Was bedeuten die Steine
Wer das Holocaust Mahnmal mit Jugendlichen besucht, sollte sich gut darauf vorbereiten
von Helmut Ruppel und Ingrid Schmidt

"Nach Auschwitz fährt nur, wer wirklich dorthin will. Ins Stelenfeld aber schlendern alle herein, Wissende und Ahnungslose, Bewegte und Gleichgültige, Bekennende und Leugnende. Es ist antiautoritär. Das Gedenken hier ist nicht mehr anklagend und nicht mehr anstrengend. Es ist heiter, massenwirksam, entgegenkommend." So lasen wir jüngst in der ZEIT unter der Überschrift "Daneben benehmen". Und genau dies bestimmt die öffentliche Wahrnehmung: "Nicht gestattet ist, von Stele zu Stele zu springen und sich in Badekleidung auf einer Stele zu sonnen, der Genuss alkoholischer Getränke und Grillen " heißt es in einem Faltblatt, das man am "Ort der Information" erhält. Wo sind wir? Im "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" mit 19083 Quadratmeter Deutungsfläche und 2711 Stelen aus dunklem Beton. Ein Ort der Herausforderungen, verwirrend, schön, ernst und voller Anstöße.

Wer nur ein paar Schritte hinein geht, findet sich fast übergangslos allein, rasch verliert man den Sichtkontakt zu den anderen, kann sich nur durch Rufe verständigen, hört nur noch gedämpft Straßenlärm und ist völlig zurückgeworfen auf seine Erfahrungen zwischen den eng stehenden Stelen. Die sich verengenden und wieder weitenden Schluchten rücken einem auf den Leib. Gefühle von Einsamkeit, Klaustrophobie, Desorientierung und Chaos bei perfekter Positionierung der Stelen und Pflasterung der Wege steigern die Beklemmung. Diese Steine werden nicht altern oder verwittern, sie sind unbarmherziger als eine steinerne Wüste - und wenn Regen auf ihnen perlt, die Sonne das Schiefergrau vom Beton schraffiert, sind sie makelloser als Marmor und verwirrend schön.

Die Stadt am Styx in der griechischen Unterwelt hatte tausende von Zugängen, war offen auf allen Seiten, war unendlich und ewig. Auch dieses Denkmal hat keinen End- und mithin keinen "Erlösungspunkt", keinen Weg und kein Ziel, jede Ordnung gerät aus dem Lot. Die unterschiedlich hohen Steine scheinen in labilem Gleichgewicht zu stehen, der Blickwinkel, die Gerade, die Achsen, der Boden - alles wird unermesslich.

Als Israel den Jordan durchquerte, errichtete es "Gedenksteine" (Buch Josua 4) im Fluss zwischen Sklaverei, Wüste und Freiheit. Und es heißt: "Wenn eure Kinder später einmal fragen: Was bedeuten euch diese Steine?", soll von der Rettung erzählt werden. Halten wir die Frage fest: "Was bedeuten euch diese Steine?" im Zentrum des Zentrums vom Land der Täter der Schoa, euch, den so unterschiedlichen "Besuchern" dieses Ortes, Christen und Juden, Deutschen und Israelis, Lehrkräften und Heranwachsenden, Eltern und Kindern, Besuchern aus der ganzen Welt? Hier können nur erste Ratschläge gegeben werden für die Wahrnehmung des Ortes, erste Ratschläge, weil eine "Denkmal-Passage" für den Unterricht in Schule und Gemeinde noch vorbereitet wird. Die Ratschläge wenden sich an Lehrkräfte und Eltern, denn eine Vorbereitung für den Besuch des Holocaust-Mahnmals mit Kindern und Jugendlichen ist unerlässlich, ebenso wie Verabredungen über angemessenes Verhalten.

Wichtigster Punkt: kein verordneter Gruppen- oder Klassenbesuch. Der freiwillige, vielleicht auch außerhalb offizieller Unterrichtszeiten stattfindende Besuch ist mit Gruppen ab 12 bis 14 Jahren sorgfältig vorzubereiten. Sonst kann es in Gerenne, Gejohle, Gejauchze oder auch Ängsten und Beklemmungen münden. Wir empfehlen nicht, den "Ort der Information" mit jüngeren Gruppen aufzusuchen, er ist in Text und Bild äußerst dicht und kann überfordern. Man sollte nicht essen, trinken, rauchen, Akrobatik betreiben im Denkmalsfeld. Die Lust am Verstecken, am Irrgarten-Spielen kann man in Grenzen halten. Es ist ein internationaler Ort, da sollte aus Respekt vor anderen auf die Kleidung geachtet werden. Wo einige einen Friedhof besuchen, sollten andere nicht ins Strandbad rennen.

Die Vorbereitung sollte den Ort skizzieren: Es ist kein historischer Ort der Vernichtung und Verfolgung wie die Putlitzbrücke, das Gleis am Grunewaldbahnhof oder die Große Hamburger Straße und doch ein "historischer Ort" in der Stadt.

Die Jugendlichen "müssen" allein gehen; Erfahrungen mit dem Ort und sich selber machen und vor allem anderen: anschließend fragen, fragen, fragen! Das Stelenfeld selbst vermittelt Assoziationen von Gejagtwerden, Flucht, Verstecken, radikaler Unübersichtlichkeit, momentanem Erblicken und Verschwinden, Getrennt- und Zerrissenwerden. Es ist wichtig, die Spielplatzstimmung irgendwann abzustreifen und eine Balance zwischen Erlebnisqualität und fragendem Innewerden entstehen zu lassen.

Unterrichtende und Begleitpersonen sollten selbst vorher den Ort kennen gelernt haben. Ihre eigenen Wahrnehmungen - der unsicheren Boden, die Enge, der sich verändernde Horizont - sind dann gelassener.

Eine Broschüre mit Unterrichtsmaterial ist ab dem 15. August erhältlich im Bildungswerk der EKBO, Telefon (030) 3 19 10. Kontakt zum Besucherservice des Mahnmals: Cora-Berliner-Straße 1, Telefon (030)74 07 29 29,
www.stiftung-denkmal.de

Evangelische Wochenzeitung Die Kirche

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