Frau - Mann - Mensch.
Grundlagen jüdischer Religiosität und Spiritualität
von Rachel Monika Herweg
Die traditionellen Ehrentitel der Eltern sind: Awi mori,
Immi morati - mein Vater, mein Lehrer; meine Mutter, meine Lehrerin. Beide
gelten im Kontext jüdischen Glaubens als Beauftragte Gottes und befolgen
die Bitte des Morgengebets:
"Mache lieblich, Ewiger unser Gott, die Worte deiner
Tora in unserem Munde und im Munde deines Volkes, des Hauses Israel, auf
dass wir und unsere Sprösslinge und die Sprösslinge deines Volkes,
des Hauses Israel, wir alle deinen Namen erkennen und deine Tora lernen
um ihrer selbst willen. Gesegnet seist du, Ewiger, der du die Tora lehrst
dein Volk Israel."
Jüdische Tradition ist gelebte Gotteserfahrung. Die
Liebe zu Gott erweist sich für Jüdinnen und Juden in der Liebe
zur Tora (Fünf Bücher Mose), die traditionell als authentische
Offenbarung Gottes gilt. Neben dieser schriftlich fixierten, in sich abgeschlossenen
Tora (Lehre/ Weisung) existiert von Sinai an die sog. mündliche Tora
- die fortlaufende Offenbarung.
Jüdisches Leben, alles jüdische Handeln soll
auf der Tora und ihrer Auslegung beruhen, wie es heißt (Dtn 17,11):
"Nach dem Geheiß der Weisung, die sie [die Rabbinen] dir weisen,
und nach der Rechtsfindung, die sie dir zusprechen, sollst du tun."
- In dieser Aufforderung liegt die Legitimation der mündlichen Tora,
der Ausdeutung der göttlichen Offenbarung durch die Menschen, begründet.
Gott soll in jeder Generation (neu) aus seiner ganzen Tora (der schriftlichen
und mündlichen) interpretiert werden (vgl. Babylonischer Talmud [bT]
Mak 24a).
Kein Mensch allein kann vollständige Gotteserkenntnis
erlangen. Um Gott näher zu kommen, bedarf es des Zusammenwirkens
vieler Menschen - ihres Erkenntnisaustauschs und der darauf basierenden
Formulierung von Recht - Halacha (wörtl. "der zu gehenden Wegrichtung");
also auch des Zusammenwirkens von Frauen und Männern.
Rabbinisches Judentum hat über Jahrhunderte dieses
Zusammenwirken in der Praxis - ich möchte sagen - "sehr speziell"
ausgeprägt. Dazu weiter unten; zunächst noch zu seinen zentralen
Grundaussagen, die das Bild des und vom Menschen und der gleichen Würde
von Frau und Mann, seiner und ihrer Stellung und Bestimmung und den gemeinsamen
Ausgangspunkt ihrer Religiosität und Spiritualität mindestens
theoretisch begründen:
1. Grundlegend ist die Heiligkeit menschlichen Lebens:
Gen 1,27: "Und Gott schuf den Menschen in seinem
Bilde..."
Gen 2,7: "... und er hauchte den Odem des Lebens in seine Nase -
und so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen.
Durch diesen Akt sei die Seele des Menschen als göttliches
Prinzip zu betrachten. In jedem menschlichen Leben wirkt etwas Göttliches,
und so besteht die Aufgabe des Menschen darin, nach Heiligkeit zu streben:
Lev 19,2: "Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin
ich, der Ewige, Gott."
Aus der Heiligkeit des menschlichen Lebens wird geschlossen:
2. Menschliches Leben hat unendlichen Wert:
Jeder einzelne Mensch gilt als Ebenbild Gottes, als einzigartig
und unverwechselbar. Individuelles Dasein und Leben werden in der Mischna
(M Sanh 4,5) als so kostbar erachtet, "dass wenn einer eine Person
vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze
Welt vernichtet, und wenn einer eine Person erhält, es ihm die Schrift
anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten".
