Steingewordene Geschichte
Auf dem "Berg des Gedenkens" in Jerusalem
hat die Gedenkstätte Yad Vashem ein neues Holocaust-Museum eröffnet
von Ulf Meyer
Den "Har Hasikaron" (Berg des Gedenkens) in
Jerusalem durchbohrt plötzlich ein überwiegend unterirdisches
Prisma, dessen beide Enden aus dem Hügel heraus ragen. Sie sind Ein-
und Ausgang eines neuen Museums. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem,
die 1953 in Jerusalem eröffnet wurde, ist nach zehn Jahren Planungs-
und Bauzeit um ein 56 Millionen US-Dollar teures Museum erweitert worden,
das am 15. März offiziell eröffnet wurde.
Der 1938 in Haifa geborene, amerikanische Architekt Moshe
Safdie, der Architekturbüros in Boston, Toronto und Jerusalem unterhält,
hat den ungewöhnlichen Neubau entworfen. Safdie baut nicht nur seit
über dreißig Jahren (auch) für jüdische Institutionen
weltweit, er hat auch bereits zweimal für Yad Vashem gebaut: Auf
sein Konto gehen das Kindermahnmal (1976-87) und das Transport Memorial
(1994).
Safdie hat das im Querschnitt dreieckig anmutende Museum
unterirdisch angelegt und durch ein 175 Meter langes Oberlicht natürlich
beleuchtet, damit der Charakter des Gedenk-Hügels erhalten bleibt.
Auf dem Gelände der Gedenkstätte Yad Vashem war zwar schon 1973
eines der ersten Holocaust-Museen der Welt eröffnet worden, es wurde
jedoch in den letzten Jahren zunehmend als "altbacken und muffig"
empfunden: Zu streng chronologisch und zu didaktisch war vielen Besuchern
das Museum geworden, das inzwischen geschlossen worden ist. Vor allem
nachdem das Holocaust Museum, das 1993 in der amerikanischen Bundeshauptstadt
Washington eröffnet wurde, neue Maßstäbe für das
Holocaust-Gedenken in Museen setzte: Modernste Technik und authentische
Exponate anstelle von zweidimensionalen Fotos und Dokumenten sollten von
nun an das Erlebnis der Besucher persönlicher und plastischer machen.
Mit dem Neubau in Jerusalem ist auch die Hoffnung verbunden,
an dieses Konzept anknüpfen und so die Besucherzahlen wieder erhöhen
zu können. Hatten 1999 noch mehr als zwei Millionen Interessierte
Yad Vashem besucht, war diese Zahl nur drei Jahre später auf unter
570.000 gesunken und ist seitdem nur geringfügig wieder gestiegen,
obwohl Yad Vashem nach wie vor ein Muss für jeden israelischen Soldaten,
Schüler, Touristen und Staatsgast ist. Yad Vashem ist nicht nur das
größte und beeindruckendste Areal weltweit, das dem Gedenken
an den Holocaust gewidmet ist, es hat auch eine staatstragende Rolle für
Israel.
Weil es immer weniger Zeitzeugen gibt, die eigene Erinnerung
an die Vernichtungslager haben, sollen nachwachsenden Generationen die
Lebens- und Leidensgeschichten der Holocaust-Opfer auf möglichst
persönliche Art erzählt werden. Der Neubau in Jerusalem erzählt
das millionenfache Schicksal am Beispiel von etwa 100 Betroffenen anhand
von Tagebüchern, Fotos und Video-Aufzeichnungen.
Der Weg durch das neue Museum von Safdie folgt einer eindringlichen
architektonischen Dramaturgie: Vom Eingang aus blicken Besucher durch
das gesamte Gebäude bis zum Licht am Ende des Prismas mit seinen
rohen Betonoberflächen. Das im Vergleich zum alten Museum auf die
dreifache Größe angewachsene neue Museum hat 4500 Quadratmeter
Ausstellungsfläche. Furchen im Betonboden, die für historische
Einschnitte und Wendepunkte stehen, zwingen die Besucher, einen genau
vorgegebenen Zickzack-Kurs durch die einzelnen Galerien zu beschreiten.
Nach dem Eintritt in die dunklen Kabinette dient die dramatische Lichtwirkung
des hellen Prismas der Orientierung. Der Boden fällt in der Abteilung
"Auf dem Weg nach Auschwitz" ab und führt dann wieder hinauf
zum Ende des Weges und einem großen Balkon mit Ausblick auf Jerusalem.
Wie ein überdimensionaler Trichter rahmen zwei große seitliche
Betonflügel den Balkon und den Blick auf die heilige Stadt und die
Landschaft.
Die runde "Halle der Namen" hat Regale rundherum
für die Unterlagen der namentlich bekannten Opfer des Judenmords,
deren Dokumente in Yad Vashem gesammelt wurden. Darüber in einem
Kegel hängen Namen und Fotos von fast 600 Toten. Sie blicken auf
die Besucher hinab. Darunter befindet sich eine spiegelbildliche Ausgrabung
bis hinunter auf den örtlichen Fels, die mit Wasser gefüllt
ist, in dessen Oberfläche sich die Halle und mit ihr die Gesichter
darüber spiegeln. Die Gesichter repräsentieren die bekannten
und die Grube versinnbildlicht die unbekannten Toten.
Wieder auf der Erdoberfläche angekommen, führt
der Weg zum neuen Museum für Holocaust-Kunst, zu einer neuen Synagoge,
einer großen Galerie für Sonderausstellungen und einer Forschungsstätte,
der International School for Holocaust Studies. Das Besucherzentrum mit
Café und Buchladen wurde aus Jerusalemer Stein und beigem Granit
aus Indien gebaut, der beim Bau des neuen Ben-Gurion-Flughafens von Tel
Aviv übriggeblieben war, den Safdie ebenfalls entworfen hat. So pragmatisch
kann es auch beim Bau eines Museums von höchster nationaler Bedeutung
zugehen. Übrigens: Die Stadt Jerusalem hat für die Sichtbetonoberflächen
des Museums eine Ausnahmegenehmigung erteilt; alle anderen Gebäude
in der Stadt müssen nämlich mit örtlichem Stein verkleidet
sein.
Zentralrat der Juden, 5. Jahrgang Nr. 3 / 24. März
2005
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