochter Be'eris, der Chetiten. Und sie waren ein Herzeleid für Isaak und Rebekka" (Gen 26, 34-35) heißt es bei Raschi nach den rabbinischen Quellen: "Vierzig Jahre alt, Esau war einer Sau gleich; so heißt es (Ps. 80, 14), es knickt sie nieder die Sau des Waldes; wenn die Sau sich hinlegt, streckt sie ihre (gespaltenen) Klauen aus, um zu sagen, seht, ich bin rein; so raubten und vergewaltigten auch diese und stellten sich fromm dabei; die ganzen vierzig Jahre hatte Esau Frauen ihren Männern abgejagt und vergewaltigt; als er nun vierzig Jahre alt war, sagte er, mein Vater hat mit vierzig Jahren geheiratet, so werde ich auch so tun."16 Die Sau galt allgemein als Sinnbild der Ausschweifung (luxuria) und Schlemmerei (gula), doch hier betrifft der Vorwurf gegen Esau seine Scheinheiligkeit. Die Sau besitzt immerhin eines der beiden Merkmale der reinen Tiere (gespaltene Hufe) - und zwar das äußere und täuscht über das Fehlen des inneren Merkmals (Wiederkäuen) hinweg (rGen 68,1; rLev 13,5, auf jiddisch heißt das: "a koscher chaserfissl"). Ebenso gibt sich hier der Schürzenjäger als guter Sohn aus. Am Wechsel von der Einzahl in die Mehrzahl kann man erkennen, dass es Raschi nicht wie seiner Quelle nur um den Charakter des biblischen Esaus geht, sondern auch um seine zeitgenössischen Ebenbilder, die sich als fromme Christen ausgaben, aber mordend, raubend und vergewaltigend durch die Lande zogen. Das christliche Judenbild war genau spiegelverkehrt. Die asketischen Christen haben alle Fleischlichkeit dieser Welt auf die Juden projiziert und an ihnen verfolgt. Für den Typus des Juden haben sie genau das gleiche Bild verwendet, die sogenannte "Judensau". Das Exemplar der Stadtpfarrkirche zu Wittenberg (1320) hat noch Luther kommentiert und eine verwitterte Judensau kann man noch heute am Dom zu Regensburg besichtigen.17 Der Ausgang dieses Kampfes um Israel und Edom ist für Raschi ganz unzweifelhaft. Das zitierte Schlusswort des Propheten Owadja kommentiert er bezeichnenderweise wie folgt (wir schalten den Raschi-Kommentar im fett gedruckten Bibelvers ein): "Und es ziehen die Fürsten Israels hinauf als Sieger auf den Berg Zion, zu richten, um Esau zu bestrafen, für das, was er Israel angetan hat, den Berg Esau, nach der aramäischen Übersetzung: die große Stadt Esaus, d. i. - nach dem Raschi-Manuskript - Rom, und des Ewigen wird sein das Königtum, um dich zu lehren, dass sein Reich erst vollendet sein wird, wenn er die Bosheit Esaus (im Druck: Amaleks) bestraft haben wird" (1,21). Den Kirchenbehörden ist diese verschlüsselte jüdische Polemik nicht verborgen geblieben. In den Pariser Kontroversen, die in der Mitte des 13. Jh. zur Verdammung des Talmud führten, wird unter vielen anderen auch diese Auslegung des "tief in der Hölle" schmorenden Raschi zitiert und die Übersetzer fügen zu "Berg Esau" erklärend die Entschlüsselung: "die Kirche" und "Rom", zur Bestrafung "Esaus" - "der Christenheit" hinzu.18 Edom schlug gnadenlos zurück und verbrannte das gesamte rabbinische Schrifttum Frankreichs. Damit endete abrupt die unvergleichliche Renaissance des rabbinischen Judentums in Nordfrankreich. Die apokalyptische Chiffre für die zunehmend desolate Lage der Juden in der Christenheit hat auch Raschi geprägt.