Aus dem unendlichen Wert menschlichen Lebens resultiert
die Verpflichtung:
3. Menschliches Leben muss gerettet werden:
Lev 18,5: "... und durch sie [die Mizwot - Gesetze]
sollst du leben!"
Die Ge- und Verbote der Tora dienen dem Erhalt menschlichen
Lebens. Um dieses zu retten, erlaubt die Halacha, praktisch alle Mizwot
der Tora außer Kraft zu setzen (Ausnahmen: Götzendienst, Unzucht,
Mord. Bei Mord besteht die Ausnahme: Notwehr [gegenüber einem potentiellen
Mörder (hebr. rodef)]).
Die Heiligkeit des Menschen (seine Ebenbildlichkeit) begründet seine
Würde und Bestimmung als Partner und Partnerin Gottes:
Gen 1,28: "... und bezwinget die Erde."
Dieses Gebot beinhaltet insbesondere die Verpflichtung (!) zum Erwerb
und zur Erweiterung von Wissen (= Studium; Forschung und Lehre).
Nach Vorstellung des rabbinischen Judentums führt
der Weg zu Gott nur über seine Offenbarung, die Tora. In ihr ist
alles Wissen der Welt (bereits) enthalten (vgl. M Awot 5,26) - und sie
befindet sich "nicht im Himmel", sondern wurde den Menschen
als einzige Quelle ihrer Auslegung und ihres Weltverstehens (= fortlaufende
Offenbarung, s.o.) gegeben (vgl. bT BM 59b; Tem 16a).
Als religiöses Ziel des Judentums und Sinn aller
Geschichte wird die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden begriffen
- die Erlangung des Weltfriedens, der auf der wahren Gotteserkenntnis
aller Menschen beruht. Die Halacha markiert hierbei nicht das Ziel, sondern
einen Weg. Sie verlangt Handeln, die "Selbstheiligung" durch
Gebotserfüllung, und nicht Glauben.
Zur historisch begründeten Rolle und Stellung der jüdischen
Frau
Nun komme ich auf das "sehr speziell ausgeprägte"
rabbinische Verständnis des Zusammenwirkens von Frauen und Männern
zurück:
Auf den Nenner gebracht ist die Bedeutung der Frau für
den Mann im traditionellen oder orthodoxen Judentum: "wie Gott"
auf Erden zu sein und das geistige Potential des Menschen im Leben zu
erkennen. Letztendlich geht es für Frauen darum, den Männern
durch stilles Dienen, Zuarbeiten, Fördern - durch praktisches Ausführen
und Bewähren der von ihnen festgelegten Halachot den Weg zur Erlösung
zu bereiten. Freilich partizipieren sie dereinst am Erlösungsgeschehen:
Durch die Taten ihrer Männer sind sie mit eingebunden.
Symptomatisch erscheinen die endlos reproduzierten frauenpreisenden
Äußerungen von jüdischen Männern, Gelehrten - Rabbinern.
Sie loben Klugheit, Stärke und Verstand der Frau. Ihre Einsicht sei
größer als die des Mannes (bT Nid 45b), sie erleuchte seine
Augen und stelle ihn auf seine Füße (bT Jeb 63a), ihr göttliches
Feuer "ist stärker als das des Mannes" (bT Sota 17a) und
so weiter und so fort. Das durch die Zeiten bestimmende Ideal der jüdischen
Frau spiegelt sich im Frauenlob (Eschet chajil - "Frau von Stärke,
Reichtum, Standfestigkeit") am Schluss des Buches der Sprüche,
das bis heute in vielen Familien den Frauen am Schabbatabend zugesungen
wird. Nach seiner Heldin wurde die jüdische Ehefrau als "Krone
ihres Mannes" (Spr 12,4) betitelt und in mystischen Kreisen mit der
Schechina, der göttlichen Einwohnung (dem weiblichen Aspekt Gottes)
verglichen (16. Jh., Safed).
