Getrenntes Doppel
In Gaza müssen die Palästinenser beweisen, dass sie einen funktionierenden
Staat aufbauen können
Von Gisela Dachs
Nach dem israelischen Abzug beginnt eine neue Ära
für die Palästinenser im Gazastreifen. Sie müssen sich
selbst und der Welt nun beweisen, dass sie in der Lage sind, den kleinen
überbevölkerten Flecken Land zu regieren. Vom Gelingen des Projekts
Gaza hängt viel ab. Denn gelten die Palästinenser dort als staatstauglich,
wird ihnen das einen unabhängigen Staat auch im Westjordanland näher
bringen. In umgekehrter Reihenfolge wäre der Test vermutlich einfacher
gewesen. Schließlich ist Gaza die weitaus schwierigere Szene für
den Aufbau einer funktionierenden Zivilgesellschaft, wie ihn Präsident
Mahmud Abbas anstrebt.
Das hat historische, geographische und demographische
Gründe. Etwa die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung
in den Autonomiegebieten - ca 1,3 Millionen Menschen - sind Flüchtlinge
oder Nachkommen von Flüchtlingen aus dem 1948er Krieg. Von ihnen
lebt wiederum die Hälfte bis heute in Flüchtlingslagern im Gazastreifen,
ein Viertel in Lagern im Westjordanland. Die Armut und der niedrige soziale
Status haben die Bewohner dort immer schon anfälliger gemacht für
fundamentalistische Strömungen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass
die islamistische Hamas-Bewegung - eine palästinensische Variante
der ägyptischen Muslimbrüderschaft - Anfang 1988 im Gazastreifen
gegründet wurde. Mit ihrem weit verzweigten Sozialnetz kümmert
sich die Hamas seither verlässlich um die Schwachen der Gesellschaft
- und wurde so zur zweitwichtigsten politischen Kraft in Gaza. An den
Parlamentswahlen im kommenden Januar will die Hamas nun erstmals teilnehmen.
Abbas hofft darauf, dass sich die Hamas bis dahin in eine politische Partei
verwandelt und ihrem militärischen Flügel abschwört. Aus
Angst vor einem Bürgerkrieg scheut er bisher vor einer gewaltsamen
Entwaffnung zurück. Wenn sich die Hamas aber nicht selber entwaffnet,
bleiben die Waffen in ihrer Hand eine Zeitbombe.
Dass der Gazastreifen vor der israelische Besatzung ägyptischer
Herrschaft unterlag, während das Westjordanland von Jordanien regiert
wurde, hat bis heute Einfluss auf die jeweiligen Strukturen. Im Gegensatz
zum Westjordanland, das von 1948 bis 1967 in die gesellschaftlichen Strukturen
des Nachbarlands eingebunden war und deren Bewohner volle Partizipationsrechte
genossen, konnten sich zu dieser Zeit im Gazastreifen kaum politische
Institutionen herausbilden. So gab es während der ägyptischen
Herrschaft keine Wahlen, auch waren nur wenige Palästinenser in der
lokalen Verwaltung beschäftig. Die wenigen Institutionen, die dennoch
entstanden waren, wurden unter der israelischen Besatzung aufgelöst.
Beraubt der Möglichkeit, sich politisch zu artikulieren, konzentrierte
die Bevölkerung im Gazastreifen ihre Energien nach 1967 auf den bewaffneten
Widerstand. Das Alltagsleben wurde von militanten Organisationen beherrscht,
die Selbstjustiz übten und große Teile der Bevölkerung
einschüchterten. Als 1971 die israelischen Sicherheitskräfte
diese Gruppierungen zerschlugen, etablierten sich kulturelle und soziale
Einrichtungen, doch blieb deren Tragweite gering. Während der ersten
und zweiten Intifada waren es dann erneut militante Gruppen, die weitgehend
die Straßen kontrollierten.
Aufgrund ihres Einflusses wird in Gaza-Stadt offiziell
kein Alkohol ausgeschenkt, gibt es keine richtigen Kinos, baden die Frauen
am Strand nur in langen Kleidern. Ganz anders hingegen das Straßenbild
in der heimlichen Hauptstadt Ramallah im Westjordanland, wo sich kurze
Röcke, schicke Restaurants und Nachtclubs öffentlich etabliert
haben. Während das muslimische Gaza den traditionellen Wertvorstellungen
treu geblieben ist, orientiert sich Ramallah mit seiner starken christlichen
Minderheit an anderen - eben westlicheren - Modellen. Dazu trugen auch
jene Palästinenser bei, die in den 90er-Jahren aus der amerikanischen
Diaspora in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Zudem zog es zu dieser
Zeit viele Palästinenser, die an ihrem beruflichen Fortkommen interessiert
waren, von Gaza nach Ramallah.
In den vergangenen fünf Jahren aber haben die Bevölkerungen
im Westjordanland und im Gazastreifen fast vollständig getrennt voneinander
gelebt. Israel gewährte den Verkehr nur in Ausnahmefällen. Die
Kommunikation verlief weitgehend per Telefon, E-Mail oder via Videoschaltungen,
mit deren Hilfe die palästinensischen Abgeordneten virtuelle gemeinsame
Sitzungen abhalten konnten. Das hat die Kluft zwischen den beiden palästinensischen
Gesellschaften nur noch vertieft. Dass Präsident Abbas zwei Wohnsitze
unterhält, einen in Ramallah und einen in Gaza, ist symptomatisch
für die palästinensischen Verhältnisse. Weil er den israelischen
Abzug am Ort erleben wollte, lebt er seit wenigen Wochen wieder in seiner
Villa in Gaza. Denn dort wird er seine Führungskraft in der kommenden
Zeit unter Beweis stellen müssen.
ZEIT online, 14.9.2005
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