Israel, der Gottesknecht
Eine der umstrittensten biblischen Weissagungen ist das sogenannte vierte Gottesknechtlied (Ewed H', Jes 52,13-53). Der zweite Jesaja, dem es zugeschrieben wird, spricht zu den gefangenen Juden im babylonischen Exil, besser gesagt, er bläst ihnen vor dem Szenario des Untergangs des babylonischen Reiches den Marsch zum Exodus in die Heimat Juda und Jerusalem. Seine atemlosen Zukunftsvisionen gipfeln im Lied vom unerhörten Aufstieg des "Gottesknechts" aus tiefster Erniedrigung zur höchsten Anerkennung (Jes 52,13-15). Alle dachten, der Knecht habe sein Unglück verdient, nun angesichts seines Erfolges erkennen sie ihren Irrtum und bekennen ihre Verblendung und Schuld: "3Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, an Krankheit gewohnt, einer vor dem man wegschaut - auch wir schätzten ihn nicht. 4Aber gerade er hat unsere Krankheit getragen, und unsere Schmerzen ertragen. Wir glaubten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und erniedrigt. 5Doch er wurde durchbohrt von (Mi) unseren Verbrechen, zermalmt von (Mi) unseren Sünden, zu unserem Heil wurde er gezüchtigt, durch seine Wunden sind wir geheilt. 6Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg, doch der Herr ließ auf ihn treffen die Schuld von uns allen." Der Prophet bestätigt dieses Bekenntnis und malt die Verfolgung des Knechts in noch grelleren Farben: 7Er wurde misshandelt, aber er schwieg, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, so öffnete auch er nicht seinen Mund. 8Durch Haft und Gericht wurde er geschleppt, doch wen von seinen Zeitgenossen kümmerte es? Er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebenden, und wegen der Verbrechen meines Volkes kam die Plage über sie. 9Bei den Bösen gab man ihm sein Grab, unter Übeltätern sein Grabmal, obwohl er keine Gewalt geübt und kein trügerisches Wort gesprochen hat. 10Doch der Herr fand gefallen an dem mit Krankheit Zerschlagenen, wenn er sein Leben zum Schuldopfer (Ascham) gebracht, wird er Nachkommen sehen und lange Leben (...)" Die verfolgte Unschuld, die verblendeten Schuldiger, das stellvertretende Leiden, die Grablegung und Auferstehung - Christen erinnerte das alles unwiderstehlich an die Passion Christi und die Evangelien sind denn auch voller Anspielungen auf dieses Lied. In der älteren christlichen Bibelexegese hieß es einfach: Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Isaiam. Auch die ältere jüdische Bibelexegese identifizierte mitunter die mysteriöse Figur des Gottesknechts mit dem leidenden und triumphierenden Messias (z. B. Targum Jonathan ben Usiel). Doch Raschi schlägt eine andere Deutung vor, die sehr gut zur Bildersprache des zweiten Jesaja passt. Der Gottesknecht sei eine Allegorie Israels und in seinem Schicksal spiegele sich das Los des jüdischen Volkes unter den Völkern wieder. "So ist es die Art der Propheten", erklärt er, "er erwähnt das gesamte Israel als einen einzigen Menschen (Kol Jisrael KeIsch Echad) und so spricht er auch hier über das Haus Israel" (Kom zu Jes 53, 3). Insbesondere passt das Knechtsschicksal buchstäblich auf die hochmittelalterliche conditio judaica, die servitudo judaeorum. Das Bekenntnis: "Wir glaubten, er sei von Gott geschlagen" (Jes 53, 4), die Raschi mit: "Wir waren überzeugt, dass (Israel) Gott verhasst war" wiedergibt, hätte in der Tat auch von einem reuigen mittelalterlichen Theologen gesprochen werden können, der seit den Tagen der Apostel und Wüstenväter der felsenfesten Überzeugung war, dass Gott die Juden verworfen hätte. Raschis Auslegungen der Verfolgung des Knechts spielt direkt auf die zeitgenössische Judenverfolgung an. Von den Kreuzfahrern vor die Wahl Tod oder Taufe gestellt, wählten viele Juden lieber den kollektiven Freitod oder die Massenhinrichtung. Jesajas schwieriger Vers 9: "Bei den Bösen gab man ihm sein Grab, unter Übeltätern (Aschir, eigentlich Reicher) sein Grabmal, obwohl er keine Gewalt geübt und kein trügerisches Wort