Das Bemerkenswerte an diesen und vielen anderen positiven
Äußerungen der Rabbinen ist die Tatsache, dass es sich hier
nicht in erster Linie um den "Menschen Frau" handelt, sondern
um den "Menschen Mann" (vgl. bT Jeb 63a): Wenn der Mann keine
Frau hat, ist er kein Mensch; wenn der Mann keine Frau hat, hat er keine
Erde - sozusagen keinen Boden unter den Füßen (vgl. Klischee:
die Frau als realistische Lebensmeisterin, der Mann als vergeistigter
"Träumer"). Das Schicksal des Mannes hängt also von
der Frau ab - das Gute und das Böse kommen von der Frau.
Bis heute prägt ein männergemachtes Frauenideal
die Realität der Geschlechter. Alle frauenpreisenden Äußerungen
lassen sich auf Genesis 21,12 "In allem, was Sara zu dir sagt, höre
auf ihre Stimme!" zurückführen. Dieser biblische Rat erging
an den Patriarchen Abraham, der ungefähr vor 4000 Jahren gelebt haben
mag. Angesprochen wurde der Mann als handelndes Subjekt und Entscheidungsträger,
was der damaligen Gesellschaftsform entsprach. Solange Frauen nicht sagten
und sagen: "Lass mich selbst lesen... lass mich alles tun, was auch
du/ Mann tust" und nicht gegen seine Entscheidungen aufbegehren,
ist dieser Ratschlag "gut", nämlich systemstabilisierend,
indem er die wahren Machtverhältnisse verschleiert: Im praktischen
Leben waren und sind Frauen den Männern an wirtschaftlicher Macht
und sozialem Prestige, in juristischen Belangen und religiöser Partizipation
nachrangig.
Rabbinisches (orthodoxes) Judentum hat zwar die "Gleichwertigkeit
in Andersartigkeit" von Frauen und Männern vertreten, aber nie
deren Gleichberechtigung. Seit seiner Geburtsstunde im Jahre 70 hat es
zwei nach Geschlecht getrennte arbeits- und aufgabenteilige Lebenswelten
entwickelt: das Lehrhaus als Wirkungsort der Männer und das jüdische
Haus mit der Familie in ihm als Domäne der Frauen. Beide sollten
einander ergänzen und durch ihr Zusammenwirken das Traditionsgut
in die Zukunft hinein sichern: das Lehrhaus von außen durch die
Bewahrung und Fortschreibung des theoretischen Wissens, das jüdische
Haus von innen durch die Bewährung dieses Wissens im alltäglichen
praktischen Tun.
Gemeinhin wird die zunehmende Polarisation von Männer-
und Frauenwelt als jüdische Überlebensstrategie in der Diaspora
gedeutet. Tatsächlich sicherte sie die Vormachtstellung der Männer,
indem deren selbsterklärter Arbeitsbereich - das Studium von Tora,
Talmud und rabbinischen Schriften sowie das schriftliche Tradieren von
Halacha (jüdisches Recht) - Vorrang vor allen anderen Arbeiten hat.
Die Rolle jüdischer Frauen in orthodoxen Gemeinden ist es bis heute,
Männer in ihrem Studium und ihrer Geistigkeit zu fördern. Jahrhunderte
hindurch haben somit weibliche Strategien - Selbstlosigkeit, Kooperation,
Gegenseitigkeit - der männlichen Dominanz innerhalb der jüdischen
Gemeinschaft zugearbeitet. Die amerikanische Feministin Aviva Cantor hat
diese Zuarbeit jüdischer Frauen als spezifisch jüdische Variante
des Patriarchats ("Reformpatriarchat") bezeichnet.
Indem jüdische Männer jahrhundertelang den Frauen
Lob gesungen, ihnen dadurch Ehre gegeben und immer wieder beteuert haben,
dass die Geschicke Israels von ihnen abhingen und sie die wahren Drahtzieherinnen
seien, haben sie sie bei der Stange gehalten und damit implizit für
ihre Belange funktionalisiert.
