Palästina ohne Illusionen
Faktenreiche Darstellung von Tom Segev
von Renate Wiggershaus

Tom Segev ist einer der bekanntesten Vertreter der "Neuen Geschichtsschreibung" in Israel. Der prominente Journalist und Kolumnist der liberalen Tageszeitung Haaretz bemüht sich in seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch Es war einmal ein Palästina erneut, den israelischen Gründungsmythos durch eine detaillierte, auf unterschiedliche Sichtweisen bedachte Darlegung der Tatsachen zu entzaubern. Segev, Jahrgang 1945, rekonstruiert illusionslos den Konflikt und tritt dabei der Auffassung entgegen, die Situation im Nahen Osten sei mit Gewalt zu lösen.

Von Anfang an lässt der Autor unbehagliche Tatsachen für sich sprechen. So beginnt das Buch mit Gräbern - auf einem kleinen protestantischen Friedhof gleich neben den Ruinen des biblischen Zion. Im hinteren Teil des Friedhofs finden sich viele Grabsteine mit britischen Namen. "Lewis Andrews ist hier beerdigt; er wurde von arabischen Terroristen ermordet. Nicht weit von ihm entfernt liegt Thomas Wilkin, der jüdischen Terroristen zum Opfer fiel."

Wie Tausende andere britische Soldaten starben die beiden Militärs in Folge einer fatalen, 30 Jahre währenden Mandatsherrschaft Großbritanniens, die schließlich in einen überstürzten, in seinen Einzelheiten geradezu grotesken Rückzug der einstigen Weltmacht endete und Palästina in auswegloser Situation zurückließ. "Die Briten taten so, als wäre die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden durchführbar, ohne den Arabern zu schaden… In Wahrheit bildeten sich in Palästina zwei rivalisierende nationalistische Bewegungen heraus, die unweigerlich auf eine Konfrontation zusteuerten", schreibt Segev.

Immer wieder nimmt der Autor auch Situationen und Menschen in den Blick, die ein Zusammenleben durchaus denkbar erscheinen ließen. 1917 hatten Soldaten der Arabischen und der Jüdischen Legion Seite an Seite für die Befreiung Palästinas von osmanischer Herrschaft gekämpft. Segev zeigt am Beispiel einiger Einzelschicksale, wie eng und freundschaftlich viele Beziehungen zwischen eingewanderten Juden und einheimischen Arabern zunächst waren. So bat Alter Levine, ein jüdischer Versicherungsagent, auf der Flucht vor der türkischen Polizei Khalil as-Sakakini, einen für seine Großzügigkeit und Toleranz bekannten arabischen Pädagogen in Jerusalem, um Unterschlupf. Er wurde ihm gewährt.

Doch türkische Soldaten spürten ihn auf und verhafteten ihn und seinen Gastgeber, während die Briten schon ins Land einmarschierten. Aneinander gefesselt wurden die beiden Festgenommenen in ein Gefängnis nach Damaskus gebracht. Während Levine sich vorwarf, Sakakini ins Unglück gestürzt zu haben, versuchte der Araber ihn zu trösten. Ihre Lebensläufe, die nach neunmonatiger Haft wieder auseinander drifteten, sind eingeflochten in die individuellen Schicksale anderer Juden und Araber und aufs engste verknüpft mit den übergreifenden zeitgeschichtlichen Ereignissen.

Der Autor schöpft aus einer Vielzahl von Quellen - aus Tagebüchern, Briefen und Memoiren, aus Dokumenten und Protokollen, Zeitungsartikeln und historischen sowie literarischen Werken - und lässt die darin vernehmbaren Stimmen berühmter und unbekannter Menschen gleichermaßen zu Wort kommen. Dadurch entsteht eine überaus plastische, geradezu spannende Darstellung der Geschichte Palästinas zwischen 1917 und 1948.

Charakteristisch für diese Geschichte ist, dass aus dem humanistisch gesonnenen Sakakini, der 1917 noch glaubte, "eines Tages werde es nur noch eine einzige Nation auf der Erde geben", 20 Jahre später ein Befürworter arabischer Terrorakte geworden ist.