gesprochen hat", gibt Raschi mit einigen sprachlichen Dehnübungen so wieder: "Er gab sich entsprechend dem Urteil der Bösen sein Grab und dem Urteile des Reichen entsprechend waren seine Todesarten, obwohl er keine Gewalt geübt und kein trügerisches Wort gesprochen hat" und kommentiert seine Zeit fest im Blick: "Er lieferte sich jedem Begräbnis aus, das die Bösen der Völker über ihn verhängten, denn sie bestraften sie mit dem Tod und dem Begräbnis von Eseln in Gedärmen von Hunden. Entsprechend dem Urteil der Bösen: Er willigte ein, dem Urteil der Bösen entsprechend begraben zu werden und verleugnete nicht den lebendigen Gott. Und nach dem Urteil des Reichen: Entsprechend dem Urteil des Herrschenden lieferte er sich selber allen möglichen Todesarten aus, die dieser über ihn verhängte, weil er nicht abtrünnig werden und das Schlechte und Gewalt üben wollte, wie die Völker in deren Mitte er wohnte. Kein trügerisches Wort gesprochen hat: nämlich in der Anerkennung des Götzendienstes". Eine philologische Notwendigkeit die Verse so zu kommentieren, gibt es nicht, wohl aber eine psychologische. Hier macht sich das von Jakob Katz aus den zeitgenössischen Quellen so eindrucksvoll beschriebene unbedingte moralische Überlegenheitsgefühl der jüdischen Opfer gegenüber den christlichen Peinigern Luft: besser als Jude Unrecht leiden, denn als Christ Unrecht tun, besser ein toter, unbestatteter Jude als ein judenverfolgender Christ.19 Für Raschi präfiguriert das Gottesknechtlied jedenfalls nicht die Passion Jesu Christi unter Kaiser Tiberius, sondern die Passion des jüdischen Volkes in der Christenheit unter Papst Urban II.

Aber hier geht es nicht, wie Joel E. Rembaum20 und Amos Funkenstein meinten,21 um die Vertauschung der Rollen und Vorzeichen, wie z. B. Marc Chagall den Gekreuzigten während des Holocaust mit Gebetsschal und Gebetsriemen malte, als Symbol des ausgemordeten jüdischen Volkes. Die Behauptung, Raschi hätte das "Dogma vom stellvertretenden Leiden zur Erlösung anderer" vom Christentum übernommen und gegen das Christentum gekehrt, hält einer sorgfältigen Lektüre seines Kommentars nicht stand. Er unterscheidet zwei grundverschiedene Leidensdeutungen, die von Israel und die von den Völkern. Wenn Raschi die biblische Aussage der Völker, "er hat unsere Krankheit getragen", damit kommentiert, dass "alle Völker durch die Züchtigungen Israels gesühnt werden" (Mitkaperim Bissurin Schel Jisrael, Kom zu 53,4), "damit in der ganzen Welt Friede sei" (zu 5) und "Gott die Welt nicht vernichtet" (zu 6), dann zitiert er eine fremde, nach seinem Gegenwartsbezug christliche Deutung der Judennot ("so werden die Völker zueinander sprechen", Kom zu 53,2; 6, 8). Man könnte diese Leidensdeutung eine soziale oder mit Funkenstein eine "soteriologische" nennen.22 Sie besteht in der Einsicht: "Das Leid hat die Falschen getroffen und damit die richtigen - nämlich die Bekenner - verschont." Auf subtile Weise ist dieses Bekenntnis aber auch eine Entlastung, denn indem es die sakrifizielle Funktion der Opfer (sacrifice) für das Heil und den Frieden aller unterstreicht, unterschlägt es zugleich die viktimologische Funktion der Opfer (victim) als Sündenböcke. Die Aussage der Völker "er wurde durchbohrt von (Mi) unseren Verbrechen" wird aus christlicher Voreingenommenheit im Sinne einer Stellvertretung des unschuldigen Opfers für Schuldige mit: "er wurde durchbohrt für un-sere Verbrechen" übersetzt, doch schon die Bibel sagt deutlich, dass damit nicht irgendwelche Verbrechen, sondern die am Gottesknecht selbst verübten, in der Deutung Raschis also, die antijüdischen Verbrechen gemeint sind. Und genauso hat es Raschi gedeutet, wenn er die Züchtigungen der Buße für die Völker der Welt (Kom 53,4) im Kommentar zu Jes 53, 8 mit den Züchtigungen des Gottesknechts durch die Völker der Welt gleichsetzt und vom "Druck, indem er von ihnen gehalten worden war", vom "Gericht der Züchtigungen, die er bisher hatte ertragen müssen" spricht.