Männliche Gelehrte "befreiten" Frauen von
der religiösen Pflicht, zeitgebundene positive Gebote zu befolgen.
Später diente ihnen diese Befreiung als Legitimation, Frauen von
der aktiven Teilnahme am Gottesdienst auszuschließen und sie der
Verpflichtung zum Torastudium zu entheben. Indem Frauen der unmittelbare
Umgang mit der Tora in Lehrhaus und Synagoge versagt wurde, wurde zugleich
ihre direkte Verbindung zum Göttlichen - das sich dem jüdischen
Menschen durch die Tora vermittelt - im institutionell-religiösen
Bereich unterbrochen. Zwischen Gott und Frau trat der Mann; an die Stelle
der unmittelbaren weiblichen Gotteserfahrung trat die Vermittlung der
männlichen Erfahrung Gottes, die fortan die jüdische Tradition
- und mit ihr die Autobiographie jüdischen Lebens, das Gebetbuch,
bestimmte.
Seit den 50er-Jahren entstand unter jüdischen Literaten
in Amerika das Bild der nörgelnd-fordernden, dominanten jüdischen
Mutter, die ihre Söhne von sich abhängig zu machen trachtet.
Viele jüdische Frauen verletzte diese Kritik tief. Wie konnte dieses
Zerrbild jüdischer Mütterlichkeit entstehen? Mit dieser Frage
beschäftigt sich R. M. Herweg. In ihrer Analyse verfolgt sie die
Geschichte der jüdischen Frau und Mutter von der biblischen Zeit
bis in die Gegenwart hinein und zeigt, dass die Klischees Verhaltensmuster
enthalten, die einstmals für das Überleben der Gemeinschaft
zwingend notwendig waren. Das Ergebnis der Untersuchung ist ein hochinteressantes
Werk jüdisch-feministischer Theologie.
Reformbewegung und jüdischer Feminismus
Erst im Zuge der Haskala (jüdische Aufklärung)
veränderte sich das traditionelle Spiel der Geschlechter: Ende des
18. Jahrhunderts entstand in Deutschland die jüdische Reformbewegung.
Aus ihr heraus wurden Vorschläge zur Emanzipation der jüdischen
Frau formuliert und in der Breslauer Rabbinerkonferenz von 1846 beschlossen.
Sie beinhalteten u.a., dass Frauen alle religiösen Gebote zu beachten
haben, auch Mädchen zum Lernen von Tora und Talmud verpflichtet sind
und dass eine Frau nicht vom Vater oder Ehemann von ihren Gelübden
losgesprochen werden darf. Frauen traten zunehmend als aktiv und selbstverantwortlich
Handelnde auf den Plan. Der Umbruch, nämlich die weibliche Rückkehr
zum unmittelbaren Umgang mit der Tora, war offensichtlich, als Regina
Jonas 1935 als weltweit erste Frau in Deutschland die Ordination zur Rabbinerin
erhielt. Sie wurde in Auschwitz ermordet - und danach für ein halbes
Jahrhundert vergessen. Ihre Wiederentdeckung fiel in die Vorwehen des
Amtsantritts der ersten Rabbinerin in Deutschland nach der Schoa, Bea
Wyler (1995). Bis dahin war es ein weiter Weg - wenigstens in Deutschland.
Während das Reformjudentum in Deutschland durch den
Nationalsozialismus vollständig ausgelöscht wurde, gelangte
es in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts zu immer größerer
Blüte. Jüdische Frauen in den USA haben sich aktiv mit ihrem
Erbe auseinandergesetzt, etablierten eine jüdisch-feministische Geschichtsschreibung
und entwickelten neue Liturgien. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
begannen sie massiv und öffentlich für ihre gleichen Rechte
innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft zu kämpfen. Sie forderten
die Veränderung oder Neuschreibung von Halacha, indem sie halachische
Entscheidungen historisch rekonstruierten, als falsch oder einseitig entlarvten
und neue Interpretationen hinzufügten. Damit vollzogen sie nachhaltig
den Eintritt in die schriftliche Tradierung jüdischen Wissens und
damit in den direkten halachischen Entscheidungsprozess.