Zusätzlich verschärften die Briten den Konflikt, weil sie eher pro-zionistisch als pro-arabisch agierten. Schon allein die Nicht-Einführung der Schulpflicht bedeutete für die arabische Bevölkerung, dass etwas über regionale, soziale und wirtschaft-liche Unterschiede hinweg Verbindendes fehlte, während das hebräische Bildungssystem die Juden zu einer Gemeinschaft vereinigte. Die Briten waren der Auffassung, wenn man die arabischen Landbewohner in ihrer Unwissenheit belasse, erspare man sich Unruhen und übermäßige Kosten. Statt auf Bildung legten sie Wert auf Überwachung, indem sie etwa überprüften, ob Kinder, die am Balfour-Gedenktag die Schule geschwänzt hatten, ordnungsgemäß ausgepeitscht worden waren.

Doch auch Juden schafften durch ihr Verhalten Distanz zwischen sich und den arabischen Nachbarn, was nicht dazu angetan war, die vergiftete Atmosphäre zu reinigen. So verjagten sie beispielsweise arabische Kinder von einem Spielplatz, den die Guggenheim-Stiftung eigens für palästinensische Jungen und Mädchen hatte angelegen lassen, weil deren "verwerflicher Charakter von frühester Kindheit an" schädlich sei für die jüdischen Kinder. Und der Bau einer englischen Eliteschule aus Stiftungsmitteln, die jüdischen und arabischen Jungen offen stehen sollte, wurde von der zionistischen Bewegung verhindert, weil "eine nationale jüdische Erziehung" in einer binationalen Schule nicht gewährleistet werden könnte.

In Jaffa, Hebron, Tiberias kam es zu Judenpogromen, bei denen Dutzende von Juden ermordet wurden. Es gab aber auch arabische Familien, die ihre jüdischen Nachbarn bei sich versteckten - etwa während des Massakers von Hebron - und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.

Aber das konnte weder arabische Terroristen zur Besinnung bringen, noch an einem von Hass und Misstrauen geprägten Klima etwas ändern. Eine der gefürchtetsten Terrororganisationen auf jüdischer Seite war die "Nationale Militärorganisation Ezel". Ihre Mitglieder verübten Überfälle und Bombenanschläge auf arabische Kaffeehäuser und Märkte, später auch auf britische Regierungseinrichtungen. Ezel-Leute sprengten einen Flügel des KönigDavid-Hotels in die Luft, dabei wurden 90 Menschen getötet. Für David Ben Gurion, den Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Jewish Agency for Palestine, waren sie eine "Nazi-Bande". Sein Hauptkontrahent, Menachem Begin, zeitweilig Ezel-Befehlshaber, drängte auf gewaltsame "Erlösung des Landes", worunter er die Inbesitznahme des gesamten Gebiets des biblischen Israel "vom Nil bis zum Euphrat" verstand.

Auf die eskalierende Gewalt reagierten die britischen Besatzer ihrerseits mit noch mehr Gewalt. Sie stockten die Armee um 25 000 Soldaten und Polizisten auf und verhängten das Kriegsrecht. Tausende Araber wurden daraufhin in extrem überfüllten Lagern interniert. Zum Alltag gehörten nun Bespitzelungen, Folter durch britische Geheimdienste, Todesurteile, Hinrichtungen, demütigende Erniedrigungen und willkürliche Erschießungen. Die Briten ließen auch des Terrorismus verdächtige Juden verhaften, foltern, nach Afrika deportieren oder hinrichten. Und in arabischen Gemeinden wurde es gängige Praxis der Besatzer, wegen eines Attentats in der Nachbarschaft ganze Dörfer kollektiv zu bestrafen.

Das Problem, das die Briten vor fast 60 Jahren mit ihrem zwiefach vergebenen Versprechen zur Staatenbildung schafften, ist heute wieder Gegenstand von Verhandlungen, erstmals vielleicht mit einer Aussicht auf Erfolg, da der Terror von beiden Seiten nur zu noch mehr Hass, Menschenverachtung und Gräbern geführt hat.

Tom Segev: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels. Aus dem Amerikanischen von Doris Gerstner. Siedler Verlag, München 2005, 670 Seiten, 28 Euro.

Frankfurter Rundschau online, 23.03.2005

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