Davon unterscheidet sich die jüdische Leidensdeutung, die man die legale oder mit Funkenstein die "kathartische" nennen könnte und die in der liturgischen Formel zum Ausdruck kommt: "Um unserer Sünden willen sind wir aus unserem Land verbannt worden" (Mipnei Chataenu Galinu MeArzenu). Nach dieser Deutung, die Raschi aus dem Part des Propheten im Lied bezieht, hat das Exil der Juden einen genau definierten Straf- und Sühnesinn: die Nachkommen büßen für die Vorfahren und opfern sich für die Nachfahren. Gewiss, auch hier spielt die Stellvertretung der Gerechten für die Sünder eine wichtige Rolle; sie übernehmen wie die Hohepriester Verantwortung für die Frevler (Raschi verweist im Kom zu 53,11 auf Num 18,1, vgl. auch ebd. Kom v. Raschi), sie ersetzen wie das "Schuldopfer" (Ascham 53,10) oder das Sühnegeld (amende, franz. im Kom. Raschis) den Schaden. Doch hier büßt das Kollektiv nur seine eigenen, nicht fremde Sünden - und schon gar nicht die Sünden, die andere an ihm verbrochen haben. Dafür verlangt der Gottesknecht vielmehr nachdrücklich Rechenschaft. Die Aussage über den Gottesknecht "So wird er viele Völker zerstreuen" (Jes 52,15) kommentiert Raschi im Sinne der retributiven göttlichen Gerechtigkeit wie folgt: "so wird auch jetzt seine Hand stark sein, und ‚Israel wird die Hörner der Götzendiener, die sie verstreut haben, niederwerfen" (frei nach Sacharja 2,4).

Doch diese innerjüdische Leidensdeutung ist den christlichen Zeitgenossen unbekannt, denn der Knecht "schwieg", "öffnete auch nicht seinen Mund". Und außerdem: "Wen von seinen Zeitgenossen kümmerte es denn?" Den Vers "Wen von seinen Zeitgenossen kümmerte es denn? Er wurde abgeschnitten aus dem Land der Lebenden, und wegen der Verbrechen meines Volkes" (8) kommentiert Raschi im Sinn der kathartischen Leidensdeutung wie folgt: "Wen von seinen Zeitgenossen kümmerte es? nämlich die Mühsale, die ihn betroffen, dass er von Anfang an abgeschnitten war aus dem Lande der Lebenden, worunter Palästina zu verstehen ist, wohin wegen der Verbrechen meines Volkes die Plage über die Gerechten, die unter ihnen waren kamen." Beide Leidensdeutungen sind unvereinbar. Für die reuigen Christen ist der jüdische Gottesknecht eine Art Atlas, dem die Schuld der Welt auf die Schultern geladen wird, ein Blitzableiter inmitten des göttlichen Zorngewitters, ein Sündenbock, der auch noch für die Schuld seiner Peiniger einzustehen hat. Die Leiden haben aber für die Juden einen ganz anderen Sinn. Der Gottesknecht ist die Verkörperung der Verantwortungs- und Pflichtgemeinschaft, die ihre vergangene Schuld abarbeitet und sich auf eine glänzende Zukunft vorbereitet. Die Juden lassen ihre Leiden nicht kapern und zur Rechtfertigung ihrer Feinde missbrauchen. Aber dem christlich-jüdischen Quidproquo, das Raschi hier zwischen den Zeilen schildert, sitzen auch noch so vollendete Interpreten wie Amos Funkenstein auf. Auch weil die Bilder von geschlagenen und ihre Gräber grabenden Juden, von Bergen unbestatteter jüdischer Leichen, sich seit dem 1. Kreuzzug häuften, hat sich Raschis Israeldeutung des Gottesknechts in der klassischen Parschanut als die plausibelste durchgesetzt (Abraham ibn Esra, David Kimchi, Don Isaac Abravanel) und sein Kommentar zum Gottesknechtlied ist zum Ort der jüdischen Abrechnung mit einer judenfeindlichen Christologie geworden.23