Auf diese erste bedeutende Phase des jüdischen Feminismus
folgte seit Mitte der 1970er Jahre eine stark in die Praxis wirkende Auseinandersetzung
mit dem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen. Jüdische
Frauen untersuchten die Funktion männlicher Ausdrucksformen und Sprache,
erforschten weibliche (Gottes)Bilder in verschiedenen Richtungen des Judentums
und rangen mit der Schaffung neuer Gebete und Rituale. Sie setzten sich
auseinander mit dem Mythos der jüdischen Familie und der Mutter in
ihr und kreierten neue Vorbilder, wie das der Gelehrten und Rabbinerin.
Der grösste Teil der jüdisch-feministischen
Diskussion über die Rede von Gott und die Gottesbilder sowie das
Experimentieren damit, kreiste um die Frage des Geschlechts/Gender Gottes.
Jüdische Feministinnen kritisierten das Vorherrschen männlicher
Pronomen und Bilder in der Hebräischen Bibel, rabbinischen Texten
und im traditionellen Gebetbuch und suchten nach Alternativen.
Erstmals formulierte Rita Gross in ihrem Artikel "Female
God Language in a Jewish Context" (1979) eine breitere theoretische
Kritik an der männlichen Sprache und entlarvte das Fehlen weiblicher
Bilder und Symbole für Gott als den grundlegendsten Ausdruck für
die Abwertung der jüdischen Frauen. Gottesbilder seien "nur"
Bilder und keine Wesensbeschreibungen, argumentierte sie, und wenn Jüdinnen
und Juden nicht wirklich davon ausgingen, dass Gott männlich sei,
wenn sie männliche Pronomen und Bilder verwendeten, dann sollten
sie auch keinerlei Einwände gegen die Verwendung weiblicher Bilder
haben (170f). Alles, was Jüdinnen und Juden je über das vertraute
"Der Heilige, gelobt sei ER" gesagt haben, könne und müsse
demnach auch über "Gott-SIE" gesagt werden (173).
Die Analyse von Rita Gross legte den Grundstein für
spätere jüdisch-feministische Arbeiten zu diesem Thema. Während
der 1980er und bis in die 1990er Jahre hinein entwickelten und diskutierten
jüdische Feministinnen wie Judith Plaskow, Marcia Falk, Lynn Gottlieb,
Ellen Umansky und Rachel Adler Fragen, die Rita Gross aufgeworfen hatte.
Sie untersuchten die Rolle der männlichen Sprache in einem grösseren
patriarchalen System, arbeiteten an der Frage, wie männliche Bilder
Frauen herabsetzen, sie erforschten die weiblichen Bilder in verschiedenen
Richtungen des Judentums und machten zahlreiche Vorschläge für
einen neuen Sprachgebrauch.
Dabei griffen sie auf körperlich-seelische und soziale
Erfahrungen von Frauen zurück. In Neufassungen traditioneller Gebete
wurde Gott zur Mutter, Herrscherin, Schöpferin und Ernährerin,
die Leben zur Welt bringt und mit ihrem Schoß die Erde beschützt.
- So in dem Gebetbuch "Siddur Nashim: A Sabbath Prayer Book for Women"
(Ein Sabbat-Gebetbuch für Frauen; Privatdruck), dass Maggie Wenig
und Naomi Janowitz ungefähr zur selben Zeit als der Artikel von Rita
Gross erschien, geschaffen haben.