Wir dürfen nicht verschweigen, dass es wissenschaftlich kontrovers ist, ob Raschi überhaupt auf die Ereignisse des 1. Kreuzzuges reagiert hat. Simon Schwarzfuchs hat die radikale These vertreten, dass es in seinen Kommentaren überhaupt keine nachweisbaren Spuren dieser Ereignisse gäbe und daraus geschlossen, dass es sich um rein lokale Ereignisse gehandelt haben muss, die den im 12. Jh. einsetzenden unvergleichlichen Aufschwung der Talmudstudien in Nordfrankreich und des Chassidismus im Rheinland nicht beeinträchtigt haben.24 Andererseits hat Avraham Grossman in den Handschriften des Psalmenkommentars Raschis, eine bittere antichristliche Polemik ausgemacht, die eindeutig auf diese Ereignisse des Kreuzzuges alludieren.25 Die Bösewichter der Psalmen bezieht er vornehmlich auf Esau und erinnert an die, "die sich freiwillig der Metzelei hingaben und sich töten ließen für die Heiligung des Namens" (ScheHitnadwu Azmam LaTewach ULJahareg Al Keduschat Schemo).26 Die von uns angeführten Kommentare Raschis zu Gen 1,1 und Jesaja 53 werden aber von den meisten Gelehrten als Reaktionen auf die Propaganda und die Leiden des 1. Kreuzzuges verstanden.27 Zwei weitere Sorten von Raschi-Texten werden meistens klaglos auf die jüdischen Kreuzzugsleiden bezogen: zum einen einige seiner Rechtsentscheide und zum anderen seine heilige Poesie (Pijjutim). Obwohl Raschi in seinem Kommentar zum Gottesknechtlied und anderswo das Lob der Märtyrer anstimmt, hat er in seinen zukunftsweisenden Rechtsentscheiden die Solidarität mit den Zwangsgetauften bekräftigt.28 Er wandte auf sie den Grundsatz an: "'Israel hat gesündigt' (Jos 7, 11) bedeutet: obwohl er gesündigt hat, ist er (immer noch) ein Jude" (bSan 44a), der ursprünglich gar nichts mit diesem Fall zu tun, ja, überhaupt gar keine halachische Relevanz hatte.29 1941 veröffentlichte A. M. Habermann in Jerusalem die Pijjutim Raschis und bezog sie auf den "Holocaust des 1. Kreuzzuges".30 In seinem 6. Pijjut an die "vollkommene Tora" (Tora HaTemima) zieht Raschi einen Moment lang den Vorhang vor dem allzu vertrauten Bild des Pogroms weg. Wir sehen, wie der gewalttätige Mob in die Synagoge einbricht, die Schriftrollen schändet und die Gelehrten erschlägt. Der gelehrte Dichter klagt der Tora:

"Bring deinen Trost, deine altbewährte Hilfe
Hülle dich in schwarzen Gewändern /
wie eine trauernde Witwe
Räche die Beleidigung deiner Märtyrer /
das Blutvergießen deiner Gelehrten
Deiner von den Abtrünnigen /
ausgerotteten Schüler,
Die auch deinen Vorhang zerrissen /
deine Buchstaben zertrampelten
und mit wütender Raserei /
deine Zelte verwüsteten"
(Nr. 6, 39-44, ebd. S. 23).

Diese Szenen haben sich vom 1. Kreuzzug an wiederholt.31 Während des zweiten Kreuzzugs drangen z. B. Kreuzfahrer in die Synagoge von Ramerupt ein, zerrissen eine Torarolle und verletzten den Enkel Raschis, Rabbenu Jakob Meir Tam, mit den charakteristischen Worten: "Du bist ein Großer Israels, deshalb rächen wir an dir den Gekreuzigten und werden dich so verletzen wie ihr unseren Gott verletzt habt, mit fünf Verletzungen".32 Die jüdischen Erfahrung mit dem Holocaust haben im Aschkenas 1000 Jahre vor dem Ereignis, das man als solches zu bezeichnen pflegt, im Zeitalter Raschis angefangen - und keiner hat das aschkenasische Judentum mehr als Raschi für dieses Kalvarium ausgerüstet.

Fußnoten
1 Menahem Banitt, Rashi Interpreter of the Biblical Letter, Tel Aviv 1985.
2 Ders., Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, 32, S. 253 f.
3 Während dort jedenfalls in unserem Text Akum steht, heißt es bei Raschi Umot HaOlam. Die Argumentation des Midrasch ist übrigens ausführlicher. Es gibt kein Naturrecht eines Volkes auf ein Land - alle Besitzer haben frühere Einwohner verdrängt. Über derartige Streitgespräche vor Alexander d. Gr., vgl. bSan 91a.
4 Norman Golb, New Light on the Persecution of French Jews at the Time of the first Crusade, AAJR, Bd34 (1966), S. 24.
5 Vgl. auch Raschis Responsum, Nr. 255, Ed. I. Elfenbein, S. 298 f.
6 Die sie bis ins letzte Drittel des 11. Jahrhunderts zurückdatierten, Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft, üb. v. E. Bohm, Ffm, Wien, Berlin 1982, S. 133. Der Raschikommentar ist vermutlich zwischen 1085-92/93 entstanden.
7 I. A. Agus, Rashi and his School, in: Cecil Roth (Hg.), The World History of the Jewish People, Bd. 11: The Dark Ages. Jews in Christian Europe 711-1096, London 1966, S. 210-248.
8 Gérard Nahon, Les communautés juives de la Champagne médievale (XIe-XIIe Siècles), in Rachi, Ouvrage Collectif, Paris 1974, S. 33-78.
9 Esra Shereshevsky, Rashi, the Man and His World, New York 1982, versucht aufgrund solcher Stellen die Lebenswelt Raschis zu rekonstruieren, S. 153-239.
10 Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages (1964), 3. Aufl. 1978, S. 149-156.
11 Vgl. Herman Heilperin, Nicolas de Lyra and Rashi: The minor Prophets, American Academy for Jewish Research, Texts and Studies, Bd. 1, Rashis Anniversary Volume, New York 1941, S. 115-147.
12 Ethica 3, S. 24, Oxford 1971, üb. v. K. Flasch.
13 Wir wissen freilich nicht, wieviel Kenntnisse wir Raschi in christlicher Philosophie und Theologie unterstellen dürfen, und es gibt keinen Beweis, dass er auch nur einen einzigen der von uns angeführten Namen kannte, dass aber eine Teilnahme an der geistigen Bewegung und Beweglichkeit der Zeit nicht unwahrscheinlich ist, kann man mit einem allgemeinen Argument untermauern. Die zunehmende Abschließung gegen die christliche Umwelt war erst eine Langzeitfolge des 1. Kreuzzuges. In der Zeit Raschis beweisen die zahlreichen Adversus-Judaeus-Traktate, etwa der des Petrus Damiani, dass die christliche Theologie, insbesondere hinsichtlich des Literalsinns der Schrift, Juden gegenüber unter starkem Rechtfertigungsdruck stand und Disputationen wohl auf der Tagesordnung standen. Die christliche Freude an der Dialektik hatte ja einen unübersehbaren schaustellerischen Charakter. So wissen wir z. B. vom Redeauftritt von Anselm von Besate (11. Jhd.) in Mainz. Angesichts eines nur mäßigen Erfolges, will er sein Auditorium zur Stellungnahme zwingen, denn nichts tun hieße nichts tun, was unmöglich ist, Q. e. d.
14 Vgl. Gerson D. Cohen, Esau as Symbol in Early Medieval Thought, in: Alexander Altmann (Hg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge, Mass. 1967, S. 19-48.
15 Vgl. meinen Aufsatz: Die Aschkenasische Spiritualität, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 2, Hoch- und Spätmittelalter, Schöningh Verlag, Paderborn 2000, S. 375-396 u. 481-488.