Da sämtliche jüdischen Rituale Segnungen enthalten,
die traditionell mit einer männlichen Formel eingeleitet werden -
Gepriesen seist Du [männlich], Herr, unser Gott, König der Welt
- stehen Frauen vor der Entscheidung, wie und in welchem Umfang sie diese
traditionelle Sprache verändern wollen. Einige neuere Liturgien ersetzen
im Hebräischen einfach den männlichen "Gott-ER" durch
das weibliche "Gott-SIE". Andere verwenden weibliche Gottesvorstellungen
und -namen aus der jüdisch-mystischen Tradition, wie Schechina -
die göttliche Einwohnung in der Welt, die die reale Schöpfung
aus sich hervorbringt und Bina - die Einsicht und geistige Urquelle des
Lebens oder wählen und kreieren neue weibliche hebräische Ausdrücke,
wie Rachmana - Mutter des Schoßes oder ruach ha-olam - Geistkraft
der Welt.
Dem neuen feministischen Gebetbuch von Marcia Falk ("The
Book of Blessings: New Jewish Prayers for Daily Life, the Sabbath, and
the New Moon Festival", 1996), das Gebete in englischer und hebräischer
Sprache enthält, liegt die Vorstellung von einer Göttlichkeit
zugrunde, die in jedem kleinsten Winkel der Erfahrung gegenwärtig
ist. Falk vermeidet (anders als viele andere Feministinnen) eine geschlechtliche
Bildsprache, indem sie das Göttliche "überall dort findet,
wo unser Herz und unser Geist, unser Blut und unsere Seele berührt
werden". Manchmal benennt Falk das Göttliche direkt - z.B. als
Springbrunnen, Strom oder Quelle des Lebens, manchmal erinnert sie schlicht
an die Gegenwart des Heiligen in der Schöpfung. So lautet die Übersetzung
ihres Schema (Höre Israel), der zentralen Glaubensaussage des Judentums:
"Höre Israel - das Göttliche ist überall in Fülle
und wohnt in allen Dingen; das Viele ist Eins!" (1996, S. 24).
In Deutschland war es vor allem Pnina Nave Levinson, die
jüdische Frauen ermutigt hat, nach ihren eigenen Traditionen zu suchen,
herrschende Rituale und Liturgien zu hinterfragen, Altes wieder - und
Neues zu entdecken.
In Frankfurt am Main gründete sich im Frühjahr
1994 die egalitäre Gemeinschaft Kehilah Chadaschah. Sie markiert
den Beginn einer jüdischen feministisch-liturgischen Bewegung in
der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1995 ist in Oldenburg und Braunschweig
eine Rabbinerin tätig; bis heute sind in Deutschland zwei weitere
dazu gekommen. Seit Ende der 90er Jahre amtieren in der Jüdischen
Gemeinde Berlin zwei Kantorinnen, unlängst ist eine dritte hinzu
gekommen. 1998 wurde in Berlin die Initiative "Bet Debora" ([Lehr]Haus
Deboras) ins Leben gerufen. Bet Debora setzt sich v.a. ein für die
Förderung eines jüdisch-feministischen Bewusstseins und jüdischer
Frauenbildung und -forschung auf europäischer Ebene, für die
Integration von Erfahrungen jüdischer Frauen aus West- und Osteuropa
in die jüdische Tradition sowie des jüdisch-feministischen Diskurses
in die Gesamtgesellschaft. 1999, 2001 und 2003 hat Bet Debora europäische
Rabbinerinnen, Kantorinnen, jüdische Aktivistinnen und Gelehrte nach
Berlin eingeladen, um über aktuelle Themen zu beraten.
In der Gegenwart benennen feministische Jüdinnen
Regeln der gleichberechtigten Partizipation in allen Lebens- und Wirkungsbereichen
von Frauen und Männern. Sie stellen die Frage nach Autorität
und Demokratie und schaffen alternative Institutionen. Sie haben damit
die vorausgegangene Rechtfertigungsposition der gleichen Teilhabe jüdischer
Frauen an männlichen Privilegien überwunden.
Die Tragik dieser kurz skizzierten Entwicklung besteht
nun darin, dass alle jüdischen Frauen außerhalb traditionell
praktizierender Gemeinden Gefahr laufen, als Zerstörerinnen des Judentums
betrachtet zu werden. Ihre gleichberechtigte und/ oder gleichartige Beteiligung
am religiösen Gemeindeleben und an Gottesdiensten in der Synagoge
mache die Männer impotent! Dieser Vorwurf der Ent-Mannung wurde seit
den 1970er Jahren in den USA laut und lauter. Er wurzelt im negativen
Stereotyp der "Jiddischen Mamme", das ebenso ein Reflex auf
veränderte Geschlechterverhältnisse ist - nämlich eine
Form der männlichen Abwehr gegen selbstbestimmt handelnde Frauen
- und das auch in Deutschland mittlerweile populär ist (z.B. durch
die Romane Rafael Seligmanns).
Erkenntnis und Schlussfolgerung
Derzeit bringen jüdische Frauen ihre religiösen
und spirituellen Bedürfnisse vehement an die Oberfläche. Mut
allein reicht jedoch nicht, um weibliche Gotteserfahrung in der jüdischen
Tradition sichtbar zu machen. Zentral erscheint mir neben florierender
Publikationstätigkeit jüdischer Autorinnen der generationenübergreifende
Diskurs unter Frauen zu sein, unser gemeinsames Lernen und Praktizieren,
wie es für mich auch in einem neuen Bat Mitzwa-Ritual zum Ausdruck
kommt: Frauen - Verwandte, Bekannte, Freundinnen - versammeln sich um
das Bat-Mitzwa-Mädchen, das einen eigenen, noch nicht ganz fertiggestellten
Tallit (Gebetsschal) trägt: Die Knoten, die für die Gebote des
Judentums stehen, müssen noch in die Schaufäden an seinen Enden
eingebunden werden. Jede anwesende Frau erzählt dem Mädchen
eine persönliche Geschichte, eine wichtige Erfahrung aus ihrem Leben,
"etwas" aus ihrer Tradition - eine weibliche Gotteserfahrung.
Dabei kann es sich auch um einen Bibel- oder Gebetstext, einen Midrasch
(Auslegung) oder ein Lied handeln. Wichtig ist der persönliche Bezug,
das, was nicht mehr in Vergessenheit geraten soll. Jede Frau spricht die
Bat-Mitzwa direkt an, setzt sich neben sie, während die anderen in
einem äußeren Kreis bleiben, und fügt während ihres
Erzählens einen weiteren Knoten in die Schaufäden ein. Jeder
einzelne Knoten steht so symbolisch für eine weibliche Überlieferung.
Auf diesem neuen Weg ermächtigen Frauen die Bat-Mitzwa, ihre eigenen
Gotteserfahrungen aktiv im Rahmen der jüdischen Tradition weiterzugestalten.
Die Weitergestaltung jüdischer Tradition durch Frauen
geschieht in ein gewisses Vakuum hinein, denn beide, Männer wie Frauen
haben in unserer modernen Welt durch Assimilation, durch technologischen
und medizinischen Fortschritt ihre traditionellen Rollen verloren. Haben
wir Mut, die Leere zu empfinden und verlassen wir uns auf unsere Intuition,
sie auszufüllen!
Rachel Monika Herweg, Dr., Judaistin, Pädagogin,
systemische Familientherapeutin und Supervisorin, Berlin, Mitbegründerin
der jüdisch-feministischen Fraueninitiative Bet Debora, Vorstandsmitglied
der Interreligiösen Konferenz Europäischer Theologinnen (IKETH),
Forschungen u. a. zur Rolle der Frau im Judentum und zum jüdisch-christlichen
Dialog. Rachel Herweg steht auf Anfrage auch für Vorträge und
Seminare zur Verfügung. Buchhinweis: Rachel Herweg: Die jüdische
Mutter. Das verborgene Matriarchat. Wiss. Buchgesellschaft Darmstadt,
252 S., 29,90 Euro
Quelle: compass-infodienst.de
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