16 BerR 65, 1.
17 Vgl. Eduard Fuchs, Die Juden in der Karikatur, München 1921, 201 ff.
18 Extractiones de talmut, Nationalbibliothek Paris, Ms. lat. 16558, zit. bei Herman Hailperin, De l'utilisation par les chrétiens de l'œuvre de Rachi (1125-1300), in: Raschi. Ouvrage Collectif, Paris 1974, S. 191. Zu Raschi vgl. Praefatio (97a-99b). Über die Verurteilung des Talmud, vgl. Kurt Schubert, Das christlich-jüdische Religionsgespräch im 12. und 13. Jahrhundert, in: Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal (Hg.), Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt, Wien, Köln 1991, S. 223-250.
19 Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, Oxford 1961, Kap 7.
20 The Development of a Jewish Exegetical Tradition Regarding Isaiah 53, in: Harvard Theological Review 75 (1982), S. 296 f.
21 Die Dialektik der Assimilation, in: Ulrich Raulff, Gary Smith (Hg.), Wissensbilder. Strategien der Überlieferung, Berlin 1999, S. 215 f.
22 Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen (1993), dtsch. v. Christian Wiese, Ffm 1995, S. 137/138. Das Beispiel ist auch hier wieder der einseitig gedeutete Raschi.
23 Vgl. Natan Hutterer aus Auschwitz, Die mittelalterlichen jüdischen Kommentare zu den Ebed-JHWH-Liedern des Jesaja (Diss in Bern), Berlin 1938.
24 in: R. Bonfil, M. ben-Sasson, J. Hacker (Hg.), Tarbut WeChewra BeToldot Israel BiMe HaBenajim, Jerusalem 1989, S. 259 f. Etwas nuancierter Robert Chazan, European Jewry and the First Crusade, Berkeley, Los Angeles, London 1987.
25 Rashi's Commentary on the Psalms and the Jewish-Christian Disputation, in: FS M. M. Ahrend, 1996, S. 59-74 (Hebr.); Ders., The Cultural and Social Background of Jewish Martyrdom in Germany in 1096, in: A. Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge (Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte: Vorträge und Forschungen, Bd. XLVII), Sigmaringen 1999, S. 78/79.
26 Kom zu Ps 47,10: "Es versammelten sich (in seiner Stadt) die Fürsten der Völker" (Nedive amim).
27 Abraham Berliner, Beiträge zur Geschichte der Raschi-Commentare, Berlin 1903, S. 33/34 (lässt nur Kom zu Jes 53,9 als eine solche Anspielung gelten); Marianne Awerbuch, Christlich-jüdische Begegenung im Zeitalter der Frühscholastik, München 1980, S. 117-125 (zu Jes 53); Gerard Nahon, Rashi en son temps, in: G. Sed-Rajna, Rashi 1040-1990, Hommage à E. E. Urbach, Paris 1993, S. 57 (Kom. zu Gen 1,1); Eleazar Touitou, L'Œuvre de Rashi. Exégèse biblique et éthique juive, ebd., S. 27.
28 Hans-Georg von Mutius, Rechtsentscheide Raschis aus Troyes (1040-1105), 2 Halbbde. (J. Maier (Hg.), Judentum und Umwelt Bd. 15/I u. II), Ffm 1986/87, z. B. 2. Halbbd., S. 125.
29 I. Elfenbein, Tschuwot Rashi, 173; V. Mutius, 2. Hlbbd., S. 62.
30 P'ticha, S. 7 u. Ders., The Beginning of Hebrew Poetry in Italy and Northern Europe, 2, in: Cecil Roth, The World History of the Jewish People, B. 11, op. cit, S. 272. Den Ausdruck "Holocaust of the First Crusade" gebraucht Irving A. Agus bereits 1966 in dem angeführten Artikel über Raschi und seine Schule, ebd. S. 212.
31 Für die Standardrechtfertigung, die sowohl in jüdischen wie christlichen Chroniken auftaucht, vgl. die Autobiographie von Guibert de Nogent, De vita sua II,5.
32 A. M. Habermann, Gezerot Aschkenaz WeZarfat, Jerusalem 1945, S. 121.

aus: Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, April 